Ernst Dr. Woll

Henne Unbenannt lebte zwar natürlich, wurde aber betrogen

Bei Menschen beginnt ein nüchterner Lebenslauf: „Ich wurde am xxxxx, in yyyyy geboren, mein Vater war zzzzz usw. usf..“ Auch bei züchterisch wertvollen lebend gebärenden Tieren wird Geburtsdatum und Abstammung dokumentiert. Bei Legehennen muss man, wenn man ihre  Lebensgeschichte festhalten will, beginnen: Das Küken schlüpfte am …… aus dem Ei.
Das passierte bei der Henne, ich taufe sie „Unbenannt“,  Mitte der 1960er Jahre in der „individuellen Tierhaltung“ eines „LPG-Bauern“ in einem Dorf in Thüringen. Diese Begriffe und andere, z. B. „genossenschaftliche Tierhaltung“, „Genossenschaftsbauer/ -bäuerin“, „Zootechniker“,  „Viehzuchtbrigadier“ sind heute, 25 Jahre nach der Wende, selbst bei vielen ehemaligen DDR-Bürgern  in Vergessenheit geraten. Dagegen wird jetzt viel über Bio- oder traditionelle Landwirtschaft gesprochen, die mit natürlichen Methoden bei der Herstellung landwirtschaftlicher Erzeugnisse arbeitetet; die damaligen individuellen Tierhaltungen taten dies im weitesten Sinne ebenso.
Unbenannt entwickelte sich in einem Ei, das sich in einem Nest befand auf dem eine Glucke brütete. Als sie geschlüpft war, durfte sie die nächsten Wochen gemeinsam mit allen Geschwistern im großen Garten mit der Henne, die biologisch wahrscheinlich gar nicht ihre .Mutter war, herum spazieren. Ein friedliches, idyllisches Bild; man sah, wie das große Huhn ihren Küken lehrte, wie man im Gras richtig pickt und Leckerbissen findet. Zartbesaitete sollten den folgenden Abschnitt nicht lesen.  
Heute gibt es nur noch im geringen Umfange althergebrachte Landwirtschaft, dagegen werden umfangreich Methoden der Massenproduktion angewandt. Beim Geflügel kommen elektrische Brutschränke zum Einsatz. Die Hühnerküken werden kurz nach dem Schlüpfen nach Eignung als Legehennen oder als Masthähnchen (BRD-Begriff) bzw. Broiler (DDR- Jargon) sortiert. Jedes kaum geschlüpfte Tier muss in die Hand genommen werden, das ist für die kleinen ängstlichen Lebewesen schon der erste Stress. Nun erfolgt das „Sexen“, eine Geschlechtsbestimmung. Die weiblichen Tiere dürfen weiterleben, sie werden Legehennen oder „Legemaschinen“ (in Käfigen) bzw. Masttiere. Aber die männlichen Küken werden in einer Gaskammer getötet und anschließend in einer Tierkörperverwertungsanstalt zu Tierfutter verarbeitet. Weil manchmal sogar das Gas zu teuer ist, werden in brutaler Weise die „zum Tode Verurteilten“ lebend in einen Muser verbracht und dort vermust oder zerhäckselt. Kaum zu glauben, aber gleiches Schicksal erleiden alle Küken, die zum bestimmten einheitlichen Termin noch nicht vollständig aus der Eierschale gekrochen sind.
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Unbenannt war ein knappes halbes Jahr alt, da legte sie schon ihr erstes Ei; sie hatte immer einen großen Auslauf im Garten mit viel frischem Gras. Die Getreidekörner, Eierschalen, zerquetschten Knochen aus den Speiseresten der Bauernfamilie, all das schmeckten ihr auch sehr gut. Also ein glückliches Hühnerleben und bis hierher beste Bedingungen jedoch mit einem ersten Betrug: Ihre Eier wurden nicht befruchtet, weil der Bauer sie von einer 10-köpfigen oder 20-füßigen Hühnergruppe, zu der ein Hahn gehörte, ferngehalten hatte. Dabei ist es doch das Bestreben aller Lebewesen sich fortzupflanzen! Das geht auch beim Geflügel nun einmal nur mit Mann und Frau, wenn auch oft hinsichtlich der wirklichen Abstammung bei dieser Tierart oft ein heilloses Durcheinander herrscht. Vielleicht wollte aber der Bauer nur von den besten Hühnern Nachwuchs gewinnen und hielt deshalb diese Gruppe getrennt.
Bald legte Unbenannt  fast jeden Tag ein Ei, hatte plötzlich Glück, sie wurde zur „Auserwählten“ und kam zur Hühnergruppe mit dem Hahn. Sie war nun in einem Hühnerharem und bildete sich vermutlich ein, die „Lieblingshenne“ des stolzen Hahnes zu sein, sie versuchte zumindest immer in seine Nähe zu kommen und sich anzubieten.
Eines Tages wurde sie von der Frau, die sonst immer fütterte und sehr ruhig mit ihnen umging, gefangen und unsanft am Grund der Flügel festgehalten. Sie landete in einer Kiste mit nur einer kleinen Öffnung und spürte Eier unter sich. Das war für sie jedoch ungewöhnlich, denn die waren größer als ihre eigenen. Das befremdende Empfinden schob sie allerdings von sich, denn sofort erwachte ihr Instinkt für das Brüten. Mit großer Hingabe erfüllte sie nun ihre zugewiesene Aufgabe bis sich unter ihr erstes Leben regte. Als sie die Kleinen erstmals sah bekam sie einen Schreck,  sie hatten ganz komische Schnäbel; man hätte es ihr sagen können: Sie war betrogen worden und hatte Entenküken ausgebrütet! Trotzdem nahm sie den Nachwuchs an und spazierte mit ihm zur Weide, wobei die Küken den Weg bestimmten, der schnurstracks zum Teich führte. Unbenannt lief hinterher und war höchst bestürzt, als die Küken voller Freude ins Wasser sprangen. Ihnen machte die kleine Uferböschung gar nichts aus. Sie getraute sich nicht zu folgen und dachte vielleicht auch, wie sollen die da wieder raus kommen? Jedenfalls gackerte sie laut, lief - ja vielleicht schimpfend - am Ufer hin und her.
Da nahte das Unheil, ein großer Fischreiher fliegt heran, setzte sich zunächst am Ufer ab und lässt sich aber von der wild mit den Flügeln schlagenden auf ihn zu rennenden Henne nicht beeindrucken.  Er schnappt sich ein Entenküken und fliegt davon. Die Kleinen kommen nun zwar ans Ufer, können aber die Böschung, die zum festen Strand führt, nicht überwinden. Unbenannt scheint verzweifelt aber es kommt Rettung. Der Bauernjunge, den sie auch kannte, er half oft beim Füttern, eilt herbei und hilft den Küken, die sich das auch gefallen lassen, das Hindernis zu überwinden. Wahrscheinlich hat er es auch durchgesetzt, dass die jungen Tiere mit ihrer Henne zunächst, bis sie sich selbst gegen Angreifer verteidigen können im eingefriedeten Garten verbleiben. Eine alte ausrangierte Zinkbadewanne wird in die Erde eingelassen, so dass die Küken nun ungehindert in und aus ihren „kleinen Teich“ gelangen können. Auch für die Henne ist jetzt das Ganze überschaubar und sie kann als „Landratte“ auch Beschützerin für ihre Hausentenküken sein.  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.06.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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