Thomas Zangerl

Das zynische Manifest

 „Achtung, Achtung, an alle guten Bürger dieser Stadt: Eine Säuberung wird in den nächsten 20 Minuten stattfinden. Bitte halten Sie Ihre Gehaltsnachweise bereit.“

Diese Stadt ist nur eine Mischung von Abschaum und Dreck. Gehaltsnachweise. Ich bin der verdammte Bürgermeister dieser verdammten Stadt. Wer würde wohl von mir einen Gehaltsnachweis fordern?

„Entschuldigen Sie?“

„Wer, ich?“

Eine Polizeieinheit taucht hinter meinem Rücken auf, hält mir den kalten Stahl einer halbautomatischen Waffe in das Genick und bedeutet mir, mich langsam umzudrehen.

„Könnte ich Ihren Gehaltsnachweis sehen?“

Ich wende mein Gesicht aus dem Schatten, der es bis dahin bedeckte dem Polizisten zu. In meinem Mund steckt eine Havanna, wie sie heute nur noch selten produziert wird, eine einzelne Zigarre, die 300.000 Euro wert ist. Nicht dass der Euro noch etwas wert wäre, zu sehr hat ihm die Inflation, die diese Arbeitslosen, die von der Säuberung gefährdet ist, verursacht haben, geschadet. Aber für 300.000 Euro erhält man immerhin noch einen kleinen Neuwagen. Oder eine Havanna.

Mein Gesicht ist jetzt zur Hälfte mit einem, durch die unendlichen Häuserschluchten meiner   gottverdammten Stadt  fallenden, Lichtstrahl bedeckt, so dass meine Gesichtszüge klar erkenntlich sind.

„Grüß Gott, Herr Bürgermeister. Entschuldigen Sie vielmals. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Es tut mir wirklich furchtbar leid.“

Ich paffe an meiner Havanna, nehme Sie aus dem Mund, lasse sie auf den Boden fallen und zertrete sie mit meinen Krokodillederstiefeln.

„Name?“

„Herr Bürgermeister, bitte, nein!“

„Name!“

„Harvey Andrews.“

Ich ziehe mein Mobiltelefon, neueste Generation, Übertragungsrate was-weiß-ich-wieviele Terrabytes pro Sekunde, Stimmidentifikationssystem, Satellitenkommunikation möglich, synthetischer Fingerabdruckscanner und Simultan-Sprache-zu-Text und Text-zu-Sprache Umwandlung, 1.000.000 Euro bei einem Internet-Discounter, ein echtes Schnäppchen.

„Jonathan?“

„Grüß Gott Herr Bürgermeister. Nett wieder einmal von Ihnen zu hören.“

„Hör zu, ich habe hier einen Exekutivbeamten, einen gewissen Harvey Andrews.“

„Einer meinen zuverlässigsten und besten Beamten. Was ist mit ihm?“

„Schmeiß ihn raus!“

„Was? Wieso, Herr Bürgermeister, ich verstehe nicht? Sie verlangen von mir, einen meiner besten Männer zu kündigen?“

„Schmeiß ihn raus oder du fliegst raus.“

„Jawohl Herr Bürgermeister!“

Harvey starrt mich an. Ich strecke meine Handfläche aus und bedeute ihm, mir seine Dienstmarke und seinen Gehaltsnachweis zu geben.

„Tut mir leid, Harvey, das ist echt ein sehr schlechter Tag für dich.“

„Jawohl, Herr Bürgermeister.“

„Socialnet.gov oder cleancitizen.com wird sich um dich kümmern.“

„Jawohl, Herr Bürgermeister.“

Er zieht seine Dienstmarke aus der Befestigung von seinem Gürtel und überreicht sie mir. Ich nehme auch seine Identifikationskarte entgegen und stecke sie in das Kartenlesegerät meines Palmtops, von dotcom.com, 2.000.000, - Euro, ein echtes Schnäppchen. Einige unwichtige Informationen über vorhergehende Dienste, Beförderungen, Familienstatus und Konsumgewohnheiten erscheinen auf dem Display. Ich wechsle in den Ordner, der den Gehaltsnachweis enthält und korrigiere den Wert auf 0,- Euro monatlich. Eine datanet Satelliten-Dial-up Verbindung erlaubt es mir vor Ort socialnet.gov zu kontaktieren, um eine weitere Säuberung vorzunehmen.

Ich zünde mir mit meinem Feuerzeug, einem wirklichen Prachtstück aus einer Gold-Platin Legierung, in großen Lettern „City Hall“ eingraviert, eine weitere 300.000 Euro Havanna an.

„Weißt du, Harvey, heute ist wirklich ein fantastischer Tag. Erstens habe ich heute eine neue Lieferung dieser wunderbaren Havannas erhalten und einer meiner Gesetzesvorschläge wurde heute von dem Stadtrat angenommen.“

Harvey steht vor mir, ein weiteres Individuum, dessen Existenz soeben vernichtet wurde und dass nun vor dem Abgrund steht, alles verloren hat, mit einem bitteren halbzynischem Lächeln im Gesicht, melancholischer Ausdruck in den Augen.

„Ich habe socialnet.gov bereits kontaktiert. Du solltest mir dankbar sein. Das verhindert, dass du cleancitizen.com in die Hände fällst.“ 

Ein Ausdruck echter Dankbarkeit überfliegt in einen kurzen Moment lang sein erbittertes Gesicht. Doch schon treffen Säuberungsbeauftragte von socialnet.gov ein, die unseren kleinen, einst so großen socialnet.gov Polizisten in Gewahrsam nehmen. Elektrische Fußfesseln. Handschellen. Entfernen der Auszeichnungen und Dienstmarken. Harvey wird in den socialnet.gov Helikopter verladen, zwei Sicherheitsbeamte links und rechts von ihm. Harvey hatte jeden Grund mir dankbar zu sein. Socialnet.gov ist der offizielle, staatliche Säuberungsdienst, der dieses arbeitslose Gesocks vor sich und uns vor denen schützt. Socialnet.gov hat sich um alle jene zu kümmern, die keinen oder einen nur unzureichenden Gehaltsnachweis vorzuzeigen haben. Ich, als Bürgermeister, bin in dieser Zeit der mächtigste Mann dieser Stadt, habe die oberste Position in der Gesetzgebung, bin Oberkommandant der Exekutive und habe als oberster Rechtssprecher die Judikative in der Hand. Mich schützt meine Immunität vor solchen Kontrollen und unser kleiner Harvey ist leider ein wenig zu frech gewesen. Trotzdem muss er mir dankbar sein, dass ich socialnet.gov kontaktiert habe, ansonsten wäre er eventuell in die Hände von cleancitizen.com gefallen, eine Firma, dessen Standort niemand wirklich kennt, die einige Regierungsbeamte und sogar mich, den mächtigsten Mann dieser Stadt, auf der Gehaltsliste hat, um neben socialnet.gov ihre eigenen Säuberungen durchführen zu können und die Gefangenen für ihre eigenen Zwecke verwenden zu dürfen. Was sie genau mit ihnen machen, hat nie jemand gefragt. Es wollte auch nie jemand wissen. Es geht auch mich nichts an, schließlich sorgt cleancitizen.com für ein monatliches Einkommen von 10.000.000 Euro für unseren hochgeschätzten Herrn Bürgermeister. Warum sollte ich also nachfragen? Details interessieren mich nicht.

Ich betrete den Stadthelikopter, der mich in meine Residenz, die in den Rathauskomplex integriert ist, bringt. Jennifer, meine Sekretärin, die sich vor und auf dem Schreibtisch bewährt hat, wartet darin bereits auf mich.

„Wie geht’s dir, Süße?“

„Herr Bürgermeister, das ist jetzt wirklich der falsche Zeitpunkt.“

„Wann der falsche Zeitpunkt ist, bestimme immer noch ich!“

„Ich habe wirklich etwas wichtiges mit Ihnen zu besprechen.“

„So wichtig kann es gar nicht sein. Ich befinde mich in meiner Freizeit. Ich möchte zuerst zu meiner Residenz geflogen werden und bespreche dann alles mit dir während der Konferenz.“

Der Hubschrauber hebt ab, steigt in die Höhe und bietet einen wundervollen Ausblick auf die Skyline meiner Stadt, deren Stahlbeton Wolkenkratzer die letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne reflektieren und die Stadt in ein schimmerndes Orange tauchen.

Jennifer reißt mich aus meinen Gedanken.

„Das was ich mit Ihnen zu besprechen habe kann leider nicht bis zur Konferenz warten.“

„Was ist Jennifer? Ich warne dich, wenn es nicht wichtig ist...“

„Es sind da bestimmte Gerüchte im Umlauf.“

„Ich bin der Bürgermeister. Es gibt da immer Gerüchte über mich, Baby.“

„Es sind aber schlimme Gerüchte!“

„Was ist es? Das mit der Affäre mit dieser Schauspielerin?“

„Bestimmte Elemente behaupten, sie würden auf der Gehaltsliste von cleancitizen.com stehen.“

„Der gesamte Regierungsapparat steht auf der Gehaltsliste von cleancitizen.com.“

„Von einem Mann in Ihrer Position erwartet man so etwas aber nicht.“

„Der gottverdammte Präsident steht auf der Gehaltsliste von cleancitizen.com! Warum sollte ich so etwas nicht dürfen?“

„Sie wissen genau, dass die lokalen Bürgermeister in unserem föderalistischen System mehr Macht haben als der Präsident.“

„Das reicht. Du bist gefeuert.“

Ich ziehe meinen dotcom.com Palmtop aus der Jackentasche und verfüttere erneut eine Identifikationskarte.

„Socialnet.gov wird dich nach der Landung des Hubschraubers in Gewahrsam nehmen.“

„Sie können sich Ihre zynische Art sparen. Vielleicht sind Sie der Nächste.“

„Das reicht, du Schlampe. Wenn du nicht sofort die Klappe hältst, dann verliere ich vielleicht die Geduld und erlaube cleancitizen.com dich in Gewahrsam zu nehmen.“

Die kleine Schlampe scheint zumindest eingeschüchtert zu sein und hält jetzt die Klappe. Ungeduldig klopfe ich auf die Abgrenzung zwischen dem Piloten und mir.

„Geht es nicht ein wenig schneller? Abgeordneter Leary wartet schon auf mich.“

Der Pilot legt mir GPS Navigationsdaten auf den Bildschirm, die unsere derzeitige Position und Route anzeigt. In der rechten, unteren Ecke des Plasmabildschirms läuft eine kleine Werbedokumentation über Fusionen und den Werdegang von cleancitizen.com. Cleancitizen.com ist heute die mächtigste und reichste international agierende Firma. Offiziell ist sie ein Public-Relations und Management Betrieb für einige der Firmen mit denen sie in den letzten Jahrzehnten fusioniert ist: Prominenteste Beispiele sind datanet, der weltweit größte Satelliten Handy-, Internet-, Kommunikations- und Fernsehbetreiber und dotcom.com, die größte und nobelste Einkaufsmeile, die diese Welt zu bieten hat. Inoffiziell besitzt cleancitizen.com aber auch noch große Anteile an der Progressive Technologies Inc. Gruppe, zu der unter anderem der Software Gigant Nanosoft, der Prozessor Hersteller Intelligent Genius sowie große Multimedia- und Technologiehersteller gehören, wie in etwa VJC, Phony, NAudia oder Hewings-Package. Bisher unbestätigt ist das Gerücht, cleancitizen.com würde auch sehr gute Beziehungen zu den entsprechenden Abteilungen der Regierung unterhalten, deren Kontrolle die Aktivitäten von Überwachungssatelliten unterliegen. Der Werbesprecher, ein bekannter Talkshow Moderator namens Oliver Silvers, interpretiert die Firmenhistorie von cleancitizen.com gerade auf seine Weise:

„Cleancitizen.com und datanet machen aus Ihrem Handy einen internetfähigen Organizer, der dank Satellitenverbindung weltweite universelle Verwendung findet. Cleancitizen.com macht mit Hilfe von datanet Ihren Fernseher zu einer universellen Kommunikationszentrale, die es Ihnen erlaubt, Ihre Geschäftsverbindung per Konferenzschaltung bequem von Ihrem Wohnzimmersessel aus zu erledigen. Cleancitizen.com erlaubt Ihnen in Kooperation mit dotcom.com weltweiten Zugriff auf das riesige Sortiment der größten Shoppingzentrale der Welt. Cleancitizen.com...“

Der Werbesprecher wird von einer Stimme seitlich von mir unterbrochen.

„Donald! Lange nicht gesehen, was?“

Während ich in meinen Gedanken versunken war habe ich gar nicht bemerkt, wie der Helikopter auf dem Dachlandeplatz des 560m hohen City Hall Gebäudes gelandet ist. Jäh unterbrochen wurde ich von jenem Mann, der sich die besten Chancen ausrechnen kann, nach meinem Ableben der neue Bürgermeister dieser Stadt zu werden. Guy Leary, Sauber- und Strahlemann und in der letzten Ausgabe des „People“ Magazins zu den 100 erfolgreichsten jungen Menschen des vergangenen Jahrzehnts gezählt, strahlt er mich jetzt mit seinem typisch zynisch-charmanten Lächeln an.

„Guy Leary, du alter Halunke! Ich möchte wetten, du freust dich bereits darauf, in der Stadtratskonferenz in...,“ ich betrachte meine Uhr, „10 Minuten die gesamten Oppositionsparteien wieder einmal zu vernichten.“

„Das Tolle ist, dass wir als Partei mit absoluter Mehrheit das sagen können, was wir wollen. Ich meine, wen interessiert schon die öffentliche Meinung.“

Hinter vorgehaltener Hand sagt er mir leise ins Ohr:

„Wahlen sind schließlich dazu da, manipuliert zu werden.“

Jetzt wechselt er wieder in seinen typisch lauten und dominanten Tonfall:

„Es heißt Laura McCarthy hätte wieder etwas gegen dich in der Hand. In einem Interview mit den times.com behauptete sie, es würde Potenzial dazu haben, stark an deinem Machtgefüge zu rütteln. Übrigens, nette Uhr. Wie viel hat die gekostet?“

Wir betreten nun den riesigen, marmorverkleideten Gang, der in griechisch-antikem Stil mit korinthisch anmutenden Säulen erbaut wurde. In klarem, fast unangenehmen Kontrast dazu steht die Glasbeton Bauweise des nachfolgenden Raumes, der den Übergang vom pompösen Gang zu dem Stadtratskonferenzraum bildet. Allerlei technischer Schnickschnack wie Metalldetektoren oder Überwachungskameras bildet hier das Mobiliar. Guy und ich nehmen jedoch den Eingang für Abgeordnete, was uns die Sicherheitsvorkehrungen erspart.

„Laura McCarthy hatte die letzten fünf Jahre etwas gegen mich in der Hand. War ein Versuch, meine Macht auch nur anzukratzen jemals erfolgreich? Nein! Wenn die so weitermacht, dann ist sie ein Fall für socialnet.gov. Ich weiß leider nicht, wie viel diese Uhr gekostet hat, weil sie ein Geschenk meiner lieben Ex-Frau war, aber ich habe sie bei dotcom.com um 750.000 Euro gesehen.“

„Ach ja, wie geht’s deiner neuen Sekretärin, Jessica?“

„ Eigentlich Jennifer und alte Sekretärin. Socialnet.gov.“

„Jetzt einmal langsam, Mann. Du gewinnst noch unsere kleine Wette, wer diesen Monat mehr Sekretärinnen in soziales Elend stürzt.“

„Ich arbeite daran.“

Wir betreten nun den Stadtratskonferenzsaal, der sich ähnlich wie der Sicherheitsraum zum größten Teil mit Glasbeton präsentiert, der einen wunderbaren Ausblick auf den Himmel offeriert. Manche Leute sagen, der Stadtratskonferenzsaal wäre, als höchstgelegener Raum des höchsten Gebäudes der Stadt, der einzige Punkt in meiner Stadt, von dem aus der Himmel noch blau erscheinen würde. Cleancitizen.com hat sich bereits den meisten von ihnen angenommen. Guy und ich sind wohl etwas zu spät dran, da alle Abgeordneten unserer kleinen Stadtkonferenz bereits auf uns warten. Als wir den wundervollen, von einigen französischen Innenausstattern designten Raum betreten, von dem aus der Himmel blau wie immer erscheint, haben sich alle Abgeordneten bereits eingefunden. Laura McCarthy positioniert ihre korpulente Leibesfülle inmitten dieses Gemisches aus Fett und Arroganz. Ich bin nicht fett. Ich frage mich, was dieses alte Problem schon wieder gegen mich in der Hand haben könnte. Jedenfalls fuchtelt sie jetzt wie wild mit ihren anmutig mit ihren graziösen Händchen, die mich an Elefantenpfoten erinnern und deutet auf mich. Der Konferenzleiter, ehrfurchtsvoll „Sprecher“ genannt, erhebt das Wort, der alte Sack. Guy und ich sind nicht alt. 

„Aufgrund aktueller, nach Dringlichkeit rufender Ereignisse, schlage ich vor, mit der Sitzung sofort zu beginnen.“

Das erregt nun doch meine Aufmerksamkeit. Der Alte hat schon seit Jahren nicht mehr von „nach Dringlichkeit rufender Ereignisse“ gesprochen. Ich meine, es gibt da schon soziales Elend (oder so) und ich glaube vielleicht sogar Armut oder Kriminalität und irgendwie irgendwo auf der Welt, ABER NICHT IN MEINER STADT, bringen sich gerade Tausende von Menschen um. Als ob es jemanden interessieren würde. Allerdings, die letzten „nach Dringlichkeit rufenden Ereignisse“ wurden bei der letzten Politikergehaltskürzung ausgerufen. Tragische Geschichte war das. Ach ja, und letztes Jahr, als bei einer Massendemo im 20. Stadtbezirk 10.000 socialnet.gov Arbeiter „bei einem tragischen Unfall ums Leben kamen“. Als ob es jemanden interessieren würde.

„Abgeordnete McCarthy, wenn Sie bitte gleich mit Ihrem Anliegen beginnen würden.“

Ich blicke auf meine zugegeben nicht ganz billige Uhr und gähne. Ich habe das plötzliche Verlangen den Saal zu verlassen. Unsere ebenso wohlbeleibte wie unbeliebte Abgeordnete betritt nämlich gerade das mit diversen Computersystemen ausgerüstete Podium, die Schallamplitudenverstärkung stammt von Progressive Technologies Inc., von Steuergeldern finanziert, von mir ausgewählt.

„Ich adressiere meine heutige Rede an Bürgermeister Donald Hykes.“

„Oui, oui, mon amour, c’est comme toujours.“

Dieser böse alter Spreche, dessen Anblick mich eher als dessen Auftreten beunruhigt funkelt mich böse an.“

„Auch Sie, Herr Bürgermeister, sprechen erst, wenn ich Ihnen das Wort erteile.“

Was glaubt dieses Relikt eigentlich, wer er ist? Nach meiner „demokratischen Impositionierung“ in das Amt eines auf Lebenszeit gewählten Volksvertreters werde ich mich seines Schicksals und dem von Abgeordneter McCarthy annehmen, d.h. in die richtige Bahn lenken. Guy Leary brauche ich dazu nicht mehr. Stichwort: Straßenkehrer. Er darf dann Abgeordnete McCarthy zusammenkehren. Aber zuerst muss ich mir noch die Rede dieses Wahlrosses anhören.

„Bürgermeister Hykes, bestreiten Sie, bestimmte Verbindung zu cleancitizen.com zu haben?“

„Wer hat das nicht? Meine Frau kauft dort und bei dotcom.com meine Weihnachtsgeschenke.“

„Ich spreche eher von geschäftlichen Verbindungen.“

„Wenn meine Frau dort etwas kauft, dann sind das geschäftliche Verbindungen.“

„Ich spreche von illegalen geschäftlichen Verbindungen.“

Ein Raunen geht durch den Konferenzsaal, einige Abgeordnete beraten sich und tuscheln. Mir jedoch kann nichts passieren. Unser zukünftiger Straßenkehrer sollte vollends hinter mir stehen. Der alte Sack erhält Schmiergelder. Leary darf McCarthy vielleicht schon früher von der Straße putzen, als ich dachte. Die ehrenwerte Gesellschaft, übrigens auch zu einem nicht zu bestimmenden Teil in cleancitizen.com integriert, wird sich um dieses geringfügige Problem kümmern. Der alte Sack beginnt zu sprechen.

„Das sind direkte Anschuldigungen, die Sie da gegen Bürgermeister Hykes hervorbringen und nicht zulässig, Abgeordnete McCarthy.“

Die Schmiergelder für den Alten hatten sich gelohnt. Er stand voll hinter mir.

„Sehr geehrter Herr Sprecher, ich habe aber Beweise gegen Bürgermeister Hykes vorzulegen. Dieses Videodokument, aufgezeichnet von Progressive Technologies Inc., belegt mehrmalige Videokonferenzen von Mr. Hykes mit cleancitizen.com und unbegründete Geldüberweisungen von cleancitizen.com an Mr. Hykes. Allerdings sollten wir uns den Inhalt jener Videokonferenzen ansehen.“

„Abgelehnt, Abgeordnete McCarthy. Es liegt kein Grund vor, so vorzugehen.“

Der Sprecher, ist alt aber gut. Ich würde seine Gehaltsaufbesserung ab jetzt noch verstärken. Natürlich begibt er sich damit in direkte Gefahr, weil sich seine Argumentation jenseits der Möglichkeiten derzeitiger legaler Mittel war. Aber das konnte sich ja bald ändern...

„Sehr geehrter Herr Sprecher, es gibt meiner Ansicht nach sehr wohl einen Grund so vorzugehen.“

„Setzen Sie sich, Abgeordnete McCarthy, sie erhalten Sprechverbot.“

Ich will jetzt natürlich nicht erwähnen, wie viel Geld unser Sprecher von uns erhält, aber es ist genug. Wir erhalten das Geld von cleancitizen.com und geben 10% davon an ihn weiter. Und das ist eine unvorstellbare Summe. Natürlich kann er da alles auf eine Karte setzen.

Ein Abgeordneter erhebt sich um sein Wort zu erheben.

„Ich glaube nicht, dass das zulässig ist, Herr Sprecher.“

„Ruhe im Konferenzsaal. Ansonsten werde ich die Sitzung vertagen.“

„Das ist nicht zulässig, Herr Sprecher. Das könnte für Sie einen Misstrauensantrag bedeuten.“

Guy Leary, mein guter Freund, erhebt sich, klopft mit dem Finger auf den Tisch, woraufhin sich der gesamte Saal ihm zuwendet, in Erwartungshaltung, ein Misstrauensantrag, der nur durch den Bürgermeister, oder dessen Stellvertreter, der in diesem Fall eben besagter Guy Leary wäre, würde folgen. Langsam wendet er sich dem Abgeordneten zu.

„Setzen Sie sich!“

„Was?“

„Setzen Sie sich!“

„Das werde ich nicht tun.“

„Okay.“

Er greift in die Innentasche seines Armani Jacketts und zieht eine 9 mm Projektilwaffe aus der Innentasche. Nun ja, Politiker müssen nicht durch die Sicherheitskontrollen. Schade. Der Saal bricht in Panik aus, Abgeordnete ducken sich unter ihre Tische weg, Mikrofone werden umgeworfen, der alte Sack hält sich schützend die Hände vor die Augen, Laura McCarthy bezieht zitternd Deckung unter ihrem Podium. Sie erwarten, dass die Sicherheitsbediensteten uns erschießen würden oder so, doch sie tun es nicht. Die beiden Sicherheitskräfte stehen da, Sonnenbrillen an, Shotguns gesichert und entladen stehen am Boden. Es interessiert sie nicht. Geld interessiert sie.

Guy Leary zielt mit der Halbautomatik quer durch den Konferenzsaal. Überall zitternde, feige, dumme Politiker unter ihren Tischen und Podien, Schutz suchend, ängstlich. Er könnte ja schießen. Nur wir beide, wir stehen noch, wir sind die last men standing und blicken auf dieses unwürdige Gewürm hinab. Was wollen die eigentlich? Guy Leary beginnt durch den Saal zu rufen.

„Ich will ja niemanden erschießen.“

Einige Abgeordnete blicken ängstlich über die Podiumskante hervor. Zwei widerhallende laute Töne aus seiner Projektilwaffe, rote abstrakte Striche kleiden einen Teil eines Mikrofons, rote Flüssigkeit auf dem Boden, der Abgeordnete, der den Misstrauensantrag stellte spricht nicht. Nie mehr.

„Aber ich muss.“

Ich glaube, nun haben alle erkannt, wie ernst die Lage ist und ich bin Guy sehr dankbar, dass er eine sehr sinnvolle Aktion übernimmt. Zwei kurze, schnelle Druckausübungen mit dem Zeigefinger befreien uns von Laura McCarthy. Ein roter Lebenssaft benetzt die Mikrofone und die Bildschirme oberhalb des Podiums. Angesichts solch furchtbarer Ereignisse schreie ich zu Guy.

„Das ist von Progressive Technologies Inc.! Pass gefälligst auf, wo diverse Körperflüssigkeiten hinspritzen, weißt du eigentlich, was diese Technologie kostet? Wir müssen den Körper von dieser Schlampe sofort hier wegschaffen, bevor das Blut in die Bildschirme sickert und die Schaltkreise zerstört.“

Ich glaube, dem Alten geht das jetzt alles ein wenig zu weit, er streckt eine Hand nach oben, resignierend und wendet sich an Guy und mich.

„Das geht eindeutig zu weit! Von Schusswaffen und Toten war nie die Rede!“

Guy wirkt mittlerweile sichtlich genervt, indifferent und gelangweilt.

„Ah, shut up!“

Das Magazin ist um zwei weitere Kugeln leichter, die Situation im Saal könnte mittlerweile als angespannt bezeichnet werden. Guy sollte mit seinem Magazin wirklich etwas mehr haushalten. Es bleiben nur mehr 11 von 17 Kugeln übrig und wer weiß, wer sich noch alles in den Weg stellt. Er sollte wirklich etwas sparsamer sein. Eine, aber dafür gezielte, Kugel reicht doch. Jedenfalls ist unser vormalig bestochener Sprecher jetzt so ruhig wie nie zuvor. Vielleicht würde er jetzt fragen: „Warum?“ Und ich würde antworten: „Ich weiß nicht. Es interessiert mich nicht.“ Doch er tut es nicht. Das liegt vielleicht daran, dass er tot ist.

Ich glaube, Guy Leary und ich haben jenen chaotischen Haufen, der sich in dieser Stadt Stadtkonferenz nennt, genügend eingeschüchtert und auf unsere Machtübernahme vorbereitet. Nicht, dass wir dabei etwas Illegales tun würden. Ich meine, schon, der Präsident und so kontrolliert irgendwie alles was irgendwie vor sich geht. Aber in unserem System föderalistischer Demokratie wäre es doch verantwortungslos, die lokalen Regierungen zu bevormunden. Es ist so, dass der Präsident a) hier nach Auslegung des Gesetzes durch einen guten Anwalt wahrscheinlich gar keine Eingriffsrechte hätte; b) es interessiert ihn nicht. Wir sind schließlich eine demokratisch gewählte Stadtregierung. Mit zwei Mann an der Spitze. Im Amt auf Lebenszeit. Mit absoluter Befehlsgewalt über die Stadt. Die direkten Vertreter Gottes auf Erden. Später nur noch ein Vertreter Gottes auf Erden, weil der zweite durch eine Schicksalsfügung zum Straßenkehrer degradiert wird. Jedenfalls beginne ich jetzt diesen chaotischen Haufen über seine neue Situation aufzuklären.

„Alle bitte einmal herhören! Seine Gnaden behält sich vor dem Gewürm mitzuteilen, dass aus Rationalisierungsgründen die Stadtkonferenz für ineffizient erklärt wurde. Die Regierung übernimmt hiermit ein Rat zweier Personen, der alle Funktionen der Stadtkonferenz in sich vereint. Ebenfalls aus Rationalisierungsgründen wird es zur Auflösung sämtlicher Parteien kommen, die aufgrund unseres neuen, vereinfachten Wahlsystems, an Notwendigkeit verlieren werden. Die Stadtkonferenzmitglieder mögen sich bitte bei socialnet.gov einfinden.“

Zu meinem Missfallen unterbricht Guy Leary meine Ansprache plötzlich.

„Ich glaube, du hast da etwas verpeilt, Donald.“

„Was?“

Er zielt mit seiner halbautomatischen Waffe auf meinen Kopf. Er wagt es mit seiner verdammten 9mm Aimlabs Halbautomatik, 98.999,- Euro im Winterschlussverkauf, gesehen bei weapequip.net, Lauf zu einem großen Teil aus Kunststoffverbindungen, welche die Waffe besonders leicht und zuverlässig machen. Guy verwendet für seine Kugeln Spezialanfertigungen, geritzte Platin-Titan Legierungen, die beim Eintritt in den Körper zersplittern und eine Austrittswunde dreifach größer als die Eintrittswunde verursachen. Solche Spezialmunition, in allen Staaten der Europäischen Union verboten, wird unter anderem in der GUS sowie in Kolumbien gefertigt und kann nur mit bestimmten Beziehungen oder direkt über cleancitizen.com bestellt werden. Eine solche Kugel steckt in seinem Lauf, abschussbereit, in einer Höhe mit meinen Augen, der Lauf auf mich gerichtet. 

„Nimm den von meinem Kopf weg! Du könntest mich damit verletzen.“

„Weißt du, Donald, lass mich dir eine Geschichte erzählen: Ich träume. Ich schlafe. Ich wache auf.“

„Du wachst auf?“

„Ich wache auf.“

Manche Momente erleben wir in slow motion. Andere fast forward. Manche Momente vereinen beides in sich, in einem gewaltigen, unendlich langen Schreckensmoment gefolgt von einem aufoktroyierten, kurzlebigen Vanitas-Gedanken. Alles ist vergänglich. Jener Moment, in dem jene 9mm Platin-Titan Kugel (5.000,- Euro, Equitex) meinen Brustbereich durchstößt und durch meinen Rücken nach außen dringt, denke ich, mir, dem Bürgermeister, könnte so etwas gar nicht, auf keinen Fall passieren, denn schließlich waren meine gottgleichen Rechte zum Dogma erhoben, jemand, ein Polizist, ein Arzt, vielleicht sogar ein fetter Abgeordneter, musste mir doch helfen, seine Taten sühnen, doch Splitter verließen meinen Rücken, your reality has been altered, ich sacke zu Boden, niemand hilft mir, es ist jedem egal, es interessiert sie nicht, ich blicke auf, zu den beiden Wachebeamten, sie sind immer noch damit beschäftigt, ihre gesicherten, ungeladenen Shotguns zu sichern, es interessiert sie nicht, ich blicke zu den Abgeordneten, sie zittern unter den Tischen, es berührt sie nicht, ich blicke zu Guy, es amüsiert ihn nicht, ich blicke in das Universum, kein Neutronenstern vergeht. Ich bin bedeutend. ICH bin bedeutend. Ich BIN bedeutend. Ich bin BEDEUTEND. Warum interessiert es niemanden? Guy spricht, als wäre nichts geschehen.

„Nachdem Bellerophon nun die Schimäre besiegt hat, widmen wir uns nun wieder lustigeren Angelegenheiten. Unsere neue progressive Stadtregierung hat sich entschlossen, eine wirtschaftliche Liberalisierung durchzuführen, durch die cleancitizen.com größere Befugnisse erhält und es datanet ermöglicht wird, jeden Bürger zu seiner eigenen Sicherheit und zum schnelleren Einschreiten im Notfall, über unsere Hi-Weather Satelliten zu überwachen. Zur Vereinfachung unserer Administration erhält jeder Bürger eine Identifikationsnummer und ist in seinem eigenen Interesse verpflichtet, DNA Proben abzugeben, um das schnellere Einschreiten zur Hilfe eines sich im Notfall befindlichen Bürgers, durch unsere Adenin-Cytosin scannenden Satelliten, zu gewährleisten.“

Es wird dunkler vor meinen Augen und ich werde von den zwei Wachebeamten weggezogen. Ich kann die Splitter der Kugel in meinem Brustbereich spüren. 5.000,- Euro! In meinem Brustbereich. Das ist mein Testament: Sollte ich sterbe, wünsche ich im Designer Anzug von Armani in meiner Brooks Brother Brille begraben werden (500.000,- Euro der Anzug, 50.000,- Euro die Brille). Ich wünsche in einem vergoldeten Eichensarg zur Erde gebetet zu werden, innen ausgekleidet mit Samt und Satin, Priester aller in meiner Stadt gültigen Konfessionen sollen anwesend sein, für das Totenmahl soll das gesamte Hilton gesperrt werden, die Übertragung soll auf CNN live erfolgen. Auf dem Friedhof beanspruche ich ein Grundstück von sagen wir einem Quadratkilometer, ein Kreuz aus Gold und Kupfer soll angefertigt werden, mit Diamanten verziert (die Diamanten sollen vorher bei meinem Lieblingsdesigner geschliffen und poliert werden, schätze 2.000.000 Euro). Ich wünsche in meinem Sarg einen datanet Satelliten Dial-Up Anschluss mit TFT Touch-Screen und 120 Terrabyte Übertragungsrate pro Nanosekunde. Außerdem wünsche ich mit meinem dotcom.com Handy begraben zu werden, meine Rollex an meinem Armband. Meine Haare sollen vor der Beerdigung noch einmal bei meinem Coiffeur zurechtgemacht werden, außerdem wünsche ich eine vollständige Mani- und Pediküre vor meiner Bestattung. Schuhe von Gucci wären angemessen.

Ich wache auf und muss leider feststellen, dass meine Arschlochfamilie leider nicht an eine Bestattung im Samtsarg gedacht hat und dass ich mich statt dessen in irgendeinem rötlich schimmernden Loch befinde. Statt meinem Armani Anzug trage ich eine Art Häftlingskleidung, keine Gucci Schuhe, barfuß, keinen Rollex Chronometer, keine schöne Frisur sondern Sean Connery in „The Rock“ Haare, kein Totendinner im Hilton, sondern Gefangenenfraß in der Kantine. Ich blicke mich um und scheine mich in einer Art chemischer Fabrik zu befinden. Ich liege auf einer schmutzigen Pritsche neben jenem Behälter, der dieses schöne Totenkopf-Zeichen trägt. Vor mir ein großer, runder Behälter mit dieser schönen gelben, vergilbten Schrift: „Vorsicht! Dämpfe nicht einatmen!“. Der Behälter dampft so schön. Ich versuche mich aufzurichten, stelle aber fest, dass nur wenige Zentimeter ober mir eine Ölpipeline verläuft, von der jenes schwarze Gold auf meine „Kleidung“ tropft. Am Kopfende meines Bettes befindet sich ein großer Lautsprecher, Hersteller cleancitizen.com, von dem sich nun Worte stampfend in mein Gedächtnis hämmern.

„Sehr geehrter Arbeiter. Sie befinden sich nun im Schutz der Sozialhilfefirme cleancitizen.com. Cleancitizen.com kümmert sich um alle ihre Anliegen, für die Verwaltung sind die Lokaladministratoren zuständig. Diese werden per Zufall ermittelt, regieren ein Jahr und haben eine überwachende Schutzfunktion über ihre Arbeiter. Der Lokaladministrator in Ihrem Arbeitsbereich heißt Harvey Andrews.“

Ob man hier Menschen töten kann?

 

Ab hier ist der Erzählung nur mehr vage in Form einiger Tagebuchaufzeichnungen vorhanden.

 

29. September:

Ich könnte jetzt ja schildern, wie schrecklich es hier ist. Wir werden gefoltert und geschlagen und müssen arbeiten, Tag und Nacht, aber es steigt die leichte Befürchtung in mir, dass das nun niemanden interessiert. Deswegen erwähne ich es nicht. Einige neue innenpolitische Vorkommnisse erscheinen mir da interessanter: Guy Leary, unser neuer hochgeschätzter Statthalter, eröffnete heute sein Amt mit seiner Antrittsrede, eine Antrittsrede, die er von mir gestohlen hat. Ich meine, es stört mich ja überhaupt nicht, dass er mich angeschossen hat, im Gegenteil, ich hätte ja sein Leben auch für 10 Eurocent verkauft, es stört mich nur, dass er meine Rede geklaut hat. Der genaue Wortlaut: „Ich grüße die großartige Bürgerschaft. Gerne in Kenntnis setzen würde ich Sie über einige, im Zuge der neuen Regierung, vorge-nommenen Reformen, wie etwa die lange angekündigte Wahlrechtsreform. Durch unser neues, vereinfachtes Wahlsystem, wird es für Sie, unsere hochgeschätzten Bürger, nicht mehr notwendig sein, sich den komplizierten und belastenden Vorgang der Stimmenabgabe aufzubürden. Aufgrund dieser Reform wurde die Amtsdauer der amtierenden Regierung etwas erhöht....“

Ich brauche wohl nicht fortzuführen wie es weitergeht, oder? Doch nun muss ich Schluss machen, wertes Tagebuch, der Aufseher mit der Elektropeitsche (beeindruckendes Stück, Aimlabs 30.000,- Euro) schreit und ich muss den dotcom.com Chemie Raffinerieprozessor (150.000 Euro, gefasst in elegantem Edelstahl) warten.

 

2. Oktober:

Ich werde die Innenpolitik wieder schriftlich festhalten: Guy hat nun etwas erweiterte Rechte und wollte sich als Statthalter seiner Stadt vom Papst zum Kaiser aller Bürger krönen lassen. Der Vatikan lehnte es ab, Guy an einer solchen Würdigung teilhaben zu lassen. Guy drohte daraufhin den Papst zu erschießen. Spezialeinheiten unserer verstärkten Exekutivgewalt begaben sich bereits in den Vatikanstaat. Ich frage mich, ob ich Satan töten kann, wie Peter Main in Dino Island. Apropos Satan: Harvey Andrews, jener Mann, den ich aus seinem Exekutivposten entlassen habe, wurde zu dem Aufseher meines Sektors ernannt. Der Mann versteht es wirklich, mit seiner Elektronenpeitsche umzugehen und schlug mich schon mehrmals halbtot.

Die Elektronenpeitsche, die wie schon erwähnt von Aimlabs, einem großartigen skandinavischen Waffenherstellers gefertigt wurde, zählt zu den Meisterwerken europäischer Handwerkskunst: Durch individuelle regelbare Elektronenbeschleunigung kann dieses Instrument eine Spannung bis 1000 Volt freisetzen, kombiniert mit einer konfigurierbaren Stromstärke bis zu 32 Ampere. Die Elektronenpeitsche, erstmals vor 50 Jahren in Serie gefertigt, wird vor allem von Polizeieinsatzkräften als sinnvolle Alternative zum Schlagstock genützt, ist es doch mit ihr auch möglich, gewaltige Schmerzen zu verursachen, die auch mit dem Tod enden können. Ein Wahnsinnsgerät!

 

4. Oktober:

Mein sehr geehrtes, hochgeschätztes Tagebuch, ich habe dich davon in Kenntnis zu setzen, dass unser hochgeschätzter Freund, Harvey Andrews, ehemals glorreicher Stadtpolizist, durch einen aufs Äußerste tragischen Vorfall leider nicht mehr unter den Lebenden weilt. Überraschenderweise bin ich jetzt zum neuen Sektionskommandant erwählt worden. Die chemische Einrichtung ist der Horror. Es ist schrecklich. Und es ist furchtbar leicht, hier an Waffen zu kommen. Die Aufseher? Es interessiert sie nicht. Es wird sie aber noch interessieren. Denn in meinem neuen Amt habe ich beschlossen einige Reformen durchzusetzen. Erstens finde ich die Elektronenpeitsche zwar eine wunderbar handwerklich gefertigte Waffe, aber kein Mittel um gegenüber den Arbeitern seine Interessen durchzusetzen. Ich greife deshalb mittlerweile lieber auf Erzeugnisse der Firma Equitex zurück.

Equitex ist ein inoffizieller Waffenlieferant an cleancitizen.com. Guy erschoss mich mit einer Equitex-Kugel und ich muss mich immer noch bewundernd über die großartige Qualität der Erzeugnisse von E-Tex, wie Waffenliebhaber die Firma liebevoll nennen, aussprechen.

 

10. Oktober:

Es ist mir mittlerweile gelungen, eine doch angemessen große, mir treu untergebene Arbeiterschar um mich zu sammeln. Manche folgen mir sogar freiwillig. Andere machte ich folgen. Wiederum andere durften sich von der großartigen Qualität von E-Tex Erzeugnissen überzeugen. Meine angemessen große Anhängerschaft, bestehend aus faktisch jedem Mitarbeiter dieser großartigen, uns Arbeit schenkenden Firma, hat beschlossen, eine autonome Chemiefabrikregierung auszurufen, mit mir als legitimen König auf Lebenszeit an der Spitze. Arbeiter aller Welt lasset euch unterdrücken!

 

20. Oktober:

Smithee & Smythe, ein Bestattungsunternehmen, das zu Beginn dieses Jahrhunderts ganz groß wurde, ist eigentlich anfänglich auf eine Online-Domäne zurückzuführen. Smythe.co.jp verkaufte seinerzeit vertikalen Bestattungsplatz an die obersten Zehntausend dieser Stadt, da aus der bereits existierenden Wohnungsnot noch dazu eine Bestattungsplätzenot hervorgegangen war. Nicht dass sich die Leute deswegen verbrennen hatten lassen. „Nein Verbrennen, wie furchtbar, man kann doch nicht den Toten ihren letzten Wunsch nehmen, das geht doch nicht, man muss sie schon im Armani Anzug bestatten!“. Das ist eine Haltung, die aus meiner Sicht verständlich ist. Jedenfalls wurde Smithee & Smythe durch ihre innovative Begräbnistechnologie, die auf dem bisher nie der Öffentlichkeit preisgegebenen Körperkompressionsverfahren basiert, ein ganz großes Ass im Bestattungsbusiness. Vor allem ihre schnelle IntelliDig® Technologie ermöglichte damals, beim großen Arbeitermassaker, das schnelle und effiziente Anlegen von Massengräbern. Nun sind sie Weltmarktführer sämtlicher Bestattungsfirmen, obwohl cleancitizen.com 51% ihrer Aktien besitzt. Warum erzähle ich dir das, mein hochgeschätztes Tagebuch? Nun, Smithee & Smythe haben einen Exklusivvertrag mit mir und meiner Arbeitergang® abgeschlossen, die das Beseitigen sämtlicher, bei unseren diversen Aktionen anfallenden Totkörpern (Leichen), garantiert. Smithee & Smythe ist davon überzeugt, dass, wenn sie unseren Exklusivvertrag 2 Jahre lang halten könnten, 75% ihrer Aktien zurückkaufen könnten. Allerdings würde die Population in unserer so schrecklich schlimmen Chemieraffinerie bei ungefähr minus 10 hoch neun Personen liegen.

 

22. Oktober:

Die Chemieraffinerie ist nun okkupiert, die autonome Regierung der Arbeitergang® wurde ausgerufen. Erste Reaktion der Regierung von Guy Leary: Sie erkennen unsere Regierung nicht an, Exekutivtruppen wurden entsandt, um uns in unseren „Grundfesten zu vernichten“ (frei nach Guy Leary). Die Aktienkurse: Ipox (Wissenschafts- und Chemieindex) um 50 Punkte gefallen, Equitex 222 Punkte hinauf, Smithee & Smythe 968 Punkte hinauf (liegen bei 2345% ihres vorherigen Kurses). Die Government Aktie hat den tiefsten Stand seit 15 Jahren.

 

23. Oktober:

Die Regierungsattacke wurde erfolgreich abgewehrt, das Milizsystem bleibt in unserer Arbeitergang® vorerst erhalten. Ich habe angeordnet, dass sämtliche Gefangenen sofort standrechtlich erschossen werden, um ein Exempel zu statuieren. Smithee & Smythe verfeinerten aufgrund zahlreicher Forschungsmöglichkeiten ihr IntelliDig® System, ihre Aktien sind noch einmal rauf.

 

24. Oktober:

Wir haben jetzt 1365 Exempel statuiert, ich glaube Guy weiß jetzt, dass wir es ernst meinen. Wir statuieren aber trotzdem weiter. Smithee & Smythe sind sehr zufrieden mit unserem Kooperationsabkommen, IntelliDig® Version 2.0 ist jetzt fast fertig entwickelt. Nach Eigenaussage benötigt Smithee & Smythe benötigt nach Eigenaussage nur mehr „ganz wenige Versuchsobjekte“. Wir drücken ganz wenige Versuchsobjekte in Zehnerpotenzen aus.

 

26. Oktober:

Guy Leary büßt in seinen Umfragewerten ein. Einige Teile der Bevölkerung erinnert seine Politik der Demokratievereinfachung zu sehr an Hardliner. Cleancitizen.com hat einen Teil seiner Public Relations übernommen, der zuständige Angestellte nennt sich selbst Propagandaminister. Untermalt wird die, übrigens sehr überzeugende, Werbekampagne von klassischer Musik, wie New Order. Sämtliche Mitglieder der Stadtkonferenz wurden wegen regierungsfeindlicher Maßnahmen vor Gericht gestellt und innerhalb von 10 Minuten zum Tode verurteilt. Diese Ineffizienz hätte ich Guy Leary nicht zugetraut, ich meine, wozu braucht er als Regierungschef dieser Stadt noch Gerichtsverhandlungen. Ich hätte gleich Smithee & Smythe gerufen. Wir machen hier inzwischen Fortschritte: 20% der Straßen sind okkupiert, es kommt zu Straßenschlachten, meine Männer sind dazu aufgerufen immer daran zu denken: Wer davonläuft ist ein Regierungsbeamter. Wer stehen bleibt ist ein disziplinierter Regierungsbeamter. Diesen Satz habe ich frei aus einem alten Kunstwerk der non-digitalen Ära übernommen, Full Metal Jacket. Guy Leary bat den Präsidenten um die Entsendung von Hilfstruppen. Statement des Präsidenten: Es interessiert ihn nicht. (Eigentlich: Das ist nicht mein Bier!) Meine Wissenschafter verrichten inzwischen gute Arbeit in der Erforschung von Massenvernichtungswaffen.

 

29. Oktober:

Ich habe heute mit meiner Arbeitergang® die untersten Etagen des Stadtkonferenzsaals eingenommen. 50% der Stadt befinden sich jetzt unter unserer Kontrolle, wir rekrutieren regelmäßig Soldaten aus der Bevölkerung. Manche folgen uns sogar ohne Gegenwehr. Außerdem haben wir jetzt einen datanet Satelliten unter unserer Kontrolle, cleancitizen.com hat uns bereits einen friedlichen Ausgleich vorgeschlagen. Wir haben uns inzwischen darauf beschränkt, nur den Mittelsmann unsere Wut spüren zu lassen.

 

10. November:

Heute war der Tag, an dem meine finaler Wunsch erfüllt wurde. Ich stand Guy Leary höchstpersönlich gegenüber, Equitex Equipment im Anschlag, willig mein Vorhaben zu Ende zu bringen. Ich versuche jetzt den Hergang des heutigen Duells möglichst der Wahrheit gemäß zu beschreiben.

Ich betrat den wunderschönen Stadtkonferenzsaal, bewunderte die Glasbetonarchitektur, die Facetten des gebrochenen Lichtes, die eine wunderschöne Schatten- und Lichtkomposition auf den Ebenholzverkleidung des mit Technologie von Progressive Technologies Inc. ausgestatteten Podiums verursachte. Und ich sah einen blauen Himmel! Es war wunderschön, ich wusste sofort, dass hier der Platz war, an den ich hingehörte, dass dies der Platz war, von dem aus ich regieren sollte. Nur ein Schandfleck, eine Verschmutzung, ein Störfaktor störte des harmonische Bild von wunderschöner Architektur, untermalt von dem, was von der Umwelt übrig war: Guy Leary. Ich begann also mein Wort zu erheben.

„Bellerophon.“

„Ich dachte die Schimäre wäre besiegt, ich dachte Ihr wäret tot!“

„Versuchet da Bellerophon nicht mit Pegasus den Olymp hinaufzureiten?“

„Und Ihr sollet mich davon abhalten? Und Ihr sollet mich bremsen? Ihr erhebet Euer Schwert gegen mich?“

„Ich bin die Fliege, die Pegasus stechen soll. Ich bin die Macht, die Bellerophon aufhält. Ich bin Euer Nemesis, der Inhalt Eurer dunkelsten Träume, Eure Apocalypse Now, Euer Ende!“

Und ich erhob mein Schwert gegen Bellerophon, das in Platin gefasste Edelschwert von Equitex und begann zu richten. Und ich ließ sprechen meinen Hass, mein geballter Zorn rieselte in Feuerblitzen auf Bellerophon herab, meine Kometenschar zerstörte sein Gebilde aus Macht. Und Bellerophon, in einem letzten verzweifelten Versuch, seine Seele zu retten, griff zu seinem Schwerte und ließ sprechen das, was von seiner Macht übrig war. Und ich wehrte seinem Angriff und Heerscharen meiner Armee (Arbeitergang®) fielen ein in sein Land, ergriffen seine Waffen. Da sah Bellerophon, dass es zu spät war für seine Seele und in seinem endgültig letztem Versuch der Selbstrettung ging Bellerophon zugrunde, ging ein die ewig brennenden Feuer der Hölle, die in erwarteten, dort wo auch ich einst hingehen werde, denn jetzt, wo ich Kaiser dieser Stadt bin, wird mein untertäniges Volk vor meiner Macht zittern.

 

 

Bemerkung: Am 10. November starb Donald Hykes in einer cleancitizen.com Chemiefabrik an schweren Halluzinationen, die Besitz von ihm ergriffen hatten.

Der geneigte Leser fragt sich jetzt natürlich, was von dem Erzählten dann eigentlich wahr und was der Fantasie des Protagonisten entsprungen war. Das bleibt dem Leser überlassen. Denn schließlich ist dieses Manifest ganz und gar zynisch.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.10.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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