Klaus-D. Heid

Wir sehen uns...

Nach zwei Stunden hatte ich es endlich geschafft...

Als ich - mittlerweile total erschöpft - die Spitzhacke mit Wucht nach unten sausen ließ, stieß sie in das Holz des Sarges. Es war ein dumpfer hohler Ton, der mir mitteilte, dass ich ganz kurz vor meinem Ziel stand.

Mit den Händen entfernte ich die Wurzeln, die sich an einigen Stellen bereits durch das morsche Holz gearbeitet hatten. Ich nahm eine Schaufel zu Hilfe, um die letzten störenden Erdreste aus dem Grab zu befördern, die mich von jenem Augenblick trennten, auf den ich fast ein halbes Jahrhundert gewartet hatte. Dann, als die schmucklose Holzkiste einigermaßen gut freigelegt war, warf ich Schaufel und Spitzhacke auf die Erdhügel, die das Grab wie eine Mauer aus schwarzem Tod umgaben.

„Hast lange auf mich gewartet, mein lieber Bruder. Und? Bist Du nun ungeduldig? Möchtest Du, dass ich mich spute...?“

Fast zärtlich strich ich mit den Fingern über den kalten Deckel des Sarges. Ich wischte ein paar Erdklumpen von ihm, als ginge es darum, einen edlen Stoff von einem winzigen Fussel zu befreien.

„Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, Bruderherz? Du weißt es noch? Natürlich weißt Du’s noch. Es sind – auf den Tag genau – fünfzig lange Jahre, die wir getrennt waren. Eine lange Zeit, nicht wahr? Oder kam es Dir gar nicht so lange vor? Also ich kann wirklich sagen, dass ich Dich sehr vermisst habe. Ich habe den Moment sehnsüchtig herbeigesehnt, an dem ich Dich wiedersehen darf.“

Die batteriebetriebene Leuchte, die es mir ermöglichte, mitten in der Nacht das Grab auszuheben, warf ein wunderschön diffuses Licht in die Grube. Würde man mich jetzt sehen können, musste man mich wahrscheinlich für die Leiche halten, die sich selbst ihren Weg in die Freiheit gebahnt hatte, da ich vom Kopf bis zu den Füßen mit Staub und Erde bedeckt war. Außerdem würde mein Gesichtsausdruck garantiert jeden unschuldigen Betrachter an den Rand eines Schocks treiben, denn die Vorfreude auf das Öffnen des Sarges verlieh mir ein diabolisches Grinsen.

„Es ist soweit, lieber Bruder! Fast hätte ich gesagt, dass Du noch mal tief Luft holen sollst, bevor Du wieder den herrlichen Geruch von Tannen und Nachtwind schnuppern darfst. Aber ich denke, dass Du vielleicht etwas Probleme haben könntest, was das Atmen angeht...!“

Ich kicherte irre, als ich nach der Zange griff, um die Nägel aus dem Sargdeckel zu ziehen. Glücklicherweise war die Kiste so morsch, dass es mir keine Mühe machte, einen nach dem anderen Nagel herauszuziehen.
Dann, als ich sicher war, den Deckel öffnen zu können, lehnte ich mich noch einmal lässig an die feuchte Wand der Grube, zog ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Hosentasche – und zündete mir die erste ‚Lucky’ dieser Nacht an.

Der Rauch der Zigarette stieg langsam aus der Grube heraus und wurde dann von lauen Nachwind über die vielen Gräber der Menschen verteilt, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Mich amüsierte der Gedanke, dass ‚Passivrauchen’ in dieser Nacht keinen einigen Nikotingegner zu Protesten animierte. Brav, friedlich und mucksmäuschenstill lag man nebeneinander und ahnte nicht, was sich abspielte.
Ich schnippte die dreiviertel aufgerauchte Zigarette in das verschlingende Schwarz der Nacht und beugte mich lächelnd über den Sargdecke.

„Na, Brüderchen..., bist Du jetzt gespannt, was Dich erwartet? Es könnte sein, dass Du ein paar Probleme mit den Gelenken hast, weil Du Dich ja kaum bewegen konntest. Aber ich bin mir ganz sicher, dass ein paar Lockerungsübungen ganz schnell für Entspannung sorgen werden.
Möchtest Du, dass ich vorher die Lampe etwas anders platziere? Ich will ja nicht, dass Dich das Licht blendet. Am Besten wird’s sein, wenn Du die Augen noch ein paar Minuten geschlossen lässt, bis Du Dich an die Umgebung gewöhnt hast.

So. Alles klar? Kann’s losgehen? An mir liegt es nicht mehr. Du musst nur ein Zeichen geben, dass ich den Deckel anheben soll. Wie wär’s mit einem Klopfen? So wie früher? Unser Erkennungsklopfen? Fünfmal langsam hintereinander? Weißt Du’s noch?“

Fünfzig Jahre! Eine verdammt lange Zeit für die meisten Menschen, die sich höchstens achtzig oder neunzig Jahre durchs Leben quälen, um dann an dieser Stätte der Einsamkeit zu vermodern, bis sie sich in nichts von der Erde unterscheiden, in der sie begraben sind.
Andererseits sind fünfzig Jahre ein Fliegenschiss für Geschöpfe, deren Dasein sich nicht nach menschlichen Begriffen messen lässt. Ein halbes Jahrhundert ist Nichts, wenn es sich im Laufe von Jahrtausenden verliert.

‚Klopf... Klopf... Klopf... Klopf... Klopf’

„Na, ist das denn wahr? Du bist soweit? Ich möchte lieber nicht wissen, wie lang Deine Fingernägel inzwischen sind, Bruderherz. Erinnerst Du Dich daran, wie oft ich Dich ermahnt habe, sie regelmäßig zu schneiden, damit wir keinen Ärger mit den Leuten bekommen? Es ist heutzutage einfach nicht schick, mit derartigen Krallen herumzulaufen. Und Du? Wolltest nie auf mich hören. Du musstest immer Deinen verdammten Dickschädel durchsetzen. Dich hat’s einen Dreck gekümmert, was die Leute sagen.

Und? Hast Du die Zeit genutzt, um etwas nachzudenken? Oder möchtest Du weitermachen, wie zuvor? Ahnst Du eigentlich, wie schwer es mir fiel, dass ich ständig auf Dich achten musste? Kannst Du Dir vorstellen, wie viel Mühe es mich gekostet hat, all die Menschen zu beseitigen, die Du ja unbedingt für Dein Vergnügen brauchtest?“

‚Klopf... Klopf... Klopf... Klopf... Klopf’

Er wird ungeduldig, der Gute.

„Mach jetzt keinen Stress, Brüderchen. Auf die paar Minuten kommt’s jetzt auch nicht mehr an. Geduld war schon immer dein Problem, nicht wahr? Hättest Du damals etwas mehr Geduld an den Tag gelegt, wäre es gar nicht erst dazu gekommen, dass ich hier im Dreck stehe und mir die Nacht um die Ohren haue.“

‚Klopf... Klopf... Klopf... Klopf... Klopf’

Er konnte den Deckel nicht selbst öffnen. Wohlweislich hatte man den Sargdeckel in geweihtem Wasser getränkt, was zur Folge hat, dass es immer jemanden geben muss, der den Sargdeckel von außen öffnet.

Ich grinste, als ich das zornige Kratzen am Holz hörte, während ich den ersten neuen Nagel in den Sargdeckel schlug. Obwohl ich ein lausiger Handwerker bin, schaffte ich es im immer schwächer werdenden Licht der Lampe, insgesamt 32 Nägel ins Holz zu schlagen, bis ich sicher war, dass er wieder gut verschlossen war.

„Ich hab’s mir anders überlegt, Bruderherz. Vielleicht schaue ich noch mal in fünfzig Jahren vorbei. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Du noch ein wenig hier bleiben solltest.

Ich werde Marie-Kathrin von Dir grüßen, ja? Nein? Auch gut. Sie hat Dich eh nie sonderlich gemocht. Und außerdem stirbt sie bald. Meine neue Frau wird mir auch manch amüsante Nacht garantieren. Ist schon schade, dass Du sie kaum kennen lernen wirst....!

Es war wirklich nett, mit Dir zu plaudern; aber jetzt muss ich mich sputen, dass alles wieder so hergerichtet wird, wie zuvor. Wir wollen doch nicht, dass man verdacht schöpft, oder? Mach’s gut, mein Lieber. Und denk ein bisschen daran, wie herrlich ruhig Du’s hier hast.“

Das Kratzen verstummte erst, als ich ein letztes Mal mit dem Spaten auf die Erde schlug, die nun wieder das Grab bedeckte.

Mein Bruder hatte es nie verstanden, sich mit der Zeit, in der wir lebten, zu arrangieren. Ich konnte es unmöglich riskieren, dass er wieder alles in meinem Umfeld tötete, was ihm über den Weg lief. Vielleicht schaue ich noch mal vorbei, wenn Marie-Kathrin den Weg allen Irdischen beschritten hat. Vielleicht.

Vielleicht aber auch nicht...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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