Christa Astl

Die Reise mit dem Regentropfen



 

 
 
David steht am Fenster. Draußen regnet es. Wie Schnüre hängen die Regenfahnen vom Himmel, wie Schnüre rinnen auch die Tropfen über die Scheiben. „Warum muss es denn immer regnen?“, jammert er. „So viel Wasser wollen die Blumen doch gar nicht. Und meine schöne Baustelle im Sandkasten wird ganz zerstört von dem dummen Regen!“ David kann nicht hinaus, denn seine Gummistiefel haben ein Loch.
Gelangweilt schaut er den Regentropfen zu. In seiner Spielecke im Zimmer ist es fast dunkel, und im Dunkeln spielen mag er gar nicht. Mit dem Zeigefinger malt er an der Innenseite der Scheiben die Striche nach, die die Tropfen außen ziehen.
Plötzlich fällt ein besonders dicker Tropfen ans Glas, David kann das Pluppen sogar hören. Und in dem Moment schaut ein Sonnenstrahl durch die Wolken. Der große Regentropfen an der Scheibe bekommt regenbogenfarbige Ränder. Gespannt beobachtet ihn David jetzt. Er zwickt das linke Auge zu und schaut mit dem rechten, dann schließt er das rechte Auge und schaut nur mit dem linken, und die Farben des Tropfens verändern sich jedesmal. Dann blickt er wieder mit beiden Augen hin und auf einmal, ganz langsam, fängt der glänzende Regentropfen zu wachsen an. Er wird größer und größer wie ein Luftballon und dann sieht David unten sogar einen Korb hängen. Und in dem Korb sitzt ein winzigkleines Männlein mit einem grauen Kapuzenmantel und winkt. David winkt zurück. Er möchte so gern auch mit drinnen sitzen! Da nimmt das Männlein einen winzigen Zauberstab in die Hand und zeigt mit diesem auf David. Ein heller Blitz trifft ihn daraus und in dem Moment spürt der Bub, dass etwas mit ihm passiert ist. Er sieht an sich hinunter und bemerkt, dass er zu schrumpfen beginnt. Er wird kleiner und kleiner, bis er zuletzt genau so winzig ist wie das Männlein im Ballon.
Das Kapuzenmännlein lenkt nun seinen Regentropfenballon genau vor Davids Füße. „Ich bin der Regenprinz“, stellt es sich vor. „Steig ein und fahr mit mir um die Welt“, sagt es freundlich. Der kleine David lässt sich das nicht zweimal sagen, und los geht die Reise. Ganz vorsichtig lenkt der Regenprinz sein Fahrzeug durch die Zweige des Apfelbaumes, der bald zu blühen beginnen wird. Die weiß-rosigen Knospen sind bereits sehr dick. Der Lindenbaum daneben hat auch schon ganz feine hellgrüne Blätter bekommen. Bald wird David wieder in sein schattiges Baumhaus ziehen können.
Während der Ballon langsam höher steigt, fallen rund um sie die Regentropfen zur Erde und der trockene Boden saugt sie durstig auf. Fast kann man zuschauen, wie das Gras grüner wird. „Wie schön sieht es aus von hier oben!“ ruft David.
Doch Regentropfen können nicht an einer Stelle verweilen, auch wenn sie ein Ballon sind und eine Gondel mit zwei Passagieren haben. Der Wind treibt sie weiter. Über den dunklen Nadelwald, der so dicht ist, dass sich David nicht allein hinein traut gleiten sie dahin, und dann sind nur noch braune Wiesen unter ihnen, vereinzelt erkennt man sogar Schneeflecken. Immer kälter wird die Luft. David knöpft seine Jacke zu und zieht die Ärmel über die kalten Fäuste hinunter. „Wir fahren jetzt über die hohen Berge und dann zeige ich dir ein Land, wo es keinen Regen gibt und wo immer die Sonne scheint" sagt der Regenprinz. Darauf freut sich David. Endlich wird es dann wieder wärmer! Er hat solche Sehnsucht nach der Sonne. Aber über den Bergen kommen ihnen erst noch die eisigen Schneeflocken entgegen. Mit kalten spitzigen Nadeln stechen sie David in Wangen und Nase. Fast möchte er weinen, so weh tut es. Da sieht er in der Ferne einen hellen blauen Streifen am Himmel. „Nun wird es bald besser“, denkt er und hält tapfer durch. Und es dauert auch nicht mehr lange, da kommen keine Schneeflocken mehr, und auch der Regen lässt nach. Die Sonne blinzelt durch die Wolken und vertreibt sie vom Himmel, zurück in die hohen Berge. Sie trocknet Davids feuchten Haare und wärmt seine eiskalten Hände. Aber bald wird sie so heiß, dass er seine Jacke aufknöpfen und dann sogar ausziehen muss.
Unter ihnen sieht die Welt plötzlich ganz anders aus. Bäume und Blumen blühen in leuchtenden Farben, in der Ferne sieht man ein riesiges Gewässer mit einer Nebelschicht darüber. „Dort unten ist das große Meer“, erklärt der Regenprinz, „wir fliegen darüber hin, und in dem feuchten Nebel, der darüberliegt, kann ich unseren Ballon mit Luftfeuchtigkeit volltanken. Wir haben nämlich noch eine weite Reise vor uns“. Schon sind sie im Nebel und David kann die feuchte Luft um sich spüren. Der Regenbogenballon beginnt zu wachsen, er wird groß und schwer, so dass er kaum mehr fliegen kann. Langsam überqueren sie das Meer. Plötzlich wird die Welt unter ihnen wieder ganz anders. Es ist kein Wasser mehr da, aber auch keine Wiese, kein Wald. Nur gelben Sand und Steine kann man erkennen. „Wir sind jetzt über der Wüste, sie ist das Land, in dem es nie regnet“, erklärt der Regenprinz.
Jetzt fliegen sie über ein Dorf, die Kinder spielen dort mit Steinen und bauen Hütten aus dürren Ästen. Oder sie sitzen unter vertrockneten Büschen ohne Laub, das ihnen Schatten spenden könnte. Etwas abseits kniet ein Mädchen am Boden und betrachtet traurig eine fast verdorrte braune Pflanze. „Hallo!“ ruft der kleine Regenprinz hinunter, aber das Mädchen hört ihn nicht. „Das ist meine Freundin, die Sonnenprinzessin, der müssen wir helfen und ihr eine kleine Freude machen!“ Er fliegt ganz tief hinunter. Dann öffnet er einen Deckel an seinem Ballon, Wasser rinnt heraus, genau auf die kleine trockene Blume und ein paar Tropfen bekommt auch das Mädchen ab. Es rinnt und rinnt, bis der Ballon immer leichter wird und rasch zu steigen beginnt. Gerade noch kann David das Wunder erkennen, das sich unter ihm ereignet hat: Die braune Blume ist grün geworden, hat neue Blätter bekommen und in der Mitte eine riesige leuchtendrote Blüte. Und daneben steht dankbar ein lachendes glückliches Mädchen und winkt zu ihnen hinauf.
 
 
 
ChA 21.04.2005

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christa Astl).
Der Beitrag wurde von Christa Astl auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.05.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

Bild von Christa Astl

  Christa Astl als Lieblingsautorin markieren

Buch von Christa Astl:

cover

Heimgeschichten - Leben im Altenheim von Christa Astl



32 kurze Geschichten, denen praktische Erfahrungen zugrunde liegen, begleiten eine Frau durch ihr erstes Jahr in einem Seniorenheim.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (6)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Kinder- und Jugendliteratur" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Christa Astl

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Sergej, der tapfere Reiter von Christa Astl (Gute Nacht Geschichten)
Pinkes von Lara Otho (Kinder- und Jugendliteratur)
Der Tod des Templers von Claudia Laschinski (Historie)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen