„Achtung, Achtung, an alle guten Bürger dieser Stadt: Eine Säuberung
wird in den nächsten 20 Minuten stattfinden. Bitte halten Sie Ihre
Gehaltsnachweise bereit.“
Diese
Stadt ist nur eine Mischung von Abschaum und Dreck. Gehaltsnachweise. Ich bin
der verdammte Bürgermeister dieser verdammten Stadt. Wer würde wohl von mir
einen Gehaltsnachweis fordern?
„Entschuldigen Sie?“
„Wer, ich?“
Eine Polizeieinheit taucht hinter meinem
Rücken auf, hält mir den kalten Stahl einer halbautomatischen Waffe in das
Genick und bedeutet mir, mich langsam umzudrehen.
„Könnte ich Ihren Gehaltsnachweis sehen?“
Ich wende mein Gesicht aus dem Schatten,
der es bis dahin bedeckte dem Polizisten zu. In meinem Mund steckt eine
Havanna, wie sie heute nur noch selten produziert wird, eine einzelne Zigarre,
die 300.000 Euro wert ist. Nicht dass der Euro noch etwas wert wäre, zu sehr
hat ihm die Inflation, die diese Arbeitslosen, die von der Säuberung gefährdet
ist, verursacht haben, geschadet. Aber für 300.000 Euro erhält man immerhin
noch einen kleinen Neuwagen. Oder eine Havanna.
Mein Gesicht ist jetzt zur Hälfte mit
einem, durch die unendlichen Häuserschluchten meiner gottverdammten
Stadt fallenden, Lichtstrahl bedeckt,
so dass meine Gesichtszüge klar erkenntlich sind.
„Grüß Gott, Herr Bürgermeister.
Entschuldigen Sie vielmals. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Es tut mir
wirklich furchtbar leid.“
Ich paffe an meiner Havanna, nehme Sie
aus dem Mund, lasse sie auf den Boden fallen und zertrete sie mit meinen Krokodillederstiefeln.
„Name?“
„Herr Bürgermeister, bitte, nein!“
„Name!“
„Harvey Andrews.“
Ich ziehe mein Mobiltelefon, neueste
Generation, Übertragungsrate was-weiß-ich-wieviele Terrabytes pro Sekunde,
Stimmidentifikationssystem, Satellitenkommunikation möglich, synthetischer
Fingerabdruckscanner und Simultan-Sprache-zu-Text und Text-zu-Sprache
Umwandlung, 1.000.000 Euro bei einem Internet-Discounter, ein echtes
Schnäppchen.
„Jonathan?“
„Grüß Gott Herr Bürgermeister. Nett
wieder einmal von Ihnen zu hören.“
„Hör zu, ich habe hier einen
Exekutivbeamten, einen gewissen Harvey Andrews.“
„Einer meinen zuverlässigsten und besten
Beamten. Was ist mit ihm?“
„Schmeiß ihn raus!“
„Was? Wieso, Herr Bürgermeister, ich
verstehe nicht? Sie verlangen von mir, einen meiner besten Männer zu kündigen?“
„Schmeiß ihn raus oder du fliegst raus.“
„Jawohl Herr Bürgermeister!“
Harvey starrt mich an. Ich strecke meine
Handfläche aus und bedeute ihm, mir seine Dienstmarke und seinen
Gehaltsnachweis zu geben.
„Tut mir leid, Harvey, das ist echt ein
sehr schlechter Tag für dich.“
„Jawohl, Herr Bürgermeister.“
„Socialnet.gov oder cleancitizen.com wird
sich um dich kümmern.“
„Jawohl, Herr Bürgermeister.“
Er zieht seine Dienstmarke aus der
Befestigung von seinem Gürtel und überreicht sie mir. Ich nehme auch seine
Identifikationskarte entgegen und stecke sie in das Kartenlesegerät meines
Palmtops, von dotcom.com, 2.000.000, - Euro, ein echtes Schnäppchen. Einige
unwichtige Informationen über vorhergehende Dienste, Beförderungen, Familienstatus
und Konsumgewohnheiten erscheinen auf dem Display. Ich wechsle in den Ordner,
der den Gehaltsnachweis enthält und korrigiere den Wert auf 0,- Euro monatlich.
Eine datanet Satelliten-Dial-up Verbindung erlaubt es mir vor Ort socialnet.gov
zu kontaktieren, um eine weitere Säuberung vorzunehmen.
Ich zünde mir mit meinem Feuerzeug, einem
wirklichen Prachtstück aus einer Gold-Platin Legierung, in großen Lettern „City
Hall“ eingraviert, eine weitere 300.000 Euro Havanna an.
„Weißt du, Harvey, heute ist wirklich ein
fantastischer Tag. Erstens habe ich heute eine neue Lieferung dieser
wunderbaren Havannas erhalten und einer meiner Gesetzesvorschläge wurde heute
von dem Stadtrat angenommen.“
Harvey steht vor mir, ein weiteres
Individuum, dessen Existenz soeben vernichtet wurde und dass nun vor dem
Abgrund steht, alles verloren hat, mit einem bitteren halbzynischem Lächeln im
Gesicht, melancholischer Ausdruck in den Augen.
„Ich habe socialnet.gov bereits
kontaktiert. Du solltest mir dankbar sein. Das verhindert, dass du
cleancitizen.com in die Hände fällst.“
Ein Ausdruck echter Dankbarkeit
überfliegt in einen kurzen Moment lang sein erbittertes Gesicht. Doch schon
treffen Säuberungsbeauftragte von socialnet.gov ein, die unseren kleinen, einst
so großen socialnet.gov Polizisten in Gewahrsam nehmen. Elektrische Fußfesseln.
Handschellen. Entfernen der Auszeichnungen und Dienstmarken. Harvey wird in den
socialnet.gov Helikopter verladen, zwei Sicherheitsbeamte links und rechts von
ihm. Harvey hatte jeden Grund mir dankbar zu sein. Socialnet.gov ist der
offizielle, staatliche Säuberungsdienst, der dieses arbeitslose Gesocks vor
sich und uns vor denen schützt. Socialnet.gov hat sich um alle jene zu kümmern,
die keinen oder einen nur unzureichenden Gehaltsnachweis vorzuzeigen haben.
Ich, als Bürgermeister, bin in dieser Zeit der mächtigste Mann dieser Stadt,
habe die oberste Position in der Gesetzgebung, bin Oberkommandant der Exekutive
und habe als oberster Rechtssprecher die Judikative in der Hand. Mich schützt
meine Immunität vor solchen Kontrollen und unser kleiner Harvey ist leider ein
wenig zu frech gewesen. Trotzdem muss er mir dankbar sein, dass ich
socialnet.gov kontaktiert habe, ansonsten wäre er eventuell in die Hände von
cleancitizen.com gefallen, eine Firma, dessen Standort niemand wirklich kennt,
die einige Regierungsbeamte und sogar mich, den mächtigsten Mann dieser Stadt,
auf der Gehaltsliste hat, um neben socialnet.gov ihre eigenen Säuberungen
durchführen zu können und die Gefangenen für ihre eigenen Zwecke verwenden zu
dürfen. Was sie genau mit ihnen machen, hat nie jemand gefragt. Es wollte auch
nie jemand wissen. Es geht auch mich nichts an, schließlich sorgt
cleancitizen.com für ein monatliches Einkommen von 10.000.000 Euro für unseren
hochgeschätzten Herrn Bürgermeister. Warum sollte ich also nachfragen? Details
interessieren mich nicht.
Ich betrete den Stadthelikopter, der mich
in meine Residenz, die in den Rathauskomplex integriert ist, bringt. Jennifer,
meine Sekretärin, die sich vor und auf dem Schreibtisch bewährt hat, wartet
darin bereits auf mich.
„Wie geht’s dir, Süße?“
„Herr Bürgermeister, das ist jetzt
wirklich der falsche Zeitpunkt.“
„Wann der falsche Zeitpunkt ist, bestimme
immer noch ich!“
„Ich habe wirklich etwas wichtiges mit
Ihnen zu besprechen.“
„So wichtig kann es gar nicht sein. Ich
befinde mich in meiner Freizeit. Ich möchte zuerst zu meiner Residenz geflogen
werden und bespreche dann alles mit dir während der Konferenz.“
Der Hubschrauber hebt ab, steigt in die
Höhe und bietet einen wundervollen Ausblick auf die Skyline meiner Stadt, deren Stahlbeton
Wolkenkratzer die letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne reflektieren
und die Stadt in ein schimmerndes Orange tauchen.
Jennifer reißt mich aus meinen Gedanken.
„Das was ich mit Ihnen zu besprechen habe
kann leider nicht bis zur Konferenz warten.“
„Was ist Jennifer? Ich warne dich, wenn
es nicht wichtig ist...“
„Es sind da bestimmte Gerüchte im
Umlauf.“
„Ich bin der Bürgermeister. Es gibt da
immer Gerüchte über mich, Baby.“
„Es sind aber schlimme Gerüchte!“
„Was ist es? Das mit der Affäre mit
dieser Schauspielerin?“
„Bestimmte Elemente behaupten, sie würden
auf der Gehaltsliste von cleancitizen.com stehen.“
„Der gesamte Regierungsapparat steht auf
der Gehaltsliste von cleancitizen.com.“
„Von einem Mann in Ihrer Position
erwartet man so etwas aber nicht.“
„Der gottverdammte Präsident steht auf
der Gehaltsliste von cleancitizen.com! Warum sollte ich so etwas nicht dürfen?“
„Sie wissen genau, dass die lokalen
Bürgermeister in unserem föderalistischen System mehr Macht haben als der
Präsident.“
„Das reicht. Du bist gefeuert.“
Ich ziehe meinen dotcom.com Palmtop aus
der Jackentasche und verfüttere erneut eine Identifikationskarte.
„Socialnet.gov wird dich nach der Landung
des Hubschraubers in Gewahrsam nehmen.“
„Sie können sich Ihre zynische Art
sparen. Vielleicht sind Sie der Nächste.“
„Das reicht, du Schlampe. Wenn du nicht
sofort die Klappe hältst, dann verliere ich vielleicht die Geduld und erlaube
cleancitizen.com dich in Gewahrsam zu nehmen.“
Die kleine Schlampe scheint zumindest
eingeschüchtert zu sein und hält jetzt die Klappe. Ungeduldig klopfe ich auf
die Abgrenzung zwischen dem Piloten und mir.
„Geht es nicht ein wenig schneller?
Abgeordneter Leary wartet schon auf mich.“
Der Pilot legt mir GPS Navigationsdaten
auf den Bildschirm, die unsere derzeitige Position und Route anzeigt. In der
rechten, unteren Ecke des Plasmabildschirms läuft eine kleine
Werbedokumentation über Fusionen und den Werdegang von cleancitizen.com.
Cleancitizen.com ist heute die mächtigste und reichste international agierende
Firma. Offiziell ist sie ein Public-Relations und Management Betrieb für einige
der Firmen mit denen sie in den letzten Jahrzehnten fusioniert ist:
Prominenteste Beispiele sind datanet, der weltweit größte Satelliten Handy-,
Internet-, Kommunikations- und Fernsehbetreiber und dotcom.com, die größte und
nobelste Einkaufsmeile, die diese Welt zu bieten hat. Inoffiziell besitzt
cleancitizen.com aber auch noch große Anteile an der Progressive Technologies
Inc. Gruppe, zu der unter anderem der Software Gigant Nanosoft, der Prozessor
Hersteller Intelligent Genius sowie große Multimedia- und Technologiehersteller
gehören, wie in etwa VJC, Phony, NAudia oder Hewings-Package. Bisher
unbestätigt ist das Gerücht, cleancitizen.com würde auch sehr gute Beziehungen
zu den entsprechenden Abteilungen der Regierung unterhalten, deren Kontrolle
die Aktivitäten von Überwachungssatelliten unterliegen. Der Werbesprecher, ein
bekannter Talkshow Moderator namens Oliver Silvers, interpretiert die
Firmenhistorie von cleancitizen.com gerade auf seine Weise:
„Cleancitizen.com und datanet machen aus
Ihrem Handy einen internetfähigen Organizer, der dank Satellitenverbindung
weltweite universelle Verwendung findet. Cleancitizen.com macht mit Hilfe von
datanet Ihren Fernseher zu einer universellen Kommunikationszentrale, die es
Ihnen erlaubt, Ihre Geschäftsverbindung per Konferenzschaltung bequem von Ihrem
Wohnzimmersessel aus zu erledigen. Cleancitizen.com erlaubt Ihnen in Kooperation
mit dotcom.com weltweiten Zugriff auf das riesige Sortiment der größten
Shoppingzentrale der Welt. Cleancitizen.com...“
Der Werbesprecher wird von einer Stimme
seitlich von mir unterbrochen.
„Donald! Lange nicht gesehen, was?“
Während ich in meinen Gedanken versunken
war habe ich gar nicht bemerkt, wie der Helikopter auf dem Dachlandeplatz des
560m hohen City Hall Gebäudes gelandet ist. Jäh unterbrochen wurde ich von
jenem Mann, der sich die besten Chancen ausrechnen kann, nach meinem Ableben der
neue Bürgermeister dieser Stadt zu werden. Guy Leary, Sauber- und Strahlemann
und in der letzten Ausgabe des „People“ Magazins zu den 100 erfolgreichsten
jungen Menschen des vergangenen Jahrzehnts gezählt, strahlt er mich jetzt mit
seinem typisch zynisch-charmanten Lächeln an.
„Guy Leary, du alter Halunke! Ich möchte
wetten, du freust dich bereits darauf, in der Stadtratskonferenz in...,“ ich
betrachte meine Uhr, „10 Minuten die gesamten Oppositionsparteien wieder einmal
zu vernichten.“
„Das Tolle ist, dass wir als Partei mit
absoluter Mehrheit das sagen können, was wir wollen. Ich meine, wen
interessiert schon die öffentliche Meinung.“
Hinter vorgehaltener Hand sagt er mir
leise ins Ohr:
„Wahlen sind schließlich dazu da,
manipuliert zu werden.“
Jetzt wechselt er wieder in seinen
typisch lauten und dominanten Tonfall:
„Es heißt Laura McCarthy hätte wieder
etwas gegen dich in der Hand. In einem Interview mit den times.com behauptete sie, es würde Potenzial dazu haben, stark an
deinem Machtgefüge zu rütteln. Übrigens, nette Uhr. Wie viel hat die gekostet?“
Wir betreten nun den riesigen,
marmorverkleideten Gang, der in griechisch-antikem Stil mit korinthisch
anmutenden Säulen erbaut wurde. In klarem, fast unangenehmen Kontrast dazu
steht die Glasbeton Bauweise des nachfolgenden Raumes, der den Übergang vom
pompösen Gang zu dem Stadtratskonferenzraum bildet. Allerlei technischer
Schnickschnack wie Metalldetektoren oder Überwachungskameras bildet hier das
Mobiliar. Guy und ich nehmen jedoch den Eingang für Abgeordnete, was uns die
Sicherheitsvorkehrungen erspart.
„Laura McCarthy hatte die letzten fünf
Jahre etwas gegen mich in der Hand. War ein Versuch, meine Macht auch nur
anzukratzen jemals erfolgreich? Nein! Wenn die so weitermacht, dann ist sie ein
Fall für socialnet.gov. Ich weiß leider nicht, wie viel diese Uhr gekostet hat,
weil sie ein Geschenk meiner lieben Ex-Frau war, aber ich habe sie bei
dotcom.com um 750.000 Euro gesehen.“
„Ach ja, wie geht’s deiner neuen
Sekretärin, Jessica?“
„ Eigentlich Jennifer und alte
Sekretärin. Socialnet.gov.“
„Jetzt einmal langsam, Mann. Du gewinnst
noch unsere kleine Wette, wer diesen Monat mehr Sekretärinnen in soziales Elend
stürzt.“
„Ich arbeite daran.“
Wir betreten nun den
Stadtratskonferenzsaal, der sich ähnlich wie der Sicherheitsraum zum größten
Teil mit Glasbeton präsentiert, der einen wunderbaren Ausblick auf den Himmel
offeriert. Manche Leute sagen, der Stadtratskonferenzsaal wäre, als
höchstgelegener Raum des höchsten Gebäudes der Stadt, der einzige Punkt in meiner Stadt, von dem aus der Himmel
noch blau erscheinen würde. Cleancitizen.com hat sich bereits den meisten von
ihnen angenommen. Guy und ich sind wohl etwas zu spät dran, da alle
Abgeordneten unserer kleinen Stadtkonferenz bereits auf uns warten. Als wir den
wundervollen, von einigen französischen Innenausstattern designten Raum
betreten, von dem aus der Himmel blau wie immer erscheint, haben sich alle
Abgeordneten bereits eingefunden. Laura McCarthy positioniert ihre korpulente
Leibesfülle inmitten dieses Gemisches aus Fett und Arroganz. Ich bin nicht fett. Ich frage mich, was dieses alte Problem schon wieder
gegen mich in der Hand haben könnte. Jedenfalls fuchtelt sie jetzt wie wild mit
ihren anmutig mit ihren graziösen Händchen, die mich an Elefantenpfoten erinnern
und deutet auf mich. Der Konferenzleiter, ehrfurchtsvoll „Sprecher“ genannt,
erhebt das Wort, der alte Sack. Guy und ich sind nicht alt.
„Aufgrund aktueller, nach Dringlichkeit
rufender Ereignisse, schlage ich vor, mit der Sitzung sofort zu beginnen.“
Das
erregt nun doch meine Aufmerksamkeit. Der Alte
hat schon seit Jahren nicht mehr von „nach Dringlichkeit rufender Ereignisse“
gesprochen. Ich meine, es gibt da schon soziales Elend (oder so) und ich glaube
vielleicht sogar Armut oder Kriminalität und irgendwie irgendwo auf der Welt,
ABER NICHT IN MEINER STADT, bringen sich gerade Tausende von Menschen um. Als
ob es jemanden interessieren würde. Allerdings, die letzten „nach Dringlichkeit
rufenden Ereignisse“ wurden bei der letzten Politikergehaltskürzung ausgerufen.
Tragische Geschichte war das. Ach ja, und letztes Jahr, als bei einer
Massendemo im 20. Stadtbezirk 10.000 socialnet.gov Arbeiter „bei einem
tragischen Unfall ums Leben kamen“. Als ob es jemanden interessieren würde.
„Abgeordnete McCarthy, wenn Sie bitte
gleich mit Ihrem Anliegen beginnen würden.“
Ich blicke auf meine zugegeben nicht ganz
billige Uhr und gähne. Ich habe das plötzliche Verlangen den Saal zu verlassen.
Unsere ebenso wohlbeleibte wie unbeliebte
Abgeordnete betritt nämlich gerade das mit diversen Computersystemen
ausgerüstete Podium, die Schallamplitudenverstärkung stammt von Progressive
Technologies Inc., von Steuergeldern finanziert, von mir ausgewählt.
„Ich adressiere meine heutige Rede an
Bürgermeister Donald Hykes.“
„Oui, oui, mon
amour, c’est comme toujours.“
Dieser böse alter Spreche, dessen Anblick
mich eher als dessen Auftreten beunruhigt funkelt mich böse an.“
„Auch Sie, Herr Bürgermeister, sprechen
erst, wenn ich Ihnen das Wort
erteile.“
Was glaubt dieses Relikt eigentlich, wer
er ist? Nach meiner „demokratischen Impositionierung“ in das Amt eines auf
Lebenszeit gewählten Volksvertreters werde ich mich seines Schicksals und dem
von Abgeordneter McCarthy annehmen, d.h. in die richtige Bahn lenken. Guy Leary
brauche ich dazu nicht mehr. Stichwort: Straßenkehrer. Er darf dann Abgeordnete
McCarthy zusammenkehren. Aber zuerst muss ich mir noch die Rede dieses
Wahlrosses anhören.
„Bürgermeister Hykes, bestreiten Sie,
bestimmte Verbindung zu cleancitizen.com zu haben?“
„Wer hat das nicht? Meine Frau kauft dort
und bei dotcom.com meine Weihnachtsgeschenke.“
„Ich spreche eher von geschäftlichen
Verbindungen.“
„Wenn meine Frau dort etwas kauft, dann sind das geschäftliche
Verbindungen.“
„Ich spreche von illegalen geschäftlichen
Verbindungen.“
Ein Raunen geht durch den Konferenzsaal,
einige Abgeordnete beraten sich und tuscheln. Mir jedoch kann nichts passieren.
Unser zukünftiger Straßenkehrer sollte vollends hinter mir stehen. Der alte
Sack erhält Schmiergelder. Leary darf McCarthy vielleicht schon früher von der
Straße putzen, als ich dachte. Die ehrenwerte Gesellschaft, übrigens auch zu
einem nicht zu bestimmenden Teil in cleancitizen.com integriert, wird sich um
dieses geringfügige Problem kümmern. Der alte Sack beginnt zu sprechen.
„Das sind direkte Anschuldigungen, die
Sie da gegen Bürgermeister Hykes hervorbringen und nicht zulässig, Abgeordnete
McCarthy.“
Die Schmiergelder für den Alten hatten
sich gelohnt. Er stand voll hinter mir.
„Sehr geehrter Herr Sprecher, ich habe aber
Beweise gegen Bürgermeister Hykes vorzulegen. Dieses Videodokument,
aufgezeichnet von Progressive Technologies Inc., belegt mehrmalige
Videokonferenzen von Mr. Hykes mit cleancitizen.com und unbegründete
Geldüberweisungen von cleancitizen.com an Mr. Hykes. Allerdings sollten wir uns
den Inhalt jener Videokonferenzen ansehen.“
„Abgelehnt, Abgeordnete McCarthy. Es
liegt kein Grund vor, so vorzugehen.“
Der Sprecher, ist alt aber gut. Ich würde
seine Gehaltsaufbesserung ab jetzt noch verstärken. Natürlich begibt er sich
damit in direkte Gefahr, weil sich seine Argumentation jenseits der
Möglichkeiten derzeitiger legaler Mittel war. Aber das konnte sich ja bald
ändern...
„Sehr geehrter Herr Sprecher, es gibt
meiner Ansicht nach sehr wohl einen Grund so vorzugehen.“
„Setzen Sie sich, Abgeordnete McCarthy,
sie erhalten Sprechverbot.“
Ich will jetzt natürlich nicht erwähnen,
wie viel Geld unser Sprecher von uns
erhält, aber es ist genug. Wir erhalten das Geld von cleancitizen.com und geben
10% davon an ihn weiter. Und das ist eine unvorstellbare Summe. Natürlich kann
er da alles auf eine Karte setzen.
Ein Abgeordneter erhebt sich um sein Wort
zu erheben.
„Ich glaube nicht, dass das zulässig ist,
Herr Sprecher.“
„Ruhe im Konferenzsaal. Ansonsten werde
ich die Sitzung vertagen.“
„Das ist nicht zulässig, Herr Sprecher.
Das könnte für Sie einen Misstrauensantrag bedeuten.“
Guy Leary, mein guter Freund, erhebt
sich, klopft mit dem Finger auf den Tisch, woraufhin sich der gesamte Saal ihm
zuwendet, in Erwartungshaltung, ein Misstrauensantrag, der nur durch den
Bürgermeister, oder dessen Stellvertreter, der in diesem Fall eben besagter Guy
Leary wäre, würde folgen. Langsam wendet er sich dem Abgeordneten zu.
„Setzen Sie sich!“
„Was?“
„Setzen
Sie sich!“
„Das werde ich nicht tun.“
„Okay.“
Er greift in die Innentasche seines
Armani Jacketts und zieht eine 9 mm Projektilwaffe aus der Innentasche. Nun ja,
Politiker müssen nicht durch die Sicherheitskontrollen. Schade. Der Saal bricht
in Panik aus, Abgeordnete ducken sich unter ihre Tische weg, Mikrofone werden
umgeworfen, der alte Sack hält sich schützend die Hände vor die Augen, Laura
McCarthy bezieht zitternd Deckung unter ihrem Podium. Sie erwarten, dass die
Sicherheitsbediensteten uns erschießen würden oder so, doch sie tun es nicht.
Die beiden Sicherheitskräfte stehen da, Sonnenbrillen an, Shotguns gesichert
und entladen stehen am Boden. Es interessiert sie nicht. Geld interessiert sie.
Guy Leary zielt mit der Halbautomatik
quer durch den Konferenzsaal. Überall zitternde, feige, dumme Politiker unter
ihren Tischen und Podien, Schutz suchend, ängstlich. Er könnte ja schießen. Nur
wir beide, wir stehen noch, wir sind die last
men standing und blicken auf dieses unwürdige Gewürm hinab. Was wollen die
eigentlich? Guy Leary beginnt durch den Saal zu rufen.
„Ich will ja niemanden erschießen.“
Einige Abgeordnete blicken ängstlich über
die Podiumskante hervor. Zwei widerhallende laute Töne aus seiner
Projektilwaffe, rote abstrakte Striche kleiden einen Teil eines Mikrofons, rote
Flüssigkeit auf dem Boden, der Abgeordnete, der den Misstrauensantrag stellte
spricht nicht. Nie mehr.
„Aber ich muss.“
Ich glaube, nun haben alle erkannt, wie
ernst die Lage ist und ich bin Guy sehr dankbar, dass er eine sehr sinnvolle
Aktion übernimmt. Zwei kurze, schnelle Druckausübungen mit dem Zeigefinger
befreien uns von Laura McCarthy. Ein roter Lebenssaft benetzt die Mikrofone und
die Bildschirme oberhalb des Podiums. Angesichts solch furchtbarer Ereignisse
schreie ich zu Guy.
„Das ist von Progressive Technologies
Inc.! Pass gefälligst auf, wo diverse Körperflüssigkeiten hinspritzen, weißt du
eigentlich, was diese Technologie kostet? Wir müssen den Körper von dieser
Schlampe sofort hier wegschaffen, bevor das Blut in die Bildschirme sickert und
die Schaltkreise zerstört.“
Ich glaube, dem Alten geht das jetzt
alles ein wenig zu weit, er streckt eine Hand nach oben, resignierend und
wendet sich an Guy und mich.
„Das geht eindeutig zu weit! Von
Schusswaffen und Toten war nie die Rede!“
Guy wirkt mittlerweile sichtlich genervt,
indifferent und gelangweilt.
„Ah, shut up!“
Das Magazin ist um zwei weitere Kugeln
leichter, die Situation im Saal könnte mittlerweile als angespannt bezeichnet
werden. Guy sollte mit seinem Magazin wirklich etwas mehr haushalten. Es
bleiben nur mehr 11 von 17 Kugeln übrig und wer weiß, wer sich noch alles in
den Weg stellt. Er sollte wirklich etwas sparsamer sein. Eine, aber dafür
gezielte, Kugel reicht doch. Jedenfalls ist unser vormalig bestochener Sprecher
jetzt so ruhig wie nie zuvor. Vielleicht würde er jetzt fragen: „Warum?“ Und
ich würde antworten: „Ich weiß nicht. Es interessiert mich nicht.“ Doch er tut
es nicht. Das liegt vielleicht daran, dass er tot ist.
Ich glaube, Guy Leary und ich haben jenen
chaotischen Haufen, der sich in dieser Stadt Stadtkonferenz nennt, genügend
eingeschüchtert und auf unsere Machtübernahme vorbereitet. Nicht, dass wir
dabei etwas Illegales tun würden. Ich meine, schon, der Präsident und so
kontrolliert irgendwie alles was irgendwie vor sich geht. Aber in unserem
System föderalistischer Demokratie wäre es doch verantwortungslos, die lokalen
Regierungen zu bevormunden. Es ist so, dass der Präsident a) hier nach
Auslegung des Gesetzes durch einen guten Anwalt wahrscheinlich gar keine
Eingriffsrechte hätte; b) es interessiert ihn nicht. Wir sind schließlich eine
demokratisch gewählte Stadtregierung. Mit zwei Mann an der Spitze. Im Amt auf
Lebenszeit. Mit absoluter Befehlsgewalt über die Stadt. Die direkten Vertreter
Gottes auf Erden. Später nur noch ein Vertreter Gottes auf Erden, weil der
zweite durch eine Schicksalsfügung zum Straßenkehrer degradiert wird.
Jedenfalls beginne ich jetzt diesen chaotischen Haufen über seine neue
Situation aufzuklären.
„Alle bitte einmal herhören! Seine Gnaden
behält sich vor dem Gewürm mitzuteilen, dass aus Rationalisierungsgründen die
Stadtkonferenz für ineffizient erklärt wurde. Die Regierung übernimmt hiermit
ein Rat zweier Personen, der alle Funktionen der Stadtkonferenz in sich
vereint. Ebenfalls aus Rationalisierungsgründen wird es zur Auflösung
sämtlicher Parteien kommen, die aufgrund unseres neuen, vereinfachten
Wahlsystems, an Notwendigkeit verlieren werden. Die Stadtkonferenzmitglieder
mögen sich bitte bei socialnet.gov einfinden.“
Zu meinem Missfallen unterbricht Guy
Leary meine Ansprache plötzlich.
„Ich glaube, du hast da etwas verpeilt,
Donald.“
„Was?“
Er zielt mit seiner halbautomatischen
Waffe auf meinen Kopf. Er wagt es mit seiner verdammten 9mm Aimlabs
Halbautomatik, 98.999,- Euro im Winterschlussverkauf, gesehen bei
weapequip.net, Lauf zu einem großen Teil aus Kunststoffverbindungen, welche die
Waffe besonders leicht und zuverlässig machen. Guy verwendet für seine Kugeln
Spezialanfertigungen, geritzte Platin-Titan Legierungen, die beim Eintritt in
den Körper zersplittern und eine Austrittswunde dreifach größer als die
Eintrittswunde verursachen. Solche Spezialmunition, in allen Staaten der
Europäischen Union verboten, wird unter anderem in der GUS sowie in Kolumbien
gefertigt und kann nur mit bestimmten Beziehungen oder direkt über
cleancitizen.com bestellt werden. Eine solche Kugel steckt in seinem Lauf,
abschussbereit, in einer Höhe mit meinen Augen, der Lauf auf mich
gerichtet.
„Nimm den von meinem Kopf weg! Du
könntest mich damit verletzen.“
„Weißt du, Donald, lass mich dir eine
Geschichte erzählen: Ich träume. Ich schlafe. Ich wache auf.“
„Du wachst
auf?“
„Ich wache auf.“
Manche Momente erleben wir in slow
motion. Andere fast forward. Manche Momente vereinen beides in sich, in einem
gewaltigen, unendlich langen Schreckensmoment gefolgt von einem
aufoktroyierten, kurzlebigen Vanitas-Gedanken. Alles ist vergänglich. Jener
Moment, in dem jene 9mm Platin-Titan Kugel (5.000,- Euro, Equitex) meinen
Brustbereich durchstößt und durch meinen Rücken nach außen dringt, denke ich,
mir, dem Bürgermeister, könnte so etwas gar nicht, auf keinen Fall passieren,
denn schließlich waren meine gottgleichen Rechte zum Dogma erhoben, jemand, ein
Polizist, ein Arzt, vielleicht sogar ein fetter Abgeordneter, musste mir doch helfen,
seine Taten sühnen, doch Splitter verließen meinen Rücken, your reality has been altered, ich sacke zu Boden, niemand hilft
mir, es ist jedem egal, es interessiert
sie nicht, ich blicke auf, zu den beiden Wachebeamten, sie sind immer noch
damit beschäftigt, ihre gesicherten, ungeladenen Shotguns zu sichern, es interessiert sie nicht, ich blicke zu
den Abgeordneten, sie zittern unter den Tischen, es berührt sie nicht, ich blicke zu Guy, es amüsiert ihn nicht, ich blicke in das Universum, kein Neutronenstern vergeht. Ich bin
bedeutend. ICH bin bedeutend. Ich BIN bedeutend. Ich bin BEDEUTEND. Warum
interessiert es niemanden? Guy spricht, als wäre nichts geschehen.
„Nachdem Bellerophon nun die Schimäre
besiegt hat, widmen wir uns nun wieder lustigeren Angelegenheiten. Unsere neue
progressive Stadtregierung hat sich entschlossen, eine wirtschaftliche
Liberalisierung durchzuführen, durch die cleancitizen.com größere Befugnisse
erhält und es datanet ermöglicht wird, jeden Bürger zu seiner eigenen
Sicherheit und zum schnelleren Einschreiten im Notfall, über unsere Hi-Weather
Satelliten zu überwachen. Zur Vereinfachung unserer Administration erhält jeder
Bürger eine Identifikationsnummer und ist in seinem eigenen Interesse
verpflichtet, DNA Proben abzugeben, um das schnellere Einschreiten zur Hilfe
eines sich im Notfall befindlichen Bürgers, durch unsere Adenin-Cytosin
scannenden Satelliten, zu gewährleisten.“
Es wird dunkler vor meinen Augen und ich
werde von den zwei Wachebeamten weggezogen. Ich kann die Splitter der Kugel in
meinem Brustbereich spüren. 5.000,- Euro! In meinem Brustbereich. Das ist mein
Testament: Sollte ich sterbe, wünsche ich im Designer Anzug von Armani in
meiner Brooks Brother Brille begraben werden (500.000,- Euro der Anzug,
50.000,- Euro die Brille). Ich wünsche in einem vergoldeten Eichensarg zur Erde
gebetet zu werden, innen ausgekleidet mit Samt und Satin, Priester aller in
meiner Stadt gültigen Konfessionen sollen anwesend sein, für das Totenmahl soll
das gesamte Hilton gesperrt werden, die Übertragung soll auf CNN live erfolgen.
Auf dem Friedhof beanspruche ich ein Grundstück von sagen wir einem
Quadratkilometer, ein Kreuz aus Gold und Kupfer soll angefertigt werden, mit
Diamanten verziert (die Diamanten sollen vorher bei meinem Lieblingsdesigner
geschliffen und poliert werden, schätze 2.000.000 Euro). Ich wünsche in meinem
Sarg einen datanet Satelliten Dial-Up Anschluss mit TFT Touch-Screen und 120
Terrabyte Übertragungsrate pro Nanosekunde. Außerdem wünsche ich mit meinem
dotcom.com Handy begraben zu werden, meine Rollex an meinem Armband. Meine
Haare sollen vor der Beerdigung noch einmal bei meinem Coiffeur zurechtgemacht
werden, außerdem wünsche ich eine vollständige Mani- und Pediküre vor meiner
Bestattung. Schuhe von Gucci wären angemessen.
Ich wache auf und muss leider
feststellen, dass meine Arschlochfamilie leider nicht an eine Bestattung im
Samtsarg gedacht hat und dass ich mich statt dessen in irgendeinem rötlich
schimmernden Loch befinde. Statt meinem Armani Anzug trage ich eine Art
Häftlingskleidung, keine Gucci Schuhe, barfuß, keinen Rollex Chronometer, keine
schöne Frisur sondern Sean Connery in „The Rock“ Haare, kein Totendinner im
Hilton, sondern Gefangenenfraß in der Kantine. Ich blicke mich um und scheine
mich in einer Art chemischer Fabrik zu befinden. Ich liege auf einer
schmutzigen Pritsche neben jenem Behälter, der dieses schöne Totenkopf-Zeichen
trägt. Vor mir ein großer, runder Behälter mit dieser schönen gelben,
vergilbten Schrift: „Vorsicht! Dämpfe nicht einatmen!“. Der Behälter dampft so
schön. Ich versuche mich aufzurichten, stelle aber fest, dass nur wenige
Zentimeter ober mir eine Ölpipeline verläuft, von der jenes schwarze Gold auf
meine „Kleidung“ tropft. Am Kopfende meines Bettes befindet sich ein großer Lautsprecher,
Hersteller cleancitizen.com, von dem sich nun Worte stampfend in mein
Gedächtnis hämmern.
„Sehr geehrter Arbeiter. Sie befinden
sich nun im Schutz der Sozialhilfefirme cleancitizen.com. Cleancitizen.com
kümmert sich um alle ihre Anliegen, für die Verwaltung sind die
Lokaladministratoren zuständig. Diese werden per Zufall ermittelt, regieren ein
Jahr und haben eine überwachende Schutzfunktion über ihre Arbeiter. Der
Lokaladministrator in Ihrem Arbeitsbereich heißt Harvey Andrews.“
Ob man hier Menschen töten kann?
Ab
hier ist der Erzählung nur mehr vage in Form einiger Tagebuchaufzeichnungen
vorhanden.
29. September:
Ich
könnte jetzt ja schildern, wie schrecklich es hier ist. Wir werden gefoltert
und geschlagen und müssen arbeiten, Tag und Nacht, aber es steigt die leichte
Befürchtung in mir, dass das nun niemanden interessiert. Deswegen erwähne ich
es nicht. Einige neue innenpolitische Vorkommnisse erscheinen mir da
interessanter: Guy Leary, unser neuer hochgeschätzter Statthalter, eröffnete heute
sein Amt mit seiner Antrittsrede, eine Antrittsrede, die er von mir gestohlen
hat. Ich meine, es stört mich ja überhaupt nicht, dass er mich angeschossen
hat, im Gegenteil, ich hätte ja sein Leben auch für 10 Eurocent verkauft, es
stört mich nur, dass er meine Rede
geklaut hat. Der genaue Wortlaut: „Ich grüße die großartige Bürgerschaft. Gerne
in Kenntnis setzen würde ich Sie über einige, im Zuge der neuen Regierung,
vorge-nommenen Reformen, wie etwa die lange angekündigte Wahlrechtsreform.
Durch unser neues, vereinfachtes Wahlsystem, wird es für Sie, unsere
hochgeschätzten Bürger, nicht mehr notwendig sein, sich den komplizierten und
belastenden Vorgang der Stimmenabgabe aufzubürden. Aufgrund dieser Reform wurde
die Amtsdauer der amtierenden Regierung etwas erhöht....“
Ich
brauche wohl nicht fortzuführen wie es weitergeht, oder? Doch nun muss ich
Schluss machen, wertes Tagebuch, der Aufseher mit der Elektropeitsche
(beeindruckendes Stück, Aimlabs 30.000,- Euro) schreit und ich muss den
dotcom.com Chemie Raffinerieprozessor (150.000 Euro, gefasst in elegantem
Edelstahl) warten.
2.
Oktober:
Ich
werde die Innenpolitik wieder schriftlich festhalten: Guy hat nun etwas
erweiterte Rechte und wollte sich als Statthalter seiner Stadt vom Papst zum
Kaiser aller Bürger krönen lassen. Der Vatikan lehnte es ab, Guy an einer
solchen Würdigung teilhaben zu lassen. Guy drohte daraufhin den Papst zu
erschießen. Spezialeinheiten unserer verstärkten Exekutivgewalt begaben sich
bereits in den Vatikanstaat. Ich frage mich, ob ich Satan töten kann, wie Peter
Main in Dino Island. Apropos Satan: Harvey Andrews, jener Mann, den ich aus
seinem Exekutivposten entlassen habe, wurde zu dem Aufseher meines Sektors
ernannt. Der Mann versteht es wirklich, mit seiner Elektronenpeitsche umzugehen
und schlug mich schon mehrmals halbtot.
Die
Elektronenpeitsche, die wie schon erwähnt von Aimlabs, einem großartigen
skandinavischen Waffenherstellers gefertigt wurde, zählt zu den Meisterwerken
europäischer Handwerkskunst: Durch individuelle regelbare
Elektronenbeschleunigung kann dieses Instrument eine Spannung bis 1000 Volt
freisetzen, kombiniert mit einer konfigurierbaren Stromstärke bis zu 32 Ampere.
Die Elektronenpeitsche, erstmals vor 50 Jahren in Serie gefertigt, wird vor
allem von Polizeieinsatzkräften als sinnvolle Alternative zum Schlagstock
genützt, ist es doch mit ihr auch möglich, gewaltige Schmerzen zu verursachen,
die auch mit dem Tod enden können. Ein Wahnsinnsgerät!
4.
Oktober:
Mein
sehr geehrtes, hochgeschätztes Tagebuch, ich habe dich davon in Kenntnis zu
setzen, dass unser hochgeschätzter Freund, Harvey Andrews, ehemals glorreicher
Stadtpolizist, durch einen aufs Äußerste tragischen Vorfall leider nicht mehr
unter den Lebenden weilt. Überraschenderweise bin ich jetzt zum neuen Sektionskommandant
erwählt worden. Die chemische Einrichtung ist der Horror. Es ist schrecklich.
Und es ist furchtbar leicht, hier an Waffen zu kommen. Die Aufseher? Es
interessiert sie nicht. Es wird sie aber noch interessieren. Denn in meinem
neuen Amt habe ich beschlossen einige Reformen durchzusetzen. Erstens finde ich
die Elektronenpeitsche zwar eine wunderbar handwerklich gefertigte Waffe, aber
kein Mittel um gegenüber den Arbeitern seine Interessen durchzusetzen. Ich
greife deshalb mittlerweile lieber auf Erzeugnisse der Firma Equitex zurück.
Equitex
ist ein inoffizieller Waffenlieferant an cleancitizen.com. Guy erschoss mich
mit einer Equitex-Kugel und ich muss mich immer noch bewundernd über die
großartige Qualität der Erzeugnisse von E-Tex, wie Waffenliebhaber die Firma
liebevoll nennen, aussprechen.
10.
Oktober:
Es
ist mir mittlerweile gelungen, eine doch angemessen große, mir treu untergebene
Arbeiterschar um mich zu sammeln. Manche folgen mir sogar freiwillig. Andere
machte ich folgen. Wiederum andere durften sich von der großartigen Qualität
von E-Tex Erzeugnissen überzeugen. Meine angemessen große Anhängerschaft,
bestehend aus faktisch jedem Mitarbeiter dieser großartigen, uns Arbeit
schenkenden Firma, hat beschlossen, eine autonome Chemiefabrikregierung
auszurufen, mit mir als legitimen König auf Lebenszeit an der Spitze. Arbeiter
aller Welt lasset euch unterdrücken!
20.
Oktober:
Smithee
& Smythe, ein Bestattungsunternehmen, das zu Beginn dieses Jahrhunderts
ganz groß wurde, ist eigentlich anfänglich auf eine Online-Domäne
zurückzuführen. Smythe.co.jp verkaufte seinerzeit vertikalen Bestattungsplatz
an die obersten Zehntausend dieser Stadt, da aus der bereits existierenden
Wohnungsnot noch dazu eine Bestattungsplätzenot hervorgegangen war. Nicht dass
sich die Leute deswegen verbrennen hatten lassen. „Nein Verbrennen, wie
furchtbar, man kann doch nicht den Toten ihren letzten Wunsch nehmen, das geht
doch nicht, man muss sie schon im Armani Anzug bestatten!“. Das ist eine
Haltung, die aus meiner Sicht verständlich ist. Jedenfalls wurde Smithee &
Smythe durch ihre innovative Begräbnistechnologie, die auf dem bisher nie der
Öffentlichkeit preisgegebenen Körperkompressionsverfahren basiert, ein ganz
großes Ass im Bestattungsbusiness. Vor allem ihre schnelle IntelliDig®
Technologie ermöglichte damals, beim großen Arbeitermassaker, das schnelle und
effiziente Anlegen von Massengräbern. Nun sind sie Weltmarktführer sämtlicher
Bestattungsfirmen, obwohl cleancitizen.com 51% ihrer Aktien besitzt. Warum
erzähle ich dir das, mein hochgeschätztes Tagebuch? Nun, Smithee & Smythe
haben einen Exklusivvertrag mit mir und meiner Arbeitergang® abgeschlossen, die
das Beseitigen sämtlicher, bei unseren diversen Aktionen anfallenden Totkörpern
(Leichen), garantiert. Smithee & Smythe ist davon überzeugt, dass, wenn sie
unseren Exklusivvertrag 2 Jahre lang halten könnten, 75% ihrer Aktien
zurückkaufen könnten. Allerdings würde die Population in unserer so schrecklich
schlimmen Chemieraffinerie bei ungefähr minus 10 hoch neun Personen liegen.
22.
Oktober:
Die
Chemieraffinerie ist nun okkupiert, die autonome Regierung der Arbeitergang®
wurde ausgerufen. Erste Reaktion der Regierung von Guy Leary: Sie erkennen
unsere Regierung nicht an, Exekutivtruppen wurden entsandt, um uns in unseren
„Grundfesten zu vernichten“ (frei nach Guy Leary). Die Aktienkurse: Ipox
(Wissenschafts- und Chemieindex) um 50 Punkte gefallen, Equitex 222 Punkte
hinauf, Smithee & Smythe 968 Punkte hinauf (liegen bei 2345% ihres
vorherigen Kurses). Die Government Aktie hat den tiefsten Stand seit 15 Jahren.
23.
Oktober:
Die
Regierungsattacke wurde erfolgreich abgewehrt, das Milizsystem bleibt in
unserer Arbeitergang® vorerst erhalten. Ich habe angeordnet, dass sämtliche
Gefangenen sofort standrechtlich erschossen werden, um ein Exempel zu
statuieren. Smithee & Smythe verfeinerten aufgrund zahlreicher
Forschungsmöglichkeiten ihr IntelliDig® System, ihre Aktien sind noch einmal
rauf.
24.
Oktober:
Wir
haben jetzt 1365 Exempel statuiert, ich glaube Guy weiß jetzt, dass wir es
ernst meinen. Wir statuieren aber trotzdem weiter. Smithee & Smythe sind
sehr zufrieden mit unserem Kooperationsabkommen, IntelliDig® Version 2.0 ist
jetzt fast fertig entwickelt. Nach Eigenaussage benötigt Smithee & Smythe
benötigt nach Eigenaussage nur mehr „ganz wenige Versuchsobjekte“. Wir drücken
ganz wenige Versuchsobjekte in Zehnerpotenzen aus.
26.
Oktober:
Guy
Leary büßt in seinen Umfragewerten ein. Einige Teile der Bevölkerung erinnert
seine Politik der Demokratievereinfachung zu sehr an Hardliner.
Cleancitizen.com hat einen Teil seiner Public Relations übernommen, der
zuständige Angestellte nennt sich selbst Propagandaminister. Untermalt wird
die, übrigens sehr überzeugende, Werbekampagne von klassischer Musik, wie New
Order. Sämtliche Mitglieder der Stadtkonferenz wurden wegen
regierungsfeindlicher Maßnahmen vor Gericht gestellt und innerhalb von 10
Minuten zum Tode verurteilt. Diese Ineffizienz hätte ich Guy Leary nicht
zugetraut, ich meine, wozu braucht er als Regierungschef dieser Stadt noch
Gerichtsverhandlungen. Ich hätte gleich Smithee & Smythe gerufen. Wir
machen hier inzwischen Fortschritte: 20% der Straßen sind okkupiert, es kommt
zu Straßenschlachten, meine Männer sind dazu aufgerufen immer daran zu denken:
Wer davonläuft ist ein Regierungsbeamter. Wer stehen bleibt ist ein
disziplinierter Regierungsbeamter. Diesen Satz habe ich frei aus einem alten
Kunstwerk der non-digitalen Ära übernommen, Full Metal Jacket. Guy Leary
bat den Präsidenten um die Entsendung von Hilfstruppen. Statement des
Präsidenten: Es interessiert ihn nicht. (Eigentlich: Das ist nicht mein Bier!)
Meine Wissenschafter verrichten inzwischen gute Arbeit in der Erforschung von
Massenvernichtungswaffen.
29.
Oktober:
Ich
habe heute mit meiner Arbeitergang® die untersten Etagen des
Stadtkonferenzsaals eingenommen. 50% der Stadt befinden sich jetzt unter
unserer Kontrolle, wir rekrutieren regelmäßig Soldaten aus der Bevölkerung.
Manche folgen uns sogar ohne Gegenwehr. Außerdem haben wir jetzt einen datanet
Satelliten unter unserer Kontrolle, cleancitizen.com hat uns bereits einen
friedlichen Ausgleich vorgeschlagen. Wir haben uns inzwischen darauf
beschränkt, nur den Mittelsmann unsere Wut spüren zu lassen.
10.
November:
Heute
war der Tag, an dem meine finaler Wunsch erfüllt wurde. Ich stand Guy Leary
höchstpersönlich gegenüber, Equitex Equipment im Anschlag, willig mein Vorhaben
zu Ende zu bringen. Ich versuche jetzt den Hergang des heutigen Duells
möglichst der Wahrheit gemäß zu beschreiben.
Ich
betrat den wunderschönen Stadtkonferenzsaal, bewunderte die
Glasbetonarchitektur, die Facetten des gebrochenen Lichtes, die eine
wunderschöne Schatten- und Lichtkomposition auf den Ebenholzverkleidung des mit
Technologie von Progressive Technologies Inc. ausgestatteten Podiums
verursachte. Und ich sah einen blauen Himmel! Es war wunderschön, ich wusste
sofort, dass hier der Platz war, an den ich hingehörte, dass dies der Platz
war, von dem aus ich regieren sollte. Nur ein Schandfleck, eine Verschmutzung,
ein Störfaktor störte des harmonische Bild von wunderschöner Architektur,
untermalt von dem, was von der Umwelt übrig war: Guy Leary. Ich begann also
mein Wort zu erheben.
„Bellerophon.“
„Ich
dachte die Schimäre wäre besiegt, ich dachte Ihr wäret tot!“
„Versuchet
da Bellerophon nicht mit Pegasus den Olymp hinaufzureiten?“
„Und
Ihr sollet mich davon abhalten? Und Ihr sollet mich bremsen? Ihr erhebet Euer
Schwert gegen mich?“
„Ich
bin die Fliege, die Pegasus stechen soll. Ich bin die Macht, die Bellerophon
aufhält. Ich bin Euer Nemesis, der Inhalt Eurer dunkelsten Träume, Eure Apocalypse
Now, Euer Ende!“
Und
ich erhob mein Schwert gegen Bellerophon, das in Platin gefasste Edelschwert
von Equitex und begann zu richten. Und ich ließ sprechen meinen Hass, mein
geballter Zorn rieselte in Feuerblitzen auf Bellerophon herab, meine
Kometenschar zerstörte sein Gebilde aus Macht. Und Bellerophon, in einem
letzten verzweifelten Versuch, seine Seele zu retten, griff zu seinem Schwerte
und ließ sprechen das, was von seiner Macht übrig war. Und ich wehrte seinem
Angriff und Heerscharen meiner Armee (Arbeitergang®) fielen ein in sein Land,
ergriffen seine Waffen. Da sah Bellerophon, dass es zu spät war für seine Seele
und in seinem endgültig letztem Versuch der Selbstrettung ging Bellerophon
zugrunde, ging ein die ewig brennenden Feuer der Hölle, die in erwarteten, dort
wo auch ich einst hingehen werde, denn jetzt, wo ich Kaiser dieser Stadt bin,
wird mein untertäniges Volk vor meiner Macht zittern.
Bemerkung:
Am 10.
November starb Donald Hykes in einer cleancitizen.com Chemiefabrik an schweren
Halluzinationen, die Besitz von ihm ergriffen hatten.
Der
geneigte Leser fragt sich jetzt natürlich, was von dem Erzählten dann
eigentlich wahr und was der Fantasie des Protagonisten entsprungen war. Das
bleibt dem Leser überlassen. Denn schließlich ist dieses Manifest ganz und gar
zynisch.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Thomas Zangerl).
Der Beitrag wurde von Thomas Zangerl auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.10.2001.
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von Robert Soppa
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