Hans Geske

Eine neue Welt

Poch.

Poch.

Poch...

Ich fühle mich schwach. Nicht mehr lange, und meine Zeit hier ist vorbei, das spüre ich. Nur mühsam schlägt mein Herz noch, hält mich am Leben, gerade noch.

Poch.

Poch.

Ich habe schon längere Zeit darauf gewartet. Es war klar, dass es mit mir zu Ende geht. Jetzt ist es so weit. Immer langsamer schlägt mein Herz, fließt mein Blut.

Poch.

Poch.

 

Poch.

 

Und bleibt endlich stehen. Mein Körper kommt zur Ruhe, schläft ein. Er wird nie wieder erwachen. Mein Geist öffnet sich dem, was kommen wird, löst sich von der nunmehr leblosen Molekülstruktur, die viele Jahre lang ein Teil dessen war, worüber ich mich identifiziert habe. Mein Selbst, so stelle ich fest, ist nicht dieser Körper.

Was ist mein selbst?

Wer bin ich?

Auf einmal ein blendendes Licht. Empfindungen strömen auf mich ein. Nicht gekannte, nie geahnte Arten von Wahrnehmung. Die Bewusstwerdung des Unterbewussten. In den Tagen meiner Körperlichkeit stehts als dumpfes Hintergrundrauschen vernommen, gedämpft vom Fleisch, das meinen Geist gefangen hielt. Wer bin ich? Eine Frage, die hier nicht mehr gestellt zu werden braucht, da die Antwort auf der Hand liegt. Ich bin die Gesamtheit dessen, was ich nun über mich weiß. Ein Gebilde aus alldem, was mir mein räumlich ausgedehntes Leben hindurch klar war und den vielfältigen Dingen, die ich nun mit einem Schlag über mich begreife. Ich weiß es. Jeder weiß es. Wer bin ich, wer bist du – wo ist der Unterschied? Ich bin nicht ich, um ich zu sein, ein Individuum, gefesselt durch die Grenzen eines Körpers, getrennt auch von allen anderen. Ich bin ich – und ich bin wir! Eine große Gesamtheit, ein Sein, nicht bestimmt durch Zeit, da Zeit wiederum bestimmt wird durch Vergänglichkeit, Verschleiß...aber was sollte verschleißen, an einem Ort, an dem es keine Körper gibt?

An einem Ort? Ist dies ein Ort? Wenn ja, wo liegt er? Es gibt keine Ausdehnung, keine Richtung. Jede Ausdehnung hat einen körperlichen Aspekt. Sie kann sich verändern, verformen, doch eine körperliche Veränderung ist immer auch eine Art Verfall. Sie benötigt die Existenz wahrnehmbarer Zeit – und schafft diese, denn was ist die Zeit anderes, als wahrgenommene Veränderung?

Nicht das Werden ist bestimmend, sondern das Sein. Daher gibt es auch keine Sprache, keine Kommunikation. Gedankenaustausch funktioniert nur mit einem Vorher- und einem Nachherzustand. Ich weiß etwas, du nicht. Ich teile dir etwas mit. Jetzt weißt du es auch. Du kannst das Betreffende nicht gleichzeitig wissen und nicht wissen, also ist Zeit vergangen.

„Hier“ ist es anders. Keine Zeit vergeht, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne, nichts verändert sich, wir sind. Da wir alle eigentlich ein „Ich“ sind, ist sowieso jeder Informationsaustausch überflüssig.

Was wohl aus meinem Körper geworden ist? Ob es auch einen ähnlichen „Ort“ gibt, an dem es nur Körper gibt, die keinen Geist haben, statt, wie hier, Geister ohne Körper? Eine Welt, in der alles nur als ausgedehnter Vorgang funktioniert, ein Ort der absoluten Vergänglichkeit, bevölkert von seelenlosen Zombies, die völlig automatisch ihren jeweiligen Beschäftigungen nachgehen, ohne je darüber nachzudenken, ohne von mehr als Reflexen und Instinkten gesteuert zu sein? Wenn, dann ist dies kein Ort, an dem ich sein möchte.

Obwohl seine Bewohner nicht direkt unzufrieden sein können. Kein seelischer Schmerz, keine Langeweile, keine Sehnsucht nach einem Leben mit Seele. Einfach überhaupt nichts. Existiert ein solcher Ort? Existiert ein Ort, wenn niemand ihn bewusst zur Kenntnis nimmt?

Doch andererseits: Existiere ich, hier in dieser großen Gemeinsamkeit, in diesem Kollektiv, wo es keine Individuen mehr gibt? Bin ich noch? Oder sind wir? Kann ich sein, indem wir sind? Und habe ich mich mit diesen Gedanken nicht schon entfernt von großen Ganzen? Bin ich auf dem Weg, das große „Wir“ zu verlassen? Wohin?

Ja, ich löse mich langsam. Immer mehr empfinde ich mich als ein Ich, beginne, über mein persönliches Schicksal nachzudenken. Ich war schon einmal allein, soviel ist mir klar. Ich bin irgendwann im „Wir“ angekommen. Doch wo kam ich her? Wie war es da? Die Erinnerungen sind verblasst. Konnte ich mich erinnern, als ich angekommen bin? Ich weiß es nicht mehr. War ich überhaupt schon, bevor ich hier war? Oder bin ich hier entstanden, als Einzelner zunächst, aber sofort im Begriff, in der großen Gemeinschaft aufzugehen?

 

Ein Schmerz, ungekannt, nicht von dieser Welt. Ich, eingeengt, gefangen. Beendet, die Freiheit des Geistes, die Zeitlosigkeit. Gedämpfte Geräusche teilen die Zeit in Abschnitte, bezeichnen die Marken des Verfalls, der Veränderung. Wer bin ich? Ich kann es nicht sagen. Ein Teil von mir ist das, was ich schon immer war, so scheint es mir, aber ein anderer Teil ist neu, von anderer Art. Langsam begreife ich, dass dieser Ort anders funktioniert, als der, an dem ich war. Zeit vergeht, Dinge verändern sich, in der Zeit...und im Raum.

Es gibt also Ausdehnung hier. Ein körperlicher Ort. Alles hat eine Form, Materie, mehrere Richtungen. Bin ich hier auch ausgedehnt? Kann ich mich vielleicht sogar bewegen, Veränderung herbeiführen? Ja, es geht! Zwar noch nicht uneingeschränkt zielgerichtet, aber ich habe eine Veränderung bewirkt. Ein erster Schritt in einer neuen Welt.

 

Zeit ist vergangen. Ich habe es gespürt, habe regelmäßige Geräusche vernommen, nacheinander. Neu, diese Aufeinanderfolge der Dinge, aber nach einiger zeit schon nicht mehr fremd. Nur die Einschränkung meines Geistes stört mich. Es ist eng. Es wäre in jedem Körper eng, unendlich eingezwängt im Vergleich zu den Verhältnissen dort, wo ich herkomme. Werde ich dorthin zurückkehren? Wieder eingehen ins große „Wir“? Ich weiß es nicht. Etwas fehlt mir. Wer bin ich?

 

Licht! Grell, unangenehm, eine neue Art der Wahrnehmung, bisher kaum erforscht, weil sinnlos und eintönig, jetzt blendend und schmerzhaft. Außerdem Laute, viel direkter als zuvor, schneidend und uneinladend. Dieses hohe, quietschende Geräusch, was ist das? Kommt das von mir? Warum? Was bewegt sich da so schnell? Alles ist so aufgeregt, erneut bin ich hinausgeworfen aus einer mir inzwischen vertrauten Welt, hinein in ein verwirrendes Chaos. Ich versuche, etwas zu verändern, aber mein Körper funktioniert hier draußen anders, ruckartiger. Etwas bewegt sich. Habe ich das verändert? Oder sind da noch andere Räumliche? Ein neuer Schmerz, ein neues Gefühl.

Eine neue Welt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.05.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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