„Hast du den Verstand verloren?“ schrie Kate und lief mir den Friedhofsweg hinterher.
„Das ist doch vollkommener Schwachsinn! Wir gehen jetzt sofort zurück!“
Ohne auf ihren Protest zu achten ging ich, mit leicht schwankenden Schritten, weiter und versuchte, in der Dunkelheit etwas genaueres zu erkennen.
„Carrie!“ Brutal packte sie meinen Arm und wollte mich gewaltsam wieder vom Friedhof zerren, was ihr aber nicht gelang, weil sie mindestens genauso viel getrunken hatte wie ich.
„Wie kannst du so rumschreien? Hast du denn keinen Respekt vor den Toten?“ fragte ich grinsend.
„Was ist wenn die Bullen jetzt kommen? Verdammt! Ist dir klar, dass die uns festnehmen könnten? Wir könnten im Knast landen! Vielleicht kommen wir sogar nach Amerika und dann...Dann werden wir auf den Elektrischen Stuhl landen! Wir werden sterben!“
„Ich enttäusche dich nur sehr ungern, aber niemand wird uns zum Tode verurteilen nur weil wir nachts auf einem Friedhof sind. Da müssten wir schon jemandem umbringen. Hey, ist das nicht eine tolle Idee?“ sagte ich spöttisch und machte wieder ein paar Schritte weiter, in Richtung Kappelle.
Kate blieb stehen und sah unschlüssig zwischen mir und dem Eingangstor hin und her.
„Was würde passieren, wenn ich jetzt abhaue?“ murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu mir.
Trotzdem antwortete ich: „Ich würde wieder etwas ganz Schlimmes tun und einen Haufen Ärger kriegen, für den ich dich dann verantwortlich mache. Erinnerst du dich nicht mehr, was damals mit John passiert ist?“
Ihr Blick glitt zu einem Grabstein in der letzten Reihe, dessen Inschrift in der Dunkelheit nicht zu erkennen war, aber ich wusste sie sowieso auswendig.
`Hier ruht John Parker. 1980 – 2002`
„Ich wollte dich schon immer mal etwas fragen.“ sagte Kate nachdenklich während sie auf den Umriss des Steines starrte. „Hat es weh getan? Ich mein, hast du dich schlecht gefühlt, als du erfahren hast, das er tot ist? War da Schmerz? Schuld? Trauer?“
„Erinnerst du dich nicht mehr an die Beerdigung? Wie ich mich da benommen habe?“
Sie sah mich leicht spöttisch und zugleich traurig an und antwortete: „Du hast geheult und musstest dich an Sara festklammern, um nicht zusammenzubrechen. Aber das habe ich nicht gemeint. Genauso gut hättest du lachen und rumspringen können. Dein Verhalten sagt nichts über deine Gefühle aus. Du scheinst vergessen zu haben, das ich dich kenne. Meine kleine Julia Roberts hat jeden Tag ihren großen Auftritt und gewinnt jährlich einen Oscar.“
Ich schwieg. Manchmal vergas ich wirklich, das sie mich so gut kannte. Was einem nicht gefällt, verdrängt man eben gerne. Aber in solchen Situationen musste ich mich der Realität stellen und ihr sagen, was los war. Sie konnte einem sonst entsetzlich auf die Nerven gehen.
Notgedrungen erklärte ich: „Anfangs tat es nicht weh. Ich fühlte mich eher wie betäubt. Gelähmt. Ich hab überhaupt nichts empfunden. Erst nach einiger Zeit kam dann der Schmerz.
Und der war wirklich schrecklich. Ich habe mir die Schuld gegeben. Und ich tue es immer noch. Aber das ist die Vergangenheit. Und ich lebe jetzt in der Gegenwart.“
„Nein. Du lebst schon in der Zukunft.“ meinte sie, mit einem Blick auf meine Klamotten.
„Danke. Und jetzt lass uns weitergehen. Schließlich sind wir nicht hier um meine Leichen auszugraben.“ Erst nachdem ich den Satz gesagt hatte, wurde mir die Zweideutigkeit bewusst und ich biss mir auf die Zunge. Kate machte das aber nichts aus. Schneidend fragte sie: „Gibt es denn welche auszugraben? Wenn Ja, hätte ich jetzt gerne eine Schaufel.“
„Sehr witzig. Komm endlich.“ Ich wandte mich der Tür der Kapelle zu und versuchte, sie aufzumachen. Aber es war abgeschlossen. Kein Problem für jemanden wie mich!
Ich zog einen Dietrich aus der Tasche und begann, an dem Schloss rumzumachen.
Es dauerte nur ein paar Sekunden bis ich es geschafft hatte, sie zu öffnen und reingehen konnte. Innen sah es so aus, wie immer. Sechs Holzbänke standen in je Dreier Reihen vor dem Altar, auf dem ein rotes Tuch lag. Dahinter wie üblich ein großes Kreuz.
Lächelnd ging ich durch den Gang nach vorne, mittlerweile schon etwas nüchterner.
„Weißt du was?“ fragte ich und wandte mich zu der Jesus Figur um. „Ich bin nicht hier, um die etwas zu tun. Schließlich hab ich nichts gegen dich oder deinen Glauben. Es ist zwar nicht unbedingt meiner aber...Ich bin ja tolerant. Nein, der Grund, warum ich hier bin, ist folgender...“
„Die Bullen!“ Schreiend stürzte Kate in die Kappelle und knallte die Tür hinter sich zu.
„Ganz ruhig, Darling. Das sind keine Bullen. Sondern Freunde von mir.“
„Freunde von dir? Du hast nicht gesagt, das noch jemand kommt! Weißt du eigentlich, dass ich fast einen Herzstillstand gehabt hätte wegen dir? Auf einmal sehe ich schwarze Gestalten da hinten, die immer näher kommen und...Es war abartig!“ motzte sie mich wütend an.
„Ja, das kann ich mir vorstellen. Für Jemanden wie dich muss das wirklich abartig sein.“
Beipflichtend nickte sie, hielt aber dann plötzlich inne und fragte verblüfft: „Wie meinst du das? Für Jemanden wie mich? Bin ich irgendein Idiot, der vor alles und jedem Angst hat?“
„So hätte ich es zwar nicht ausgedrückt, aber Ja. Das bist du.“ sagte ich entschuldigend.
„Ich fasse es nicht! Und das von dir! Weißt du, was du bist?“
Weiter kam sie nicht, denn in diesem Moment wurde die Tür schwungvoll geöffnet und Kate, die bis eben noch gegen sie gelehnt dagestanden hatte, auf den Boden geworfen.
*Fortsetzung folgt*
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.05.2003.
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