Ernst Dr. Woll

So sahen meine Ahnen und ich die Eisenbahn und den Alltag I

Meine heute Mitte 30  Jahre alten Enkelkinder sind immer wieder erstaunt, wenn ich aus meinem Alltagsleben und über Erlebnisse während  der Zeit ab Mitte der 1930er  bis Ende der 1980er Jahre erzähle und dazu auch Berichte meiner Großeltern einfüge. Es ist jüngste Vergangenheit, aber sie haben selbst in der Schule im Geschichtsunterricht  von dieser Zeit vorrangig nur etwas über die gesellschaftliche, wissenschaftlich, technische Entwicklung und herausragenden Ereignisse erfahren. Unsere Erlebnisse als Zeitzeugen dieser Periode beim Umgang mit öffentlichen Einrichtungen und Verkehrsmitteln, dem Warenhandel und der Nachrichtentechnik ist den in den 1980er Jahren Geborenen vielfach unbekannt und teilweise unverständlich. Für sie ist es Vergangenheit und wird deshalb nach und nach interessant, während deren Eltern, unsere Kinder, einiges noch miterlebten und meinem Eindruck nach den „Vergangenheitserzählungen“ oft überdrüssig sind.
Eisenbahn, Straßenbahn, Omnibus, Schiffsfähren und Fahrgastschiffe auf den Flüssen waren die öffentlichen Verkehrsmittel, die ich als Kind in den 1930/40er Jahren kennenlernte. Flugzeuge und Zeppeline sah ich nur, wenn sie mein Heimatgebiet überflogen (das waren Sensationen); das Innere eines Flugzeuges konnte ich aber erst  in den 1950er Jahren das erste Mal betreten, um mit zu fliegen.
Mein Großvater, der 1945 im Alter von 82 Jahren starb, ist  Zeit seines Lebens nie mit dem Zug gefahren, obwohl es schon seit seiner Geburt die ersten Eisenbahnen gab. Seine Erzählungen sind mir gut in Erinnerung geblieben:
„Die Menschen verlernen noch das Gehen, wenn sie selbst kleine Wegestrecken mit Bus oder Bahn zurück legen. Mein Onkel, der zur Leipziger Messe Ende des 19. Jahrhunderts seine Waren (in der Hausweberei gefertigte Stoffe) verkaufen wollte, transportierte diese per Schubkarren von unserem Heimatort in Thüringen in die fast 100 km entfernte Messestadt. Er war je 4 Tage für die Hin- und Rückreise unterwegs und das kostete ihn in billigen Herbergen nicht einmal einen Taler. Mit der Eisenbahn hätte er das Dreifache an Fahrgeld bezahlt und damit den Gewinn seines Verkaufes erheblich gemindert. Wenn man zu Fuß geht, kann man also sogar noch Geld verdienen.“
Mein Opa, der übrigens auch bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Hausweberei betrieb, konnte dann mit der aufkommenden mechanischen Weberei nicht mehr konkurrieren und wurde selbst auch vom Selbständigen zum Fabrikarbeiter. Bis zu seiner Rente 1928 legte er den 6 km langen Weg  zu seiner Arbeitstätte 6 Tage in der Woche zu Fuß zurück, obwohl es damals schon eine Eisenbahnverbindung gab. Er sagte: „Ich habe durch das Laufen zu meiner Arbeitsstelle täglich mindestens 3 Pfennige verdient, das waren im Jahr fast 3 Renten- oder Reichsmark.“ Trotz seiner Abneigung gegen die Eisenbahn unterstützte er sehr, dass sein ältester Sohn Eisenbahner wurde und meinte dazu: „Diese Beamten haben ein gesichertes Leben und verdienen dazu beim `Eisenbahnfahren´ leichtes Geld“. Er bedachte nicht, dass viele dieser Berufsgruppe als Gleisarbeiter, Rangierer und ähnlichem auch sehr hart arbeiten mussten. Noch bis zum Alter von Ende Siebzig lief mein Großvater die Strecke von 20 km bis zur nächsten größeren Stadt etwa 3 bis 4 Mal im Jahr zu Fuß. Er besuchte dort seine Tochter und Verwandte, machte wichtige Besorgungen und kehrte aber auch am gleichen Tag zurück.
Anders meine Großmutter, die schon das 70. Lebensjahr erreicht hatte, als ich gerade mal 7 war. Sie fuhr sehr gern mit der Eisenbahn und nahm mich, ihren jüngsten Enkel, zu meiner Freude oft mit. Fast jeden Monat fuhren wir einmal in die 20 km entfernten  größere Stadt,
wo meine Tante wohnte. Von 1936 bis 1938 fuhren wir je zweimal im  Jahr ins Sudenteland in die Nähe von Karlsbad, zu einer weiteren Tochter meiner Oma. Das waren für mich als Kind sehr aufregende Reisen. Am Tag vor Reiseantritt kauften wir bei meinem Onkel, der Bahnhofsvorsteher am Bahnhof meines Heimatortes war, die Fahrkarten.
Hier will ich Kindheitserlebnisse einfügen, die ich in dieser Bahnstation hatte. Ich besuchte meinen Onkel dort häufig, weil ich mich mit im Dienstraum aufhalten durfte. Noch heute spüre ich den Stolz, wenn ich unter seiner Aufsicht die Kurbeln der Bahnschranken und die Griffe der Signale bewegen durfte. Später als Erwachsener sah ich den bekannten Film „Ich denke oft an Piroschka“, in dem die Hauptperson, das Mädchen Piroschka, auch die Hebel für die Bahnsignale bedienen durfte. Das beeindruckte mich besonders, weil ich dabei an eigene Kindheitserlebnisse dachte.
Die Krönung meiner Mithilfe im Bahnhofsdienst war die Fahrkartenausgabe. Hin und wieder reichte ich meinem Onkel die  Fahrkarten zu oder übergab sie sogar selbst an die Reisenden – nur das Geld durfte ich nicht in Empfang nehmen.  Vorgedruckte Fahrkarten für alle Zielbahnhöfe in einem weiten Umkreis, sogar bis zur Landeshauptstadt Weimar, befanden sich alphabetisch geordnet in einem großen Schrank. Dabei war außerdem zu berücksichtigen, dass es für die Personenbeförderung unterschiedlich gekennzeichnete Karten für die Klassen 1 bis 4 gab.
Die 1. war die Luxusklasse, solche Abteile (gepolstert und sehr bequem) gab es nur in D-Zügen, die auf Hauptstrecken verkehrten. Für diese und  für Eilzüge (E-Züge), wo es auch einige Wagen mit Abteilen der Klasse 2 gab, mussten Zusatzkarten gelöst werden. Auf den Nebenstrecken, an einer solchen befand sich der Bahnhof meines Heimatortes, gab es nur Waggons der Klassen 3 und 4, die mit Holzbänken ausgestattet waren.  Die Klasse 4 hieß auch Traglastenabteil, weil hier größere Flächen für das Abstellen großer Gepäckstücke, für Tragkörbe und Fahrräder vorhanden waren. Später, als es diese Abteile nicht mehr gab, musste man die Fahrräder zum Gepäckwagen bringen; das war immer sehr hektisch. Wenn mehrere Reisende die Räder abgaben führte das zu längeren Wartezeiten und man provozierte womöglich Zugverspätungen.  
Mein Selbstgefühl wurde gestärkt, wenn ich bei meiner Mithilfe am Fahrkartenschalter die verlangten Karten schnell fand. Für weitere Reiseziele schrieb mein Onkel die Fahrscheine aus und benutzte dazu Bücher, in denen alle Bahnhöfe Deutschlands verzeichnet waren. In diesen Kladden blätterte ich gern und amüsierte mich über die vielen, auch manchmal komisch klingenden Ortsnamen, die es in unserem Lande gab.
Bei unserer Reise in das noch nicht ins Deutsche Reich einverleibte Sudetenland, konnten wir von meinem Heimatort in Ostthüringen aus mit dem Zug nur bis zum Grenzbahnhof Johanngeorgenstadt fahren. Dort erfolgte der illegale Grenzübertritt, der damals gang und gäbe war. Auch meine Oma und ich gingen vom Bahnhof aus per Fuß weiter und überquerten in der Nähe der „Dreckschenke“ gemeinsam mit vielen Leuten einen kleinen Bach. Damit waren wir in der Tschechoslowakei, wo uns unsere Verwandten in Empfang nahmen. Das verbotene Tun war für mich als Kind sehr aufregend, aber ich bemerkte, dass die Grenzwachen beider Seiten sich kaum um die illegalen Grenzgänger kümmerten.  
Retrospektiv stelle ich fest: In der Werbung der Deutschen Bahn AG wird heute viel von Kundenfreundlichkeit und Services gesprochen, aber wiederholt gibt es enttäuschte Reisende. In meiner Kindheit, in den 1930er, Jahren hörte man bei der Deutschen Reichsbahn diese Begriffe nicht, aber die Leute waren vorwiegend zufrieden. Es gab vor allem genügend Personal für Auskünfte und Hilfeleistungen; allerdings auch einen oft übertriebenen personellen Aufwand für zahlreiche Kontrollen. Die Fahrgäste konnten z. B. die Bahnsteige nur über festgelegte Durchgänge - so genannte Sperren – erreichen und verlassen. Hier wurden die Fahrkarten kontrolliert, mit einer besonderen Zange geknipst oder beim Verlassen des Bahngeländes abgegeben. Für das Betreten der Bahnsteige, z.B. auch nur zum Abholen von Reisenden, musste eine Bahnsteigkarte, die damals 10 Pfennige kostete, gelöst werden.
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ernst Dr. Woll).
Der Beitrag wurde von Ernst Dr. Woll auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.05.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Ernst Dr. Woll als Lieblingsautor markieren

Buch von Ernst Dr. Woll:

cover

Was uns Katzen auf ihre Art sagen von Ernst Dr. Woll



Ernstes und Freudiges erlebte ich mit Hauskatzen, das mich immer stark beeindruckte. In sechs Geschichten wird dargestellt: Hauskatzen sind einerseits sehr anhänglich, sie drücken aber auf ihre Art aus, was ihnen gefällt oder nicht behagt und wem sie zugetan sind und wen sie nicht mögen. Großes Leid müssen alle Lebewesen im Krieg erdulden; über die Schmerzen der Menschen wird dabei oft ausführlich berichtet, viel weniger und seltener aber über die Qualen unserer Mitgeschöpfe als Mitbetroffene und tatsächlich unschuldige Opfer.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Erinnerungen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Ernst Dr. Woll

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Gesund gelebt und gegessen, Teil 2 von Ernst Dr. Woll (Erinnerungen)
Das Millenium von Norbert Wittke (Erinnerungen)
Wie Du mir,... von Klaus-D. Heid (Leidenschaft)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen