Christa Astl

Hannelore





"DU MUSST DIR HELFEN"
 
 
Zufällig begegneten sich die Nachbarinnen wieder einmal. Früher waren die beiden oft beisammen, hatten miteinander an ihren neuerbauten Häusern gearbeitet, wenn die Männer tagsüber am Arbeitsplatz waren. Später allerdings hatten sie sich auseinander gelebt, obwohl ihre Grundstücke aneinander grenzten. Jede hatte ihre Familie, die eine stieg, als ihr Kind zur Schule ging, wieder in den Beruf ein, die andere war mit mehreren Kindern den ganzen Tag gefordert, hatte also weder Zeit noch Lust, und erst keine Ruhe für einen Kaffeeplausch.
 
So lebten sie lange Zeit dahin, die Zeiten änderten sich. Beide waren nun in den Sechzigern, die Kinder groß und außer Haus, da schlug das Schicksal zu: Der Mann der Nachbarin wurde krank, litt viele Jahre, bis er starb. Für sie, die schon vorher durch ihre Berufstätigkeit und die Pflege ihres Mannes überfordert war, brach nun die Welt zusammen. Anstatt es sich nun schön zu machen, wie wohlmeinende Freundinnen rieten, versank sie in ihrer Trauer, erstickte sich in Selbstvorwürfen, zeitweise auch in Hass auf ihren Mann, der ihr in seiner letzten Zeit, wahrscheinlich auf Grund seiner Schmerzen, und vollgestopft mit Medikamenten, das Leben zur Hölle auf Erden gemacht hatte.
Auch die Tochter litt. Sie fühlte sich mehr dem Vater zugetan als der Mutter, von der sie sich immer zu streng gehalten vorkam. Deshalb war sie auch in eine weiter entfernte Stadt gezogen. Jetzt, durch den Tod des Ehemannes und Vaters bedingt, mussten die zwei Frauen wieder Kontakt aufnehmen. Es gab zahlreiche bürokratische Hürden zu meistern, Anträge wegen der Witwenpension, des Erbes, es war ein Dauerlauf von Amt zu Amt, und immer wieder kam es zu Konfrontationen, die in einem Streit endeten. Die gemeinsame Trauer führte sie nur unwesentlich zusammen.
Die Tochter, schon seit der Schulzeit in psychologischer Betreuung und dadurch Sorgenkind der Mutter, flüchtete in die Arme ihres Therapeuten, die Mutter blieb allein.
Schon noch zu Lebzeiten des kranken Mannes ging es Hannelore immer schlechter. Seine Krankheit, ihr Sorgen, ihr Leben lief zwischen Arbeit, um den nötigen Lebensunterhalt bestreiten zu können, und Pflege, die bald auch in der Nacht nötig war, zehrte an ihren Kräften. Sie magerte ab, war nervös, zittrig, und weinte, sobald man sie ansprach. Hilfe von außen wollte sie aber nicht annehmen. Ein kurzes Aufatmen für sie, wenn er wieder einmal im Krankenhaus war. Und dort ist er dann gestorben, die Tochter war in der letzten Stunde bei ihm, sie selbst hätte es nicht geschafft.
Hannelore ging nicht mehr aus dem Haus, die Rollläden blieben auch tagsüber geschlossen, sie verbrachte die meiste Zeit im Bett, kümmerte sich um kein Essen, keinen Haushalt mehr, ging nicht einkaufen…. bis die Tochter sie in eine Klinik einwies. Widerstandslos ließ sie es geschehen.
Ein halbes Jahr verbrachte sie dort. Gespräche, einzeln oder in der Gruppe, Arbeitstherapie, Kunsttherapie, viel Bewegung und vor allem Medikamente sollten sie psychisch stabilisieren.
Endlich durfte Hannelore probeweise nach Hause. Die Tochter holte sie ab, verdrängte ihren eigenen seelischen Zustand, wollte stark sein und der Mutter helfen.

Natürlich war der Nachbarin aufgefallen, dass ständig die Rollläden geschlossen waren. Sie sah aber niemanden, den sie fragen konnte. Einmal hatte sie gewagt, anzurufen, natürlich hatte niemand abgehoben.
Sobald ich ihre Rückkunft bemerkte, besuchte ich sie. Schon beim ersten Wort, das ich an sie richtete, kamen ihr die Tränen. Hilflos hing sie an meinem Hals, zitterte wie Espenlaub, atmete hastig und flach. Sie, die starke, immer gesunde und homorvolle Frau, - ein Häuflein Elend war sie geworden. Ich konnte nur stehen, sie halten, ihr sanft den Rücken streicheln, sie dann zur Bank hinter dem Haus führen. Stockend, von Schluchzen geschüttelt, sagte sie immer nur: ich kann nicht mehr, es ist alles so schwer, mir geht es so schlecht. Bereitwillig holte ihre Tochter die Medikamente und wartete, bis Mutter sich so weit beruhigt hatte, dass sie sich ins Bett legen konnte.
Jetzt war es an der Tochter, mir ihr Herz auszuschütten. Ihre Trauer um den Vater, den sie so vermisste, ihr Unverständnis, dass Mutter sich anscheinend so gehen ließ, alles ihr, der ohnehin kranken Tochter übergab, dass auch sie sich nicht mehr aussah. Lange saßen wir beisammen, sie redete, erzählte alles, was sie belastete und bedrückte, allmählich wurde sie ruhiger. Behutsam konnte ich ein wenig nachfragen, um Dinge in ein anderes Licht zu rücken. – „Ach, ich war so froh, mit dir jetzt reden zu dürfen“, meinte sie zum Schluss. Als dann ihre Mutter wieder hinzu kam, mit ein paar Gläsern Saft, redeten wir noch einige Zeit über belanglose Dinge im engsten Umfeld, bis auch mich die Alltagspflicht wieder nach Hause rief.
Einige Tage beobachtete ich die Rollläden, rief Hannelore an, wollte sie einladen, doch das konnte sie nicht. Sie fühlte sich auf der Straße von den Menschen angestarrt, verurteilt, - warum konnte sie nicht sagen. Sie bat mich aber manchmal, zu ihr zu kommen.
Immerhin gelang es mir, sie zu kleineren Spaziergängen in den Wald mitzunehmen. Die Natur tat ihr gut, wie sie dann immer wieder beteuerte. Ihre Schritte wurden im Wald sicherer, ihr Gang ruhiger, ihr Atem tiefer und gleichmäßiger. Wenn ihr danach war, erzählte sie von der letzten Zeit mit ihrem Mann, von Bekannten, von der Therapie, die sie beginnen sollte und fragte mich um meine Meinung. Zu vielem konnte ich sie nur bestärken, sie motivieren, wie z.B. einkaufen zu gehen. Anfangs begleitete ich sie sogar ins Geschäft.
Viele Wochen dauerte ihre Genesung, seelische Einbrüche führten sie wieder in die Klinik. Doch die Zeiten zu Hause wurden immer länger. Oft konnten wir sogar lachen, wenn wir auf Begebenheiten aus früheren Zeiten zurückblickten.
Auch ihr Blick nach vorne wurde klarer, ihr Alltag wurde durch verschiedene Termine strukturiert. Bald wagte sie es wieder, mit dem Auto zu fahren.
 
Ja, und heute traf ich sie auf der Straße. Seit dem Sommer geht es ihr richtig gut, sagte sie und strahlte über das ganze Gesicht. Und jetzt müsse sie nach R. fahren, was ein gutes Stück von hier weg ist. Eine Bekannte, die mit ihr in der Klinik war, hatte sich das Leben genommen.
 
 
ChA 20.02.14
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.08.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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