Manfred Bieschke-Behm

Der stumme Wald



Gerlinde hat aufgehört zu hören. Nicht freiwillig. Eine üble Krankheit hat sie gehörlos gemacht. Das ist viele Jahre her. Zwölf Jahre war sie alt, als es anfing, um sie herum still zu werden. Irgendwann war es vorbei, anderen zuhören zu können. Das war keine einfache Zeit für sie. Sie musste lernen ihr Leben annehmen zu wollen, so wie es jeder tun muss, der sich trotz Handicap den Spaß am Leben nicht nehmen lassen will. Gerlinde ließ sich nicht unterkriegen. Sie lernte die Gebärdensprache und holte sich den Spaß am Leben zurück.
Wann immer es ihre Zeit erlaubt gönnt sie sich ausführliche Spaziergänge im nahe gelegenen Wald, in dem sich ein kleiner der Zeit entrückt wirkender See befindet. Ihren wachen Augen entgeht nichts. Sie sieht brütende Vögel, die aufpassend auf ihren Nestern hocken und beobachtet scheue Rehe, die sich im Hintergrund aufhalten und hoffen, nicht entdeckt zu werden. Sie erfreut sich über das sich hin und her wiegende hochgewachsene Gras. Sie weiß, dass es der Wind ist, der sie träumen lässt, in einem Zauberwald zu sein. Und dennoch wünscht sie sich, dass Feen und Elfen aus dem Nichts vor ihren Augen erscheinen um sie zu begrüßen. Das er nur bunte Falter sind, die sich hinterherjagen und von der Frühsommersonne anziehen lassen, rauben ihr nicht die Illusion.
Manchmal erinnert sich Gerlinde an jene Zeit, wo sie noch hören konnte. Und deshalb kennt sie das Geräusch, das entsteht, wenn auf abgebrochene Kleinäste getreten wird. Die Knackgeräusche haben sich bei ihr erhaltenswert eingebrannt und deshalb nutzt sie jede Gelegenheit, auf Bruchholz zu treten und freut sich darüber wie ein Kind. Das ist dann eines jener Momente, wo sie glaubt, nicht aufgehört hat zu hören.
Gerlinde behauptet von sich, dass ihre Welt nicht stumm ist. Ihr Erinnerungsvermögen schickt ihr ausreichend Töne, sodass sie das hört, was sie hören will. Es gibt aber auch im Leben von Gerlinde Momente, wo sie sich weigert, abgespeicherte Geräusche zu bemühen. Das sich jene Augenblicke, wo sie von Tönen nicht abgeleckt werden möchte. Zum Beispiel heute wo Gerlinde auf ihrer Lieblingsbank am Waldsee sitzt und den Blick über den ruhig daliegenden See, in dem sich die Bäume, die am gegenüberliegenden Ufer stehen, spiegeln. Sie beobachtet Wolken, die so scheint es, in den See gefallen sind und darauf warten geerntet zu werden. Illusion. Egal. Für Gerlinde sind es Glücksmomente, in denen sie spürt, dass ihr die Welt nicht weggerutscht ist.
Der leicht aufkommende Wind spielt mit ihrem Haar und lässt immer größer werdende Kreise auf der Oberfläche des Sees entstehen. Gerlinde wird es leicht schwindlig und schließt ihre Augen. Sie wendet ihr Gesicht in die Richtung, aus dem der Wind weht. Sie will ihn ganz intensiv spüren und sich nicht irgendwelchen Sinnestäuschungen hingeben.
 
Gerlinde hat bei all ihren Unternehmungen immer ihr Tagebuch dabei. Alles, was ihr bei den Waldspaziergängen durch den Kopf geht, was sie sieht, was sie riecht, manchmal auch, was sie schmeckt und was sie angefasst hat, vertraut sie ihrem Tagebuch an. Unzählige Seiten hat sie schon vollgeschrieben, schon unzählige Bleistifte anschaffen müssen. Gerlinde weiß, dass sich Glück auf Dauer nicht festhalten lässt. Das Glück ist wie ein Schmetterling: flatterhaft und nicht fähig lange zu verweilen. Gerlinde hält ihre Glücksmomente mit Worten fest und kann sich jederzeit an sie erinnern lassen. In solchen Momenten betritt sie einen Raum außerhalb der Zeit und weiß, dass das nur ihr der Zugang gewährt ist.
Gerlinde plant irgendwann ein Buch über all die Dinge, die sie bewegen und beglücken zu schreiben. Sie hat auch schon einen Titel: "Der stumme Wald".   
 

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