Manfred Bieschke-Behm

Blinder Spaziergang



Alles sehende ist ihm fremd. Werner ist blind geboren und kennt deshalb nur diese, seine dunkle Welt. Für Werner ist das nicht sehen können selbstverständlich. Er hat gelernt, dass Geräusche, Gerüche und vieles mehr "Wegweiser" für ihn sind. Werner meint von sich, ein glücklicher Mensch zu sein. Seien Erlebniswelt ist bunt, sagt er, bunt, wie er sich bunt vorstellt. Er hat gelernt, dass Farben unterschiedliche Temperaturen entwickeln. Und deshalb erfreut er sich an den Farben blau, rot und grün wie ein sehender, eben nur anders.
Grün mag Werner besonders. Auch deshalb geht er gern im Wald spazieren. Gerade neulich hat er zu jemandem gesagt, dass er gerne im Wald leben würde. Was nicht geht, und das Weiß Werner auch. Weil er nicht auf Dauer im Wald sein kann, besucht er den Wald, so oft es geht. Er kennt seinen Weg zum Wald, wie kaum einen anderen Weg. Schon bevor er den Waldrand erreicht hat, riecht er ihn. Der Geruch ist es, der Werner noch sicherer macht, als er sich sowieso fühlt. Der Waldgeruch ist sein Wegweiser. Endlich ist er am Ziel. Werner läuft nicht gleich in den Wald. Zunächst verharrt er und versucht mit all ihm zur Verfügung stehenden Sinne den Wald, seinen Wald, wahrzunehmen. Werner liebt den typischen Harz Geruch und den Geruch von Tannenzapfen die den Waldboden bedecken. Er freut sich auf den Geruch von Pilzen zur entsprechenden Jahreszeit. Auch das Gras hat für ihn eine charakteristische Duftnote. Liegen geschlagene Baumstämme gestapelt am Wegrand übereinander, nimmt er auch diesen für ihn melancholischen Geruch auf. Zusätzlich betastet der den Baumstammstapel und freut sich, wenn er merkt, dass alles Holz fein säuberlich gestapelt ist. Werner meint, dass der Geruch von gefällten Bäumen der Geruch des Todes ist. In solchem Moment fühlt sich Werner unbehaglich. Nur gut, dass es sich von diesem Geruch immer wieder befreien kann und versucht neue, andere Gerüche aufzunehmen. Zum Beispiel Waldmeister oder Waldhimbeeren. Beider Gerüche lassen bei ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Hört er das Summen der Bienen, assoziiert er damit  Honig. Honig,den er so mag. Werner ist immer wieder aufs Neue verblüfft, wie Nase und Gaumen sich gegenseitig stimulieren.
Werner nimmt immer den gleichen Weg. Mit ihm ist er vertraut. Er meint jeden Baum zu kennen und jeden Strauch. Der kleine Bachlauf, rechts neben ihm, ist eine Art Orientierungshilfe. Er hört nicht nur das Wasser, er schmeckt es auch. Hat es kräftig geregnet, ist das Geräusch des Bachlaufes ein anderes, ein kräftigeres. Und auch der Geschmack hat sich verändert.
Gelegentlich unternimmt Werner schon in den frühen Morgenstunden seinen Waldspaziergang. Nur in der Frühe lässt sich das hundertfach unterstützte Vogelkonzert anhören. Werner malt sich aus, dass alle Vögel des Waldes sich vereint haben, um ihm einen musikalischen Morgengruß zu senden. Natürlich weiß Werner, dass das nur in seiner Einbildung Realität ist. Aber, so empfindet es Werner, es ist eine wunderbare Vorstellung, die er immer wieder aufs Neue schmunzelnd genießt.
Die Sonne, die ihre Strahlen durch die Baumwipfel zur Erde schickt, kann Werner nicht sehen. Er spürt die wohltuende Wärme der Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und weiß diese Augenblicke zu genießen. Nicht selten bedankt sich Werner für diese Glücksmomente und hofft, dass es niemanden gibt, der seine Dankesworte hört.
Obwohl Werner seinen Waldweg ungezählt oft abgelaufen ist, entdeckt er immer wieder neues. Es ist erst ein paar Tage her, als er gegen etwas stieß, das ihn zum Innehalten zwang. Was ist das, über das ich fast ins Straucheln geriet, denkt Werner. Vorsichtig bückt er sich und versucht das Unbekannte zu ertasten. Für das Erforschen hat er nur die linke Hand zur Verfügung. Die rechte Hand umfasst seinen Orientierungsstock, ohne den er nirgends wo hin geht. Sein Abtasten bringt keine Klarheit. Vorsichtig hebt er das unbekannte Objekt auf. Das "Ding" ist leicht, hat eine runde Form und eine Vertiefung. Es besteht aus bekanntem Material. Werner stellt sich aufrecht und versucht seinen Geruchssinn für die Objektbestimmung mit einzubeziehen. Der Gegenstand hat unterschiedliche Gerüche. Werner riecht vertrocknetes Gras, gleichzeitig trockenes Holz aber auch den typischen Geruch von abgestorbenen Blättern. Als störend empfindet er einen etwas strengen Geruch. Dieser erinnert ihn an den Geruch, den er wahrnahm, als er sich bei seinem Freund in dessen Taubenschlag aufhielt. Also irgendwie muss das Gebilde etwas mit Vögeln zu tun haben, denkt Werner und merkt, wie langsam seine Anspannung nachlässt. Dennoch ist er verunsichert und weiß nicht was er tun soll. Er dreht sich langsam im Kreis als wolle er sehen, wo er den aufgehobenen Gegenstand sicher ablegen kann.
Ein Spaziergänger, der aus der entgegen kommenden Richtung auf Werner zusteuert, und die hilflos scheinende Person beobachtet, bleibt in Werners Nähe stehen und fragt, ob er helfen könne. Werner freut sich über den Zufall und erkundigt sich zunächst, was er in der Hand hält. Das ist ein verlassenes Vogelnest, sagt der freundliche Herr. Ein Vogelnest das vermutlich aus einem Baum fiel. Werner ist beruhigt. Einmal, weil er jetzt weiß um was es sich bei seinem Fund handelt, und zum zweiten, weil er so schnell Aufklärung erfuhr. Jetzt möchte Werner wissen wohin mit dem Nest. Der Spaziergänger schlägt vor das Nest auf einem Baumstumpf ganz in ihrer Nähe abzulegen. Damit ist Werner einverstanden. Auf die Frage ob er, der Spaziergänger, das Nest ablegen soll, antwortet Werner mit einem freundlichen nein. "Ich würde es gerne selbst tun. Wenn Sie so freundlich wären mich zum Baumstumpf zu führen, wäre ich Ihnen sehr dankbar." "Selbstverständlich führe ich Sie zum Baumstumpf." Gesagt, getan. Beide machen sich auf den Weg. Mit Unterstützung des Spaziergängers kann Werner das Vogelnest vorsichtig ablegen. "Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?" erkundigt sich der Spaziergänger. Und als er hört, dass alles in Ordnung ist verabschieden sich beide Herren voneinander. Der Spaziergänger setzt seinen geplanten Weg fort und auch Werner führt seinen Spaziergang fort. Er merkt, dass er ein wenig unsicher läuft. Er weiß, dass er dem Waldweg gegenüber erst wieder Vertrauen aufbauen muss. Durch seinen Orientierungsstock gelingt ihm das sehr schnell. Werner lächelt und denkt: Es wird ja nicht gleich wieder ein Vogelnest auf dem Waldboden liegen. Und wenn dem so ist, weiß er künftig damit umzugehen.
 

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