Kerstin Stelzer

Nachtschicht

Ein in künstliches Licht eingetauchter langer und schmaler Gang, leise Musik aus dem leicht altersschwachen Radio und ein Gefühl von innerer Ruhe - das sind meine Begleiter durch jene Stunden in der die Stadt schläft. Manchmal ist da auch eine Spur von Einsamkeit, die Angst vor den Geräuschen in der Nacht, welche mit dem Fortschreiten der Zeit immer deutlicher zu werden scheinen.Ist es der Wind, der durch die Bäume streift? Bewegt sich vielleicht ein Fenster und ich höre ein leises Knarren? Oder war das eben eine Tür? Ist vielleicht doch ein Patient auf dem Flur? Habe ich gerade einen Schatten gesehen?
Der erste Rundgang durch die Patientenzimmer verläuft ohne nennenswerte Zwischenfälle. Den größten Teil der Menschen, die sich heute Nacht in meiner Obhut befinden, werde ich irgendwann vergessen haben. Vergessen werde ich die zahlreichen frisch Operierten, die von mir besonders überwacht werden, die älteren, gebrechlichen, die ich mit ihren Rollatoren zur Toilette begleite und all jene, die schon schlafen und denen ich den Kopfhörer abnehme und den Fernseher ausschalte. Erinnern werde ich mich an die junge Frau mit der schlechten Prognose, die heute bereits bei ihrer Familie ist. Ich wünsche ihr in Gedanken,dass sie das nächste Weihnachtsfest noch mit ihnen feiern kann. Ich werde mich an den Mann erinnern, der heute Nacht im Sterben liegt. Seine Frau ist bei ihm. Wenn der Tod sich irgendwie gut anfühlen kann, dann in diesem Moment. Zwar schwebt die Seele noch für Stunden zwischen den Welten, bevor sie sich endgültig entschließt, zu gehen, doch der Mensch, der fünfzig Jahre an seiner Seite war, begleitet ihn auf seinem letzten Weg. So sollte es sein. So ist es richtig. Der Mann hat einen Herzschrittmacher. Das bedeutet, jedes Mal,wenn der Körper am Aufgeben ist, wird er, wie eine Maschine durch einen Motor neu gestartet. Die Frau möchte, dass dieser "Motor" abgestellt, das Sterben nicht unnötig verlängert wird. Ich telefoniere mit dem diensthabenden Arzt, habe jedoch wenig Hoffnung. So ist es dann auch. "Wir sind nicht Gott, haben nicht über Leben und Tod zu entscheiden." sind seine Worte.
Ich habe meinen ersten Rundgang beendet, gehe ins Dienstzimmer um von dort aus den Türöffner in den Nachtmodus umzuschalten. So kann keiner unbemerkt die Station verlassen oder betreten. Da ich auf mich allein angewiesen bin, fühle ich mich ein wenig sicherer und kann mit den Routinearbeiten beginnen. Ich setze Medikamente für den nächsten Tag, gebe die Apothekenbestellung auf, kontrolliere Schränke, bereite Infusionen vor und behalte dabei 25 Patienten im Auge. Die Zeit scheint dabei mein größter Feind zu sein. Ich sehe mich kurz im Spiegel und der Anblick gefällt mir nicht. Im grellen Lichtschein sieht die nicht mehr ganz so junge Haut noch älter aus. Jahrzehntelange Schichtdienste, chronischer Schlafmangel und viel zu viel Kaffee haben ihre Spuren hinterlassen. Es lässt sich nicht leugnen: meine besten Jahre sind vorbei! Doch ich weiß auch, dass das was noch kommt, gut werden wird.
Irgendwann klingelt das Telefon. Ich erkenne die Nummer auf dem Display und freue mich. Es ist mein Mann. Wenn er es irgendwie möglich machen kann, ruft er mich nachts an. Manchmal, bevor er schlafen geht, manchmal, wenn er wach wird und mich an seiner Seite vermisst. Er möchte mich auf keinen Fall stören, meistens ist das Gespräch auch nicht sehr lang. Aber ich habe diesen Moment für ihn fest in meine Schicht eingeplant.
Meine uneingeschränkte Hochachtung gilt heute Nacht der alten Frau, die am Bett ihres Mannes sitzt. Ich bringe ihr eine Tasse Tee. Mehr kann ich nicht tun. Mehr möchte sie auch nicht.
Die Uhr zeigt auf halb drei, als ich bei einem Patienten, welcher am Tag eine Schildsrüsenoperation ohne Komplikationen überstanden hatte, eine Nachblutung entdecke.Es ist eine kleine Sickerblutung, die auch durch meinen sofortigen Verbanswechsel nicht zum Stillstand komm und ich bin gezwungen, den Arzt zu wecken, welcher auch wenig später zur Stelle ist. Die Wunde wird mit zwei Stichen genäht und die Blutung steht. Der Patient wird in den nächsten Stunden keine weitere Blutung, keine Schluckbeschwerden und keine Atemnot haben und alles ist gut.
Langsam verabschiedet sich die Nacht. Die Vögel beginnen ihr frühmorgendliches Konzert, die Sonne geht auf und die Frau mit dem großen Reingungswagen geht auf ihre erste Runde. Auf dem Flur kommt mir die alte Frau entgegen. Ich sehe es, sie muß nichts sagen. Ihr Mann ist tot. Sie wirkt ganz ruhig und gefasst. Ich nehme sie in die Arme und spreche im gleichen Atemzug des Beileids meine Bewunderung aus. Dafür, dass sie bei ihm war. Die ganze Zeit. Noch einmal telefoniere ich mit dem diensthabenden Arzt und im Anschluss mit der Tochter des Patienten. Sie kommt wenig später, um sich von ihrem Vater zu verabschieden.
Der Morgen ist angekommen, so wie meine Kolleginen auch. Ich übergebe an die nächste Schicht und freue mich auf mein Zuhause, meinen Mann, meinen Sohn, mein Bett und auf einen neuen Tag.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.07.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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