Roland war neugierig. Sein Zwillingsbruder Marko hatte ihn geschickt, weil er nicht pünktlich an der Haltestelle sein konnte, um die geheimnisvolle Freundin zu treffen.
Wie konnte Marko überhaupt eine Freundin finden seit seinem schrecklichen Motorradunfall, bei dem seine Hände so verbrannt waren, dass er, Roland es nicht ertragen konnte, sie ohne Handschuhe anzusehen. Außerdem hinkte Marko, denn die vielen Brüche in seinem verletzten Bein waren nicht mehr richtig zusammengewachsen. Dadurch war Marko menschenscheu geworden.
Roland war wirklich neugierig.
Eine Weile beobachtete er die Haltestelle. Da saß unbeweglich und sichtbar erschöpft eine alte Frau. Sie war groß und trug eine äußerst elegante Jacke, aber gewöhnliche Jeans. Das passte nicht zusammen. Ihr Haar war noch dunkel, ihr Gesicht zerfurcht.
Sonst war niemand in dem Unterstand der Buslinie.
Roland wartete noch einen Bus ab, aber keine Frau, die ausstieg, sah sich suchend um oder wartete.
Also ging er auf die Frau zu.
Vivienne fühlte die Hitze unter dem Glasdach. Sie machte sich ganz steif, um gerade zu sitzen. Wo blieb Marko? War ihm etwas zugestoßen?
Unvermutet trat jemand auf sie zu und fragte leise: „Lily-Ann?“
Das war nicht Markos Stimme, aber woher wusste ein Mensch von dem Spiel, in das sie und ihr junger Freund tief eingetaucht waren?
Sie öffnete die Augen und blickte in ein vertrautes und doch fremdes Gesicht. Die gleichen Augen, der gleiche Schnitt der Lippen, dieselben schwarzen Haare, die mit grauen Strähnen durchzogen waren, obwohl Marko noch keine vierzig Jahre alt war. Aber der Blick war fremd. Der Mann musste Markos Zwillingsbruder sein, von dem sie schon oft gehört hatte.
„Ja?“, sagte sie fragend.
„Sie sind die Freundin meines Bruders Marko?“, vergewisserte sich Roland.
„Ja, wenn Sie mich so bezeichnen wollen…“. Sie lächelte schwach.
„Ich soll Ihnen ausrichten, dass mein Bruder eine kleine Weile verhindert ist. Er wird in zehn Minuten dann hier sein.“
„Danke für die Nachricht. Ich bin Ihnen sehr verbunden.“
In dem Moment hinkte Marko auf die beiden zu. Er nickte in die Richtung seines Bruders und setzte sich ohne Zögern neben die Frau, nahm sie kurz in den Arm und legte seine geschundene Hand in ihre. Roland musste sich abwenden, den Anblick der Hand konnte er nicht ertragen.
Dann aber siegte die Neugier und aus dem Augenwinkel wollte er die Reaktion der Frau sehen. Sie ließ seine Hand ruhig auf ihrer liegen, sie zuckte nicht zurück. Im Gegenteil, sie fuhr ganz sacht mit ihrem Daumen über die Narben.
Beide sagten nichts. Beide lächelten schwach. Sie sahen glücklich aus.
Plötzlich traten Tränen in Rolands Augen. Er konnte seinen verschleierten Blick nicht von den ineinander verschlungenen Händen lassen.
Jetzt begriff er.
Und er schämte sich zutiefst.
Unbemerkt verließ er die Bushaltestelle.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.04.2014.
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