Am 6.5. 2014 wird der Welt-anti-Diät-Tag begangen. Dazu fiel mir folgende kleine Geschichte ein:
„Ich könnte kotzen“, sagt mein Wohnungsnachbar, der mich auf dem Treppenflur antrifft, als ich dabei bin, die vor meiner Wohnungstür liegende Tageszeitung aufzuheben. Meine Irritation im Bezug auf die Wortwahl veranlasst mich angewidert zu reagieren: „Können wir uns auf übergeben oder brechen einigen?“
Dem meist übellaunigen, übergewichtigen Nachbar fällt es sichtbar schwer, auf meinen Wunsch unaggressiv einzugehen. Gereizt sagt er zu mir: „Ok, sprechen wir von Brechen, obgleich ick zum bescheuerten Diätwahn lieber kotzen sagen würde.“
Nach einer kurzen Pause fragt mich mein Nachbar nach meinem Essverhalten. Er will wissen wann, was und wie viel ich esse. Was soll diese Neugierde, denke ich und merke gleichzeitig, dass mir keine unverfängliche provozierend klingende Antwort einfällt. Ich spüre gleichzeitig, das der Nachbar eine Antwort von mir erwartet und antworte deshalb knapp, ohne ins Detail zu gehen: „Ich bemühe mich, stets langsam zu essen.“
Noch während ich diesen für mich eher verkrampft anmutenden Satz ausspreche, merke ich, dass der Nachbar schlechte Laune bekommt. „Iss was?“, frage ich ganz vorsichtig irritiert und beobachte dabei seine Körpersprache und sein Minenspiel. Auf keinen Fall möchte ich mich mit dem Nachbar anlegen. Das erscheint mir, nach dem Wissen, das ich über meine Nachbarn habe, strategisch unklug.
„Wat sie da machen, versuche ick och! – jelingt mir aber nich immer. Eigentlich eher selten. Ick wees nich woran det liecht.“
„Vielleicht sind sie zu inkonsequent?“, versuche ich vorsichtig zu erklären.
„Wat soll ick sein? – Det Wort, dat sie jerade jesagt haben, habe ick noch nie jehört.- Is det wat schlimmes?“
„Nein - ich kann sie beruhigen, inkonsequent ist nichts Schlimmes, nichts Ansteckendes. Ist nur ein anderes Wort für schwankend.“
Der Nachbar bemüht sich, sich selbst zu beobachten, indem er an sich hinunterschaut und dabei merkt, das er Schwierigkeiten hat seine Füße zu entdecken. Sein Bauch ist ihm im Weg. „Also, ick kann nich feststellen, dat ick schwanke. Wir sind doch nicht uff een Schiff“, stellt der Nachbar zufrieden fest.
Mir wird die Unterhaltung langsam unbequem weiß aber nicht, wie ich aus dieser Nummer herauskommen kann.
Gerade in diesem Moment kommt Frau Müller, die Mieterin aus der über uns liegenden Etage, schnaufend die Treppe hoch. Man sieht es Frau Müller an, dass sie Schwierigkeiten hat, ihr Eigengewicht und das der Einkaufstüten Stufe für Stufe hochzutragen. Bei aller Anstrengung strahlt sie dennoch über das ganze Gesicht.
„Hallo Frau Müller sie wirken so ausgelassen, fast ansteckend fröhlich – es scheint ihnen gut zu gehen?“, frage ich nicht aus Neugierde, sondern vielmehr um das unangenehme Gespräch mit dem Nachbarn zu unterbrechen oder gar zu beenden.
Ich beobachte das es meinem Nachbarn nicht gefällt, dass ich es bin, der mit Frau Müller spricht. Viel lieber hätte er mit ihr gesprochen. Er findet Frau Müller sympathisch. Sehr sogar.
Auch figürlich, so der Standpunkt des Nachbarn, ist sie seine Kragenweite. Sein Beuteschema, wie er sich schon vor Wochen mir gegenüber geäußert hatte.
Frau Müller bemüht sich kurzatmig, weiter die Treppe hinaufzusteigen. Ich beobachte, wie mein Nachbar Frau Müller lüstern nachstiert, aber keine Veranlassung sieht, ihr beim Hochtragen der Einkaufstüten behilflich zu sein. Ich schaue meinen Nachbarn an. Der versteht meinen Blick und will sogleich Frau Müller behilflich sein. Frau Müller bleibt auf der letzen Treppenstufe stehen, dreht sich um und sagt zu uns beiden: „Ich habe gerade von der „Ypsylon-Diät“ gehört, und wie erfolgreich sie sein soll. Ich will diese Diät unbedingt ausprobieren“ Sie fügt noch hinzu: „Ich hätte gerne so eine Figur wie sie“, und während sie das sagt, deutete sie auf mich, was unserem Mitmieter nicht gefällt.
Den Versuch Frau Müller zu helfen, stellt mein Nachbar abrupt ein. Vielmehr wendet er sich ab und schließt seine Wohnungstür auf. Doch bevor er sich schmollend zurückzieht, sagt er zu mir: „Zum Kotzen mit dem Diätenwahn, jetzt hat die sich och von dem Irrsinn anstecken lassen – schade um jedet Pfund, det dabei uff der Strecke bleibt – wenn ick könnte, wie ick wollte, würde ick alle Diäten dieser Welt verbieten.“ Mit dieser Aussage verschwindet mein Nachbar hinter seiner Wohnungstür, die er unüberhörbar ins Schloss fallen lässt.