Manfred Bieschke-Behm

Stuhlgespäche



"Ist das toll", sagt der alte Lehnstuhl zum nicht viel jüngeren Lehnstuhl, dem eine Lehne fehlt. Der Eine-Lehne-Stuhl, der mit dem Zwei-Lehnen-Stuhl im menschenleeren Wohnzimmer steht, merkt zunächst nicht, dass er angesprochen wird. Erst nach einer sich wiederholende Ansprache merkt er, dass er gemeint ist und reagiert, indem er fragend antwortet: "Was ist toll?" "Na dass wir ungestört beieinander stehen und uns unterhalten können!" "Ach so. - Ja das stimmt, wir sind unter uns - aber über was sollen wir uns unterhalten?", will der Ein-Lehnen-Stuhl wissen. "Es gibt doch so viel Themen über die wir uns unterhalten können", reagiert der Zwei-Lehnen-Stuhl ohne konkreter zu werden. "Ja - gibt es die?" ist die vorsichtig formulierte Rückfrage vom Eine-Lehne-Stuhl. "Ja sicher" plustert sich der Zwei-Lehnen-Stuhl auf und will beginnen, doch der Eine-Lehne-Stuhl fährt ihm mit der Aufforderung "na dann nenne mir mal ein Thema" ins Wort. "Na zum Beispiel gestern, als Tante Frederike und Onkel Klaus-Jürgen zu Besuch waren und auf uns saßen". "Erinnere mich nur nicht an gestern" fleht der Eine-Lehne-Stuhl und merkt, dass ihm unwohl wird. Der Zwei-Lehnen-Stuhl ist verunsichert und versucht sich krampfhaft zu erinnern, was gestern so außergewöhnliches gewesen sein soll. Ihm fällt keine Besonderheit ein und deshalb fragt er nach:  "Was war denn gestern, dass dich so unangenehm berührt?" "Mir wäre lieber gewesen, du hättest den gestrigen Besuch nicht erwähnt. Jetzt kommt alles wieder hoch." Während er das sagt, denkt er: lieber stumm, als über unangenehme Sachen sprechen. Der Zwei-Lehnen-Stuhl lässt nicht locker. Er erkennt nicht die fatale Situation die er durch sein Redebedürfnis heraufbeschworen hat und fordert den Eine-Lehne-Stuhl auf ihn aufzuklären. Der Eine-Lehne-Stuhl bockt. Wenn er könnte, würde er sich weg drehen, und dem Zwei-Lehnen-Stuhl die blanke Schulter zeigen. Der Eine-Lehne-Stuhl findet sich damit ab, sich dem Gespräch nicht entziehen zu können und sagt schlecht gelaunt: "Du kannst dich doch sicherlich noch an die Zeit erinnern, wo auch ich zwei Lehnen besaß, und so aussah wie du?""Natürlich kann ich mich daran erinnern, ich habe doch keine Erinnerungslücken" ist die schroffe Reaktion vom Zwei-Lehnen-Stuhl. Er fährt fort in dem es ergänzend fragt "Aber was hat das alles mit dem gestrigen Besuch zu tun? - Du hast doch schon seit ewigen Zeiten nur eine Lehne?" "Na wenn du dich daran erinnerst, dann müsstest du wissen, wobei ich meine linke Lehne verloren habe", meckert der Eine-Lehne-Stuhl. Der Zwei-Lehnen-Stuhl versucht beruhigend und verständnisvoll zu reagieren in dem er antwortet: "Natürlich weiß ich wie du deine linke Lehne verloren hast. Ich höre es jetzt noch fürchterlich krachen - Es müssen wahnsinnige Schmerzen gewesen sein, sie du auszuhalten hattest." "Das kannst du laut sagen, ich hätte aufschreien können. Aber ich war wie betäubt und schreien hätte auch nichts genutzt, denn Menschen verstehen unsere Stuhlsprache nicht. - Ich sehe es jetzt ganz deutlich vor mir, wie Tante Frederike ins Wohnzimmer kam und direkt auf mich zusteuerte. Ihr schwerer Gang und ihre - sagen wir mal - unvorteilhafte Figur ließen nichts Gutes ahnen. Sie rückte mich barsch zurecht, drehte sich um, hielt sich an meinen Lehen fest und…. und ließ sich rückwärts fallen. Rums hat es gemacht und gleich danach ist es passiert: Was sie nicht glaubte, ich aber ahnte, ist die Tatsache, dass ihre ausladende Figur nicht zwischen meine zwei Lehen passte. Es kam, wie es komme musste, meine linke Lehne brach ohrenbetäubend laut weg. Ich war entsetzt und ohnmachtsnah. Tante Frederike schrie auf und meinte was so ein morscher Stuhl hier im Wohnzimmer verloren hätte. Ich hätte mir das Genick oder sonst was brechen können!" Der Zwei-Lehnen-Stuhl versteht die Wut und auch den Wunsch eigentlich über den Lehnenverlust nicht sprechen zu wollen. Aber nun ist es passiert und lässt sich nicht rückgängig machen. Der Zwei-Lehnen-Stuhl überlegt kurz was er sagen soll und sagt dann: "Es tut mir wirklich leid, dass ich Schuld daran bin, dass es dir gerade nicht gut geht." Fast entschuldigend fügt er an: Genauso gut hätte es auch mich treffen können. Wir sind figürlich dicht beieinander. Genauso gut hätte sich Tante Frederike auch auf mich setzten können. Und wenn ich Pech gehabt hätte, wäre eine meiner Lehen weggebrochen, vielleicht sogar beide." Dem Eine-Lehne-Stuhl tut die Anteilnahme gut, wenngleich sich an der Gesamtsituation nichts ändert, dennoch sagt er: "Das finde ich nett von dir, dass du so denkst und so mit mir redest." Jetzt ist der Punkt gekommen, wo beide Lehnstühle in Selbstmitleid fast zerfließen. Eines drauf setzt noch der Zwei-Lehnen-Stuhl in dem er sagt: "Ich bin von uns beiden der Ältere. Schau mich an, wie abgetakelt ich aussehe. Viel Zeit bleibt mir sowieso nicht mehr bis zur Ausmusterung, und da wäre es dann auch nur gerecht gewesen, wenn ich meine Lehne verloren hätte und du deine behalten hättest können." Das was der Eine-Lehne-Stuhl jetzt hören musste stimmt ihn traurig und er wollte das dem Zwei-Lehnen-Stuhl gerade mitteilen, als die Tür zum Wohnzimmer aufgeht. Herein kommt Onkel Klaus-Jürgen. Unter dem Arm geklemmt eine Säge und in der Hand hält er einen Werkzeugkoffer. "Was soll das?", denken beide Lehnstühle. Sie ahnen nichts Gutes. Onkel Klaus-Jürgen steuert indes direkt auf den Eine-Lehne-Stuhl zu und legt neben ihm sein Werkzeug ab. Erst jetzt entdeckt der Eine-Lehne-Stuhl, dass Onkel Klaus-Jürgen seine zweite Lehne bei sich führt. Geschickt hantierend wird die zweite Lehne wieder angebaut. Der Vorgang ist nicht ganz schmerzfrei für den beschädigten Lehnstuhl aber führt zu einem guten Ende. Als das Werk vollbracht ist sagt Onkel Klaus-Jürgen zum nun wieder Zwei-Lehnen-Stuhl: "Eines verspreche ich Dir, Tante Frederike wird sich nie wieder auf dich daraufsetzen. Nochmal passiert das nicht, was passiert war." Der wieder hergerichtete Lehnstuhl sagt "Danke" was Onkel Klaus-Jürgen natürlich nicht hört, denn er versteht die Stuhlsprache ja nicht.   

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