Manfred Bieschke-Behm

Schwestern (Sittengemälde)


Einer der magischen Momente im Leben von Clara und Sophie sind die gemeinsamen Lesestunden. Sie sitzen einvernehmlich eng beieinander und lesen sich abwechselt Textpassagen aus einem Buch vor. Die reale Welt um sie herum existiert nicht mehr. Sie tauchen ein in ihre eigene Welt, die nur von der Literatur wegweisend bestimmt wird. Viel zu selten gönnen sich Clara und Sophie diese Mußestunden. Das liegt daran, dass sie sich nur noch selten sehen.
Clara wohnt nicht mehr im elterlichen Haus. Vor gut zweieinhalb Jahren ist sie zu ihrem Mann Georg gezogen. Er besitzt ein Landhaus, fast drei Stunden Kutschfahrt vom Elternhaus entfernt. Das ist keine große Entfernung, aber weit genug, um sich regelmäßig sehen zu können.
Clara fiel es nicht schwer, ihr Elternhaus zu verlassen. Die Liebe zu Georg hatte es ihr leicht gemacht, die gewohnte Umgebung, und damit auch ihre Schwester zu verlassen. Die Aussage der Eltern zu jeder Zeit zurückkommen zu können, erleichterte ihren Entschluss und hilft über die kleine immer wiederkehrende Wehmut hinweg.
 Bis heute gibt es nicht den geringsten Anlass den von ihr lieb gewonnenen Landsitz ihres Mannes zu verlassen. Clara liebt ihren Gatten wie am ersten Tag und hatten ihren Umzug noch keine Sekunde lang bereut.
Ihre Schwester, ja ihre Schwester vermisst sie gelegentlich schon. In dem großen Landhaus, mit seinen vielen Zimmern fühlt sie sich manchmal seltsam berührt einsam. Ganz besonders wenn Georg sich auf Geschäftsreisen befindet und sie weiß, das sie mehre Tage, manchmal sogar Wochen ohne ihren Mann allein im Haus sein wird. In diesen Zeiten hätte sie gerne ihre Schwester bei sich gewusst. Der Gedankenaustausch und vor allen Dingen die gemeinsamen Lesestunden lassen sich durch nichts anderes füllen.
Manchmal, wenn sie die Einsamkeit nicht mehr auszuhalten fühlt, macht sie sich allein auf die Reise, hin zu ihren Eltern und zu ihrer Schwester. Gerne nimmt sie die Reisestrapazen auf sich, weiß sie doch das sie für ihren Aufwand belohnt wird. Sie weiß, dass sie unbescherte Stunden erwarten und das Erinnerungen Gegenwart werden.
Clara hat sich entschieden, zu ihrem Elternhaus zu fahren. Sie lässt ein paar Sachen zusammenpacken, besteigt die Kutsche und lässt sich durch liebliche Landschaften kutschieren. Es ist heiß in dem gefederten einachsigen Fuhrwerk. Die Sonne brennt erbarmungslos auf die Karosserie. Clara ist ewig dabei sich frische Luft zuzufächeln und am Schweiß abwischen. Durch durch die schlechte Beschaffenheit der Wege wird sie hin und her geschüttelt. Der Kutscher versucht durch geschicktes Taktieren tiefe Unebenheiten zu umfahren, was ihm aber mit seinem schon in die Jahre gekommenem Pferd nur bedingt gelingt. Die Reise ist für alle Beteiligen anstrengend.
Endlich sind sie am Ziel. Die Mutter steht zum Empfang vor der Eingangstür desgleichen eine Bedienstete und Sophie, die soeben dazustößt. Sophia stellt beim Anblick ihrer Schwester fest, dass Clara die Ehe offensichtlich gut bekommt. Sie ist zu einer schönen Frau herangewachsen. Sie versteht es, ihr Äußeres durch kleine Akzentuierungen zu betonen. Dafür benötigt sie keinerlei Schmuck. Sie schafft es allein durch die Auswahl ihrer Kleider, ihren Liebreiz zu unterstreichen. Manchmal reicht ein Spitzenkragen, mit dem sie ein schlichtes Kleid aufwertet und der ihrer Erscheinung etwas Feierliches verleiht. Besonders ihre dunkelbraunen Haare, die sie versteht dezent und gleichzeitig ein wenig streng zu frisieren, unterstreichen das Damenhafte. Das leicht gewellte Haar, das sie in der Mitte sorgfältig scheitelt und am Hinterkopf zu einem nicht zu streng gebundenen Konten verarbeitet, wobei Ohren und Nacken frei bleiben, bringen ihr noch immer mädchenhaft wirkendes Gesicht voll zur Geltung. Sophie ist stolz auf ihre ältere Schwester.
Clara schließt, nachdem sie ihre Mutter gegrüßt hat, ihre Schwester ganz fest in die Arme. Sie hebt sie leicht an und beide drehen sich wie kleine übermütige Kinder im Kreis. Die Mutter und die Bedienstete, die das leichte Gepäck ins Haus trägt, sind längst von der Terrasse verschwunden. Clara und Sophie halten sich bei den Händen, schauen sich an und sind überglücklich sich wieder zu sehen.
Wie verabredet hat sich Clara ein wenig zurückgezogen um sich frisch zu machen und um ihre Garderobe zu wechseln. Sie hatte sich vor der Abreise für ein lilafarbiges Taftkleid entschieden, das sie jetzt anmutig zu tragen versteht. Darüber trägt sie eine breite rote Stola, die mehr von ihren Armen als den Schultern gehalten wird. Das bodenlange Kleid lässt kaum einen Blick auf ihre schwarzen Lackschuhe zu. Lackschuhe, die Clara besonders gerne trägt. Sie sind ein Geschenk ihrer Schwester und ihr deshalb besonders wertvoll.
Auch Sophie hat sich umgezogen. Ihre Kleiderwahl fiel nicht schwer. Weiß sie doch, dass Clara das rosafarbene Kleid mit dem fast etwas zu großzügigem Ausschnitt und den auffällig gearbeiteten Ärmeln besonders an ihr gefällt. Auch sie legt keinen Schmuck an und versucht, mit ihrer Frisur, der Schwester Frisur zu ähneln ohne ihr Konkurrenz machen zu wollen.
Nun stehen sie sich erneut gegenüber und betrachten sich ohne Argwohn ohne jegliche Eifersüchtelei. Die Eltern freuen sich mit ihren Töchtern und laden zum Tee. Nun werden die Neuigkeiten ausgetauscht, was so manche Stunde in Anspruch nimmt. Längst wollte Sophia die Unterhaltung beenden, um endlich mit Clara in ihr Zimmer gehen zu können und zu lesen. Aber der Vater, und auch die Mutter, wollen immer noch etwas wissen und Weiteres von der großen weiten Welt zu erfahren.
Endlich sind alle Fragen beantwortet und die Schwestern können sich zurückziehen. Was Sophie bisher nicht auffiel, ist die Tatsache, dass ihre Schwester einen gefüllten Stoffbeutel bei sich trug. Jetzt wo sie beide allein sind, öffnet Clara diesen Beutel und entnimmt ihm ein Buch. Sie übereicht das Buch ihrer Schwester und wünscht sich – so wie in alten Zeiten – gemeinsame Lesestunden. Sophie nimmt das Buch mit großer Freude entgegen, schlägt es auf, und fängt an zu lesen. Clara rückt ganz nah an ihrer Schwester heran und hört ihr aufmerksam zu. Sie weiß, dass Sophie ein Gespür dafür hat, an einer bestimmten Stelle mit dem Lesen aufzuhören und das Buch ihrer Schwester zu reichen, damit diese weiterliest. Die reale Welt um sie herum existiert nicht mehr. Sie erliegen dem Zauber der Vergangenheit. So wie in alten Tagen tauchen  sie ein in die Welt der Literatur.
 
 

 

Inspiriert durch das Gemälde "The Sisters" (1839) von Margaret Sarah CaroenterManfred Bieschke-Behm, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Manfred Bieschke-Behm).
Der Beitrag wurde von Manfred Bieschke-Behm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.04.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Manfred Bieschke-Behm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Und ich glaube von Werner Gschwandtner



Ein Mädchen mit einer Atypischen Pneumonie. Eltern am Rande der Existenz. Intrige und Schicksalsschläge. Und dennoch gibt es Hoffnung, Glaube und Zuversicht. Familiäre Erzählung in der Weihnachtszeit. Modernes Märchen welches durchaus wahr sein könnte. Werner Gschwandtner, litterarum.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Romantisches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Manfred Bieschke-Behm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Eckkneipe "Zum Schilderhäuschen" von Manfred Bieschke-Behm (Humor)
Olga der Marienkäfer von Matthias Brechler (Romantisches)
DAS TANZENDE TULPENMÄDCHEN von Christine Wolny (Zauberhafte Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen