Bernhard Pappe

Komm, ich erzähle dir einen Traum


Mit einem guten Freund trinkt man gern Kaffee. Wir zelebrieren das schon seit vielen Jahren, genießen unseren Kaffee, plaudern über Gott, die Welt und schauen dabei in eben jene Welt hinaus, selbst wenn sie sich in einem im Café nur als kleiner Ausschnitt offenbart. Diese Stunden sind mir eine liebe Gewohnheit geworden. Der Filterkaffee ist über die Jahre dem Latte macchiato oder einem Espresso doppio gewichen. Natürlich ist der Kaffee wichtig, aber wichtiger sind die Gespräche zwischen uns, in denen stets Vertrautheit herrscht, trotz durchaus unterschiedlicher Standpunkte zu den Dingen und Dinge gibt es in dieser Welt genug, über die man verschiedener Meinung sein oder gar ein wenig streiten kann.
Der Frühsommer präsentierte sich in seiner vollen Pracht. Der Morgen war jung noch und kühl, ich hatte mich sehr früh aus dem Bett erhoben, des Schlafes an diesem Tage etwas beraubt. Von einem blauen, fast wolkenlosen Himmel herunter wärmte die Sonne die Welt. Das Café liegt in der Innenstadt und von meiner Wohnung aus ein paar Kilometer entfernt. Wir waren, wie immer, so gegen 10 Uhr verabredet. Um diese Zeit ergatterten wir meist, wenn das Wetter uns hold und genehm war, ein hübsches Plätzchen draußen, mit guter Sicht auf die Menschen, die diesen Ort an Samstagen reichlich belebten, aber ein wenig abseits des Trubels. Ich entschied mich gegen das Auto und für das Fahrrad als Transportmittel, da ich nicht in Eile war. Dennoch traf ich weit vor der vereinbarten Zeit im Café ein. Unser Lieblingstisch war noch frei und ich besetzte ihn rasch. Ich machte es mir und in der Sonne bequem, zuckte bei der Frage der Bedienung nach meinen Wünschen leicht zusammen. Die junge, blonde Frau hatte ich nicht an den Tisch herantreten hören. Einen Latte macchiato brachte sie mir umgehend. Ich musste zugeben, sie gefiel mir und als ob sie es ahnen würde, schenkte sie mir beim Servieren ein Lächeln.
Fast hätte ich über dieses Lächeln meinen Freund übersehen, der eiligen Schrittes nahte, aber nun langsamer ausschritt als er mich bereits an unserem Lieblingstisch sitzen sah. Wir begrüßten uns kurz per Handschlag und er ließ sich, leicht außer Atem, auf den Korbsessel neben mit fallen. Die Bedienung war noch in der Nähe und er rief kurz zu ihr hinüber. „Bringen sie mir bitte auch einen.“ Sie nickte als Bestätigung und bald darauf stand vor ihm ebenfalls ein Glas, in dem Milch und Espresso perfekt aufgeschichtet waren.
„Was für ein Tagesbeginn“, begann er unser Gespräch. „Sonne, blauer Himmel, unser Lieblingstisch, ein gute Getränk und die Kellnerin erst, o-la-la. Uns geht’s gut, oder?“
Vielleicht hatte die junge Bedienung seine Worte gehört. Sie war nur wenige Tische entfernt und er hatte seine Worte laut genug ausgesprochen, wohl mit entsprechendem Kalkül. Ein leichtes Lächeln huschte über ihr Antlitz.
„Ich füge dem nichts hinzu“, erwiderte ich und jeder nahm einen Schluck aus dem Kaffeeglas. Die Tische um uns herum füllten sich zusehends mit gutgelaunten Menschen. Unser Gespräch war eher oberflächlich und erfüllt mit den Themen, die sich in den letzten zwei Wochen ereignet hatten. Wir waren dankbar, dass unser beider Leben in recht gleichmäßigen Bahnen verlief. Es hatte turbulentere Zeiten gegeben und auch heute gab es genügend Ecken und Kanten darin, an denen sich jeder seine blauen Flecke holen konnte. Irgendwann hatten wir bemerkt, dass unsere Gespräche durchaus Abstand zu Problemen schaffen konnten. Ein sehr befriedigendes Gefühl.
Wir hielten im Gespräch inne, um uns ein wenig im Café umzuschauen. Was mochten das für Menschen in unserer Umgebung sein, welche Berufe hatten sie, welche Träume träumten sie, welche Beziehungen gingen sie ein? Diese Art Gedankenspiel spielten wir beide gern. Konnte man sich in Menschen hineinversetzen? Wie viel gab ihr Äußeres von ihnen Preis? Gewiss redeten andere Menschen ein paar Tische weiter über uns, so, wie wir es über sie taten. Wenn sich ihre und unsere Blicke mitten im Raum trafen, konnte man es vermuten.
„Trinken wir noch einen Latte macchiato?“ Seine Stimme ließ mich aus meinen Gedanken auffahren.
„Gern“, erwiderte ich knapp und er bestellt umgehend das Getränk.
Ein paar Minuten bedurfte es nur, was bei der Fülle im Café erstaunlich war, und jugendliche Schönheit servierte den Kaffee. Unser Dank fiel entsprechend wortreich aus.
Mein Freund lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück und schaute mich direkt an.
„Was wolltest du mir denn noch erzählen?“
„Wie kommst du darauf?“
„Lass gut sein, ich kenne dich lang genug, um das zu spüren.“
Ich blickte zuerst auf den Milchschaum im Kaffeeglas, um mich ein wenig zu sammeln, obwohl ich die Worte schon vor Tagen in meinem Kopf sortiert hatte. Mein Traumerlebnis wollte ich ihm unbedingt erzählen.
„Ich möchte dir von einem Traum berichten. Der Traum ist ein wenig seltsam. Sind das nicht alle Träume?“
Ich hielt für einen Moment inne, doch er unterbrach mich nicht, nickte nur kurz mit dem Kopf als Zeichen, dass er mir lauschte.
„Ich muss dazu sagen“, fuhr ich fort, „der Traum hat sich in den nachfolgenden Nächten nicht wiederholt, es gab quasi keine Fortsetzung, aber am Tage steigen seine Bilder immer wieder mal in mir auf.
Die Traumnacht liegt schon ein paar Wochen zurück. Ich maß dem Traum anfangs wenig Bedeutung bei. Er erschien mir nur kurz gewesen zu sein, soweit es für Träume überhaupt ein Zeitgefühl gibt. Ich hatte schon intensivere Träume als diesen. Du kennst das, wenn man nach einer eigentlich durchschlafenen Nacht am Morgen erschöpft erwacht. Meine Traumerlebnisse verflüchtigen sich normalerweise sehr schnell, wenn sie überhaupt die Grenzen des Erwachens erreichen. Das Seltsame an dem Traum war, ich konnte mich nach meinem Erwachen gut an ihn erinnern und Tage später ebenso. Soviel zur Einleitung und nun die eigentliche Story.
In diesem Traum sah ich mein Tun und durchlebt es gleichzeitig. Ich stand in einer Art Flur vor einer Tür und hatte deren Klinke bereits in der Hand. Spontan schien ich sie nicht öffnen zu wollen. Es gab keine Begründung für mein Zögern. Vielleicht, weil sie in die Dunkelheit dieses Flures eingebettet war. Es gab kein Licht und ich erinnerte mich nicht, darin irgendeine Art von Kontur ausgemacht zu haben. Ein strukturloser Raum mit einer Tür. Ist doch seltsam, oder? Im Traum war die Situation keineswegs seltsam. Ich überwand mein Zögern, drückte die Klinke der Tür nieder und öffnete sie langsam in den dahinterliegenden Raum hinein.
Ich trat in ein Zimmer, was ebenfalls unbeleuchtet war. Ein winziger Lichtschein breitete sich jedoch von der Wand gegenüber aus. Dieser Raum hier war nicht unbestimmt, er hatte eine Struktur, Wände, eine Decke. Es kam mir der Gedanke an einen Dachboden. Das Licht in der Ecke wurde etwas heller. Öffneten sich meine Augen dafür oder strahlte es wirklich heller? Meine Pupillen sollten weit geöffnet sein, ich kam schließlich aus dem dunklen Flur. Ich ging behutsamen Schrittes in die Richtung des Lichts. Eine Art Truhe, deren Deckel nicht ganz geschlossen war, schälte sich aus der Dunkelheit. Aus dem Spalt strömte das Licht, was mir im Augenblick noch intensiver erschien. In der Truhe musste etwas sehr Helles liegen. Ich hielt inne und überlegte, ob ich den Deckel anheben sollte. Beim Umschauen bestätigte sich, ich war auf einer Art Dachboden, der, bis auf die Truhe, aber völlig leer schien. Warum stand sie hier und ich unentschlossen vor ihr? Eine Hand wanderte zum Deckel, um ihn ein wenig anzuheben, die andere war zur Abwehr bereit. Die Truhe wirkte massiv, doch ihr Deckel ließ sich leicht aufklappen. Es schlug mir kein blendendes Licht entgegen. Das Licht war hell, aber harmonisch und wohltuend. Der Inhalt lag nun vor mir, leuchtende Kugeln unterschiedlicher Größe. Es lagen kleine Kugeln darin, die eher einer Glasmurmel glichen, aber auch Kugeln, die größer als ein Fußball waren. Ihnen war gemeinsam, dass es in ihrem Innern pulsiert, als wäre Leben darin. Ich nahm eine Kugel heraus, sie hatte die Größe eines Tennisballs und ich konnte sie gut auf meine Handfläche legen. Die Helligkeit veränderte sich kaum. Ihr Licht war kräftig genug, um auch mich komplett in Helligkeit einzuhüllen. Ich drehte und wendete sie, spürte jedoch kein wirkliches Gewicht. In ihr formten sich immer neue Muster. Was, wenn es sich um ein Universum handelte? Ein kurioser Gedanke. Dann wäre ich ein Gott mit einem Universum vor dem Urknall in meinen Händen. Warum sollte Gott seine Universen in einer Truhe auf einem Dachboden aufbewahren? Ich schüttelte den Gedanken ab.
Ich legte die Kugel behutsam zurück und entnahm der Truhe eine neue. Sie war etwas größer und ebenso ohne Gewicht. Die Muster in ihr glichen nicht denen der ersten Kugel. War jede der Kugeln einzigartig? Ein, von wem auch immer, geschaffenes Unikat? Ich legte die zweite Kugel wieder an ihren Platz. Ich sah mich vor der Truhe und eingetaucht in dieses Licht stehen, was von den Kugeln ausging. Ihre Muster spiegelten sich auf meiner Gestalt. Was, wenn es Gedanken waren, meine Gedanken, die lebten, die sich zu Universen auswachsen konnten? Dann war ich doch ein Gott, der etwas erschaffen konnte…
Hier brach der Traum durch mein Erwachen ab. Ich weiß noch, dass ich recht schnell aus diesem Traum glitt. Ich konnte mich offenen Auges an jedes Detail erinnern. Alles blieb mir bis heute im Gedächtnis und ist als Erinnerung quasi abrufbar. Diesen oder einen ähnlichen Traum hatte ich bisher noch nicht erlebt. Dessen war und bin ich mir, warum auch immer, sehr sicher, obwohl uns unsere Träume meist verschlossen bleiben.“
Ich blickte zu meinem Freund hinüber. Ein längerer Augenblick der Stille breitete sich zwischen uns aus. Es setzte sein Kaffeeglas sehr bedächtig auf dem Tisch ab, so als wolle er ein paar Sekunden Zeit gewinnen, um eine Antwort auf meine Geschichte zu formulieren. Er lehnte sich zurück, wich meinem Blick nicht aus.
„Du überrascht mich…“
„Danke, wenn du das so siehst“, warf ich schnell ein.
„Ich liebe Überraschungen solcher Art. Ich muss mich bei dir bedanken, weil du mir diesen Traum erzählt hast. Er harrt wohl einer Deutung und ich bin kein Traumdeuter. Der Traum ist eines Physikers würdig. Ganze Universen in einer Truhe aufzubewahren.“
Mit einer kurzen Handbewegung unterband er einen weiteren Einwand meinerseits.
„Wenn ich mir vorstelle, ein Universum in der Hand zu halten, es vielleicht in einen strukturlosen Raum zu entlassen. Jede Kugel wird für sich ein differentes Universum ergeben. Was für ein Abenteuer.“
Er hielt kurz inne und ließ mich meinerseits in ein Erstaunen gleiten. Mein Freund fühlte sich quasi in den Traum ein. Da war kein Versuch einer Deutung, einer Analyse oder gar einer Zergliederung. Von mir fiel eine Anspannung ab, die mich während des Erzählens in Bann gehalten hatte, auch ich lehnte mich in meinem Sessel zurück. Er schlug seine Beine übereinander, was ein Zeichen seines Wohlbefindens war.
„Dein Traum ist köstlich und göttlich. Darauf müssen wir uns zwei Espresso genehmigen.“
Er gab der Bedienung seine Bestellung auf und wandte sich wieder mir zu.
„Ein Schöpfungsmythos beginnend auf einem Dachboden. Schließlich müssen die Götter ihre Urstoffe irgendwo lagern. Ich wette, diese Art Schöpfung ist in deinen Büchern nicht nachzulesen gewesen.“
„Ich weiß, du hast mich mal einen Wühlkisten-Esoteriker genannt.“
Er fing an zu lachen. Ich hatte tatsächlich einige Bücher über Götter und Schöpfungsmythen aus Stößen preisgesenkter Bücher gezogen und mit Interesse gelesen.
„Du nanntest mich im Gegenzug einen Puristen, der ich manchmal ja auch bin.“
Ich stimmte in sein Lachen ein.
„Bitte meine Herren“, unterbrach uns eine Stimme hinter meinem Rücken. Wir hatten die junge Dame nicht bemerkt. Sie befreite uns von den leeren Kaffeegläsern und servierte den heißen Espresso in kleinen, doppelwandigen Gläsern.
„Unser Kaffee scheint ja sehr anregend zu sein“, sagte sie mit einem gewinnenden, fast wissenden Lächeln und entschwand unserem Blickfeld.
„Wirklich sehr anregend“, hörte ich meinen Freund flüstern. Er nahm den Gesprächsfaden wieder auf. „Was denkst du selbst über deinen Traum?“
Ich machte eine Geste der Unentschlossenheit. „Tja, so recht weiß ich das auch nicht. Übrigens ist das Erstaunen ganz auf meiner Seite, was deine Reaktion auf meine Traumgeschichte anbelangt.“
Er lachte wieder. „Du hältst mich wohl für einen gnadenlosen Rationalisten?“
„Willst du darauf eine Antwort?“
Er schüttelte, immer noch lachend, den Kopf. „Nein, weder einer ehrliche, noch eine geschönte. Schreibe deinen Traum auf. Er darf nicht verlorengehen. Wenn diese Kugeln Gedanken sind, dann lasse sie frei und erschaffe aus ihnen ein Gedankenuniversum oder zwei oder drei. Diese Art Universum kommt der Unendlichkeit garantiert sehr nahe. Es ist schon spät und meine Besorgungen harren der Erledigung.“
Mein Freund trank schnell seinen Espresso aus, erhob sich und gab mir zum Abschied die Hand. „Träum was Schönes und vergiss nicht, es mir beim nächsten Mal zu erzählen. Ich gewähre dir eine Gunst. Du darfst jetzt die Rechnung zahlen und kommst daher nochmals in den Genuss so reizenden Gesellschaft. Übrigens kann man auch von so was träumen und die Träume sind gewiss ein eigenes und wundervolles Universum.“
Er wandte sich um und verschwand nach einem kurzen Winken in der Menschenmenge, die sich über die Straße ergoss.
Ich zahlte wenig später. Ein erneutes Lächeln und zwei träumerische Augen bestärkten mich in der Meinung, dass Leidenschaft und Liebe mit absoluter Sicherheit unendliche und ebenso unergründliche Universen erschaffen.

© BPa / 07-2014

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.07.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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