Ronald Kühn

Think Outside The Box

Da sitze ich nun. Vor mir liegt ein sorgfältig arrangiertes Stück Papier. Es trägt außer meinem Namen noch keine Erkennungsmerkmale, die darauf schließen lassen, dass es sich in irgendeiner Form um ein wichtiges Dokument handelt. Gemächlich drehe ich den Füllfederhalter in meiner rechten Hand hin und her. Es ist mal wieder Zeit. Ich muss ein Konzept für ein Seminar schreiben.

Ich glaube, vor mir liegt das Fanal aller geisteswissenschaftlichen Studiengänge. Eine Denkübung, die zumeist von mehreren Individuen aus geleistet werden soll. Gruppenarbeiten nennen es die Professoren. Ich nenne es kollektives Nervenkillen. Warum tun wir uns das an? Weil es der Dozent so will und wir die Credits brauchen…
Nur um welchen Preis? Auf Individuen in der Gruppe wird keine Rücksicht genommen. Am Ende muss ein Schriftgut homogenen Inhalts zu Papier gebracht werden. Was ist es diesmal? Eigentlich völlig egal! Mann kann zu allem ein Konzept schreiben. Sei es über eine Forschungsfrage, Analysemethoden, oder ein Konzept über das Konzepte schreiben. Oder wie in diesem Fall: Das allseits beliebte Drehbuch.

Ich muss sagen, ich studiere wie so viele, „was mit Medien“ und habe deshalb wohl den Zonk gezogen, was Gruppenarbeit und Konzeptschreiben betrifft. Quasi jedes Seminar läuft darauf hinaus, Kreativität auf Papier zu pressen und in den Äther zu schicken. Womit wir wieder beim Thema wären. Das weiße Blatt vor mir. Es guckt mich höhnisch an. „Komm schon“, flüstert es mir zu,“ komm schon, beschreib mich, du Sau. Lass alles raus. Komm schon, setz‘ endlich den Stift an und…“  Ich wende meinen Blick ab. Nein, das klappt so nicht. Ich muss erst Brainstormen…

Ah, aber es tut so weh! So viele Gedanken schwirren umher, und ich muss sie einfangen. Dabei will ich doch eigentlich nur mal dufte herumträumen, aber nein, es muss Gehalt haben. Oh Brainstorming, wie ich dich verachte! Du Monokel des Grauens, du infantile Saftpresse meiner Kreativität. Willst mich aussagen, mich durchkauen und dann auf den Boden spucken. Ich hasse dich, wirklich aufrichtig, weil du immer zur falschen Zeit auftauchst. Ich habe tagsübergenug Kopfkino, aber niemals dann, wenn ich es brauche.  

Dennoch probiere ich meine Motivation zurückzuholen, die normalerweise an einem schönen Tag wie diesen nackig über den Rasen springt, dabei einen Cocktail in der Hand hält und die Jeopardy-Musik summst.

(Dumm, dumm, dumm, dumm, dumm, dumm, dumm)

Ich stehe vor einer Weggabel, mental gesehen. Zwei Möglichkeiten, entweder ordentlich ranklotzen und meinen Synapsensalat aufräumen. Oder… erstmal beim blauen Zeitfresser vorbeischauen…

Ich entscheide mich für zweitens.

Ich öffne meinen Browser und gehe zu Facebook. Gleich werde ich mit wohltuenden Sinnlos-Content zugemüllt, der meine Gedanken an der Wurzel killen wird. Ich freue mich auf Cat-Content, Videos von Menschen, die sich gegenseitig verarschen und dem neuen Trend: Posts wie - Es begann alles als normaler Tag, aber was als nächstes passiert, wird dein Gehirn so dermaßen penetrieren. Mein Prokrastinationszentrum freut sich schon wie Bolle, also klicke ich beherzt auf den Anmeldebutton.
Eine Sekunde später, höre ich den wohlbekannten Chat Sound.

(Bubum bubum)

Es ist Mark, er möchte wissen, wie weit ich mit meinem Teil des Konzepts bin. Ich schreibe „Fahr doch zur Hölle, du Spast“ ins Chatprotokoll, will Enter klicken, entscheide mich aber in letzter Sekunde dagegen und schließe einfach das Fenster.

Mein Prokrastinationszentrum wird vom Schlechten-Gewissen-Zentrum in den Solarplexus geboxt und geht zu Boden. Mark hat gesehen, dass ich seine Nachricht gesehen habe. Danke, Marc Zuckerberg, für diese tolle Erfindung. Nun muss ich mich mit meinem Konzept beschäftigen. (Argh)

In dem Moment fliegt eine zweite Nachricht rein, diesmal von Judith, die auch in meiner Gruppe ist. Sie schreibt, dass Mark ihr gerade geschrieben hat, dass ich ihn, als Mark, ignoriere, und dass sie, also Judith, sich doch mal mit mir unterhalten soll, um mich aufzuklären, dass das so ja mal nicht geht.

Ich befürchte schlimmes, aber was als nächstes kommt, ist keine Aufforderung, mich endlich mal auf meinen Arsch zu setzen und das verdammte Konzept zu schreiben, sondern ein wertvolle Tipp:

„Hey, sieh das nicht so eng. Think outside the box, dann wird das schon.“

Think outside the box…

Gar nicht mal so eine schlechte Idee.

Ich schreibe Judith, sie sei ein Genie, schließe dann meine Browser und fahre den Computer herunter. Dann schnappe ich mir mein Stück Papier und verlasse das Haus.
Draußen scheint mir die Sonne wohlwollend ins Gesicht. Jep, das hat sich definitiv schon mal gelohnt. Vor mir öffnet sich ein Weg, der mit Steinen gepflastert ist und an einem kleinen hölzernen Tor endet. Dahinter verläuft ein Fußgängerweg, der links und rechts zu den anliegenden Straßen führt. Direkt vor mir ist: ein Busch. Grünes, wucherndes Gestrüpp ohne Sinn und Ziel.

Nun stehe ich wieder vor zwei Möglichkeiten. Links oder rechts langgehen? Ich überlege kurz, denke dann an Judiths weise Worte (Think Outside The Box) entscheide mich also für die Dritte und gehe mitten durch den Busch.

Dabei merke, dass es sich gar nicht um einen stinknormalen Busch handelt, sondern um ein mit Dornen versehenes Exemplar. Es piekst und zwackt und kratzt, aber das ist mir egal. Noch nie in meinem Leben, bin ich einfach geradeaus durch diesen verflixten Busch gegangen. Also warum nicht jetzt damit anfangen.

Nachdem ich mich einen gefühlten Kilometer durch dornenbesetzte und mit Brennnesseln verfeinerte Sträucher geschlagen habe, öffnet sich das Gestrüpp endlich und gibt eine Lichtung preis. Wow.

Voll Erstaunen schaue ich aufs Paradies. Auf der großen, grünen Fläche tummelt sich allerlei Getier. Schmetterlinge und Bienen schwirren umher. In der Luft tanzen Pollen, so groß wie Schneeflocken. Am Himmel ist nur eine einzige Schönwetterwolke zu sehen.

Ich atme tief ein und notiere auf meinem Stück Papier:

Neue Wege ausprobieren. Es lohnt sich.

Ich will weiter. Ich trete auf die Lichtung und gehe auf das andere Ende zu. Die Wiese steigt zu einem leichten Hügel an. Rechts und links von mir verschwinden nach und nach die Bäume, während es immer steiler wird. Wow, so krass habe ich die Steigung gar nicht wahrgenommen. So langsam muss ich mich mit meinen Händen abstützen, damit ich den Hügel erklimmen kann. Als ich mit letzter Kraft oben angekommen bin, trifft mich erstmal der Schock.

Ich stehe auf der Spitze des Hügels, währen die Welt hinter mir wie von einem Sog abwärts gedrückt wird. Begeistert von der Aussicht, beginne ich auf mein Blatt zu schreiben:

Je steiler der Weg, desto besser die Aussicht.

Nun ist mir das aber noch nicht genug, Zwar ist der Horizont zum nah, aber zum Greifen nah ist er noch nicht. Ich gehe also einen Schritt nach vorne und noch einen, und noch einen, und noch einen und plötzlich stoße ich gegen einen Widerstand. Meine Nase wird von einer unsichtbaren Wand plattgedrückt. Etwas verdutzt stolpere ich rückwärts und starre irritiert ins Nichts. Was zum Teufel? Ich strecke meine Hände aus. Da ist eine Wand. Eindeutig. Ich kann sie nicht sehen, aber sie ist definitiv da. Ich fühle mich wie in einem schlechten Traum Eine unsichtbare Barriere versperrt mir den Weg. Ich beginne sie mit meinen Händen abzutasten. Nope, das ist 1A Handwerkskunst, da ist kein Durchkommen.  Ich falle auf die Knie, eine bedrückende Frage macht sich breit: Bin ich gefangen und habe es die ganze Zeit nicht gemerkt? Ich greife zu Stift und Papier und schreibe auf:

Am Ende des Weges wartet eine Wand.

Ich stehe wieder auf. Das kann nicht das Ende meines Weges sein. Verzweifelt schlage ich gegen die Wand, versuche irgendwie hindurchzukommen, aber es geht nicht. Ich nehme vor Wut einen Stein und schmeiße ihn dagegen, er fliegt postwendend zurück und trifft mich an der Schläfe. Autsch. Das hat wehgetan. Ich muss mich anlehnen, als ich plötzlich eine Fuge bemerke. War die vorher etwa auch schon da? Komisch, in dieser unsichtbaren Wand scheinen sich rundliche Fugen zu befinden, in die locker eine Hand oder ein Fuß passen würde.

Think Outside The Box schallt es durch mein Gehirn.

Die Fuge befindet sich auf Bauchhöhe, das hieße also, wenn ich theoretisch…

Ich nehme meinen Fuß, stecke ihn in die Einbuchtung und springe ein Stück nach oben. Meine Hände gleiten hilflos über die Wand, ich drohe herunterzufallen, als ich unverhofft eine weitere Fuge ertaste und mich daran festkralle. Wow, da macht sich das jahrelange Bouldern doch bezahlt, schießt es mir durch den Kopf, aber ich verwerfe den Gedanken schnell wieder, denn meine Vermutung geht noch weiter. Wo zwei Fugen sind, das sind noch mehr. Etwas unentschlossen hänge ich in der Luft.
Ich starre in den Himmel. Keine Ahnung wie hoch die unsichtbare Wand noch geht, egal, ich werde es herausfinden.

Bis hierher und noch viel weiter. Ich setze zum nächsten Sprung an. Der Aufstieg beginnt. Je höher ich klettere, desto stärker schlägt mir der Wind ins Gesicht. Vögel ziehen an mir vorbei und drehen verwundert den Kopf zu mir um. Den Tieren scheint die Mauer nichts auszumachen. Unter mir kratzt sich gerade ein Hase an den Löffeln und fragt sich, was dieser Mensch da mutterseelenallein in der Luft zu suchen hat.

Als ich mittlerweile in über hundert Metern luftiger Höhe hänge, kommt mir zum ersten Mal der Gedanke des Fallens. Was passiert eigentlich, wenn ich hinunterfalle? Ich schaue nach unten. Es geht brutal herab.

Das Angstzentrum in meinem Gehirn springt an und pumpt Adrenalin in meine Adern. Meine Hände in den Fugen verkrampfen sich und beginnen zu zittern, sodass ich drohe, den Halt zu verlieren.

Das kann nicht das Ende sein. Ich schließe die Augen und zähle langsam bis zehn. Diese Wand muss irgendwann aufhören. Einen letzten Satz muss ich wagen. Den größten und weitesten, den ich je machen musste. Mit purer Willenskraft zwinge ich meine Muskeln, mir zu gehorchen. Dann ist der Moment gekommen. Alles oder nichts. Ich springe, fliege, schwebe in der Luft, suche nach Halt, erfasse plötzlich eine Kante und schwing mich beherzt hinauf.

Ich kann es nicht fassen. Es ist vollbracht. Ich bin auf dem Rand der Box. Vor mir liegt die Welt, wie in einer Tupperdose gefangen. Eine erfrischende Brise streicht durch mein Gesicht. Überglücklich zücke ich mein Stück Papier und schreibe folgenden Satz:

Die Box existiert wirklich. Aber man kann sie überwinden.

Als ich fertig mit schreiben bin, drehe ich mich um und schaue in das unbekannte, weiße Nichts. Wie unverbraucht hier alles erscheint. Hätte ich meinen Laptop zur Hand, würde ich Judith jetzt eine Facebook-Nachricht schreiben und ihr sagen: „Du hattest Recht“. Ich mache einen Schritt nach vorne und denke zum ersten Mal in meinem Leben außerhalb der Box.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.05.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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