Irene Beddies

Wendel: Zaubersprüche





Eines Nachts sahen Wendel und die Eule ein flackerndes Licht im Wald. Es kam von einer großen Laterne, in der eine rote Kerze brannte. Die Laterne stand auf einem umgekippten Baumstamm. Daneben saß eine junge Frau mit langen roten Haaren. Sie hatte altmodische Kleider an mit vielen Flicken darauf. Ein fester Knotenstock war an den Baumstamm gelehnt. Die Frau saß vornüber gebeugt und las in einem alten, sehr dicken Buch auf ihren Knien. Sie murmelte leise vor sich hin. Ab und zu bewegte sie ihre Hände, als ob sie etwas ergreifen wollte.

„Wer ist diese Frau? Noch nie war sie hier im Wald“.
Die Eule und ihr Freund beobachteten die seltsame Frau. Plötzlich aber saß dort nicht mehr die Frau mit den roten Haaren, sondern eine sehr alte Frau mit einem schmutzigen Kopftuch. Auch sie beugte sich über das dicke Buch auf ihren Knien und las darin.
Wendel konnte sich diese Verwandlung nicht erklären und sah fragend die Eule an. Die guckte ihn ebenso fragend an. Sie konnte also auch nicht erraten, was geschehen war, obwohl sie eigentlich immer alles kannte.
Wie auf Kommando rückten beide näher an die Gestalt heran, die plötzlich wieder die  rothaarige junge Frau war.
„Wer bist du?“ Wendel nahm sich ein Herz und sah die Frau direkt an.
„Ach, ein kleines Gespenst“, sagte sie freundlich, „ich habe schon lange keines mehr gesehen. Ich dachte es gäbe Gespenster nur noch in alten Geschichten.“
„Ich habe mehr als hundert Jahre geschlafen, weil mich eine Hexe verzaubert hatte“, erklärte Wendel. „Aber wer bist du?“

„Ich bin eine Hexe. - Eigentlich bin ich noch keine richtige, denn ich muss noch viel lernen. Erst vor zehn Jahren habe ich angefangen das Hexen auszuprobieren. Damals habe ich dieses dicke Buch in einer Höhle in einem Berg gefunden, als ich mit anderen Kindern dort gespielt habe. Die anderen wollten das Buch nicht haben, denn sie hatten keine Freude am Lesen. Ich aber war neugierig auf alte Geschichten. Und weil das Buch so dick war, dachte ich, ich könnte viele Märchen darin lesen. Ich nahm es mit nach Hause und las es gleich in der Nacht. Zuerst war ich enttäuscht, denn es enthielt keine Geschichten, sondern nur Verse und Sprüche, die sehr seltsam waren. Es dauerte zwei Jahre, bis ich durch Zufall herausfand, dass es Zaubersprüche sind. Seit der Zeit studiere ich die Zaubersprüche.“
„Das dauert zehn Jahre?“, staunte Wendel, „so langsam liest du?“
 „Nein, so einfach ist das nicht. Es reicht nicht, dass man sie liest oder auswendig lernt. Man muss auch bestimmte Handbewegungen zu den Zaubersprüchen machen, sonst kann man nichts erreichen.“
„Aha“, sagte die Eule, „deshalb bewegst du deine Hände so seltsam beim Lesen.“
„Ja, ich versuche immer herauszufinden, welche Handbewegungen zu einem Zauberspruch gehören. Ihr könnt euch vorstellen, wie mühsam das ist.“
„Und das kannst du dir merken?“
„Nicht immer so gut. Aber es wird besser. Zu Anfang habe ich viel falsch gemacht. Einmal musste ich eine Woche als Schwein durch den Wald laufen, bevor es mir gelang, wieder meine menschliche Gestalt zurückzubekommen. Ein anderes Mal konnte ich einige Tage lang nichts essen. Als ich mich wieder erlöst hatte, war ich so hungrig, dass ich einen großen Topf mit Brei auf einmal gegessen habe.“

„Wäre es nicht fein, wenn ich mich auch verwandeln könnte?“, fragte Wendel die Eule.
„Nein. Dass du schwarz warst, war schlimm genug“, meinte sie.
Trotzdem fragte er die Hexe: „Gibt es auch Zaubersprüche für Gespenster?“
„Aber ja, sonst hätte eine Hexe dich vor hundert Jahren doch nicht verzaubern können“, meinte sie.
„Kannst du einen finden?“, fragte Wendel begierig.
Die Hexe blätterte im Buch.
„Hier sind Sprüche, mit denen eine Hexe Gespenster verzaubern kann, aber die willst du vermutlich nicht wissen.“
Sie blätterte einige Seiten weiter. „Hier ist etwas, das Wesen, die keine Menschen sind, verwandelt. Vielleicht gilt das auch für Gespenster.“
„Lies bitte vor“, bettelte das kleine Gespenst. Die Hexe las:
        „Wille, wille, wix,
        verwandele mich fix.“
„Das ist alles?“
„Das ist nur der Spruch. Die Handbewegung dazu kenne ich nicht. Der Spruch geht mich ja nichts an. Er ist für Wesen, die keine Menschen sind.“
Das kleine Gespenst murmelte den Spruch ein paar Mal:
         „Wille, wille wix,
         verwandele mich fix.“
„Warum willst du den Spruch lernen?“, fragte die Eule.
„Ich will ihn nicht vergessen, er klingt so geheimnisvoll.“
Wendel schaute die Hexe ernsthaft an. „Danke“, sagte er leise.

„Sehen wir dich wieder?“, fragte die Eule.
„Vielleicht. Ich gehe jedes Mal in einen anderen Wald, damit mich niemand so leicht entdeckt.“
Damit verwandelte die rothaarige Frau sich wieder in die alte Frau, nahm den dicken Stock und die Laterne in die Hand und flog fort.
„Wie kann sie fliegen?“, staunte das kleine Gespenst, „sie sagte doch, sie sei ein Mensch.“
„Sie kennt doch all die Zaubersprüche aus dem Buch!“, meinte die Eule.
Da entdeckten sie das Buch auf dem Baumstamm. Als die Eule es mit dem Schnabel aufschlug, waren die Seiten leer. Kein Zauberspruch oder etwas anderes Gedrucktes oder Geschriebenes war zu sehen.
„Wirklich ein Zauberbuch“, murmelte Wendel verwirrt, „aber ich weiß ja den Spruch.“
Zufrieden kehrte er in seinen Pappkarton zurück.


(c) I. Beddies


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.05.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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