Helmut Wurm

Sokrates und die Tagung Gute Schule



Ein kurzes, aber auf die Kernprobleme hin komprimiertes Theaterstück in 3 Akten
 
I: Vorab-Information:
 
Das deutsche Schulwesen ist gegenüber früheren Jahrzehnten im internationalen Vergleich (Ranking) kontinuierlich abgesunken - auf ein durchschnittliches und teilweise sogar auf ein unterdurchschnittliches Niveau. Auch im innerdeutschen Ländervergleich gibt es erhebliche Niveauunterschiede. Das macht Schulpädagogen, Bildungspolitikern und der Wirtschaft Sorgen - außer den illusionären Schul-Gutmenschen, die auf andere Ziele Wert legen.
 
Im Rahmen dieser Entwicklung scheint etwas verloren gegangen zu sein, welche Merkmale eigentlich eine Gute Schule kennzeichnen und woran man sich künftig orientieren soll. Unter Gute Schule sind hier nicht die Modelle der pädagogischen Gutmenschen gemeint.
 
Diejenigen, die sich begründete Sorgen machen, haben zu einer Tagung eingeladen, auf der rein sachlich und realitätsbezogen besprochen werden soll, was die Merkmale einer "Guten Schule" sind, damit sich die Schulen vor Ort, die Schulverwaltungen und die Lehrer wieder auf solche Ziele und Merkmale hin orientieren können.
 
Es hat sich allerdings wegen dieser Beschränkung auf strenge Realitätsbezogenheit nur ein kleiner, allerdings hochkarätiger Kreis von Tagungsteilnehmern zusammen gefunden - denn viele Menschen, die im Schulsystem mitreden und mitreden wollen, sind von Hoffnungen, Gefühlen, Idealen und auch Träumen beeinflusst…
 
Die Tagung hat früh begonnen, Sokrates ist als geachteter Beobachter eingeladen und gekommen.
 
II: Das Bühnenbild:
 
Das Bühnenbild ist einfach. Ein freier Platz, dahinter ein Gebäude, an dessen Front ein Schild hängt mit der Aufschrift "Tagung zum Thema Gute Schule". Aus diesem Gebäude dringen Stimmen, mal ruhigere, mal heftigere, aber konkret zu verstehen ist nichts.
 
In einer Ecke des Platzes hat ein Obst- und Gemüsehändler seinen Stand aufgeschlagen.
Er verkauft auch belegte Brötchen mit Senf. Dieser Stand wird eine abschließende Rolle spielen.
 
III: Der 1. Akt:
 
Vor diesem Gebäude stehen viele Menschen, ihrem Aussehen und Verhalten nach gehören die meisten zu den idealistischen Gutmenschen, die die Welt anders beurteilen als nach realistischen Aspekten und die die Welt, die Gesellschaft und die Menschen auch anders machen wollen, als sie nach ihren Anlagen und nach den Gegebenheiten gemacht werden können. 
 
Diese Menschen, vor allem die idealistischen Gutmenschen, stehen nicht erwartungsvoll ruhig vor dem Gebäude und warten auf Ergebnisse der Tagung, sondern versuchen, wie es bei ihnen oft üblich ist, die Tagung durch Rufe von außen zu beeinflussen. Man hört z.B.:
 
Ein Gutmenschen-Meinungsführer: Eine Gute Schule legt auf ganz andere Bereich wert als auf Vermittlung von Wissen und auf Lernen - das muss berücksichtigt werden!
 
Unterstützende Rufe aus der Schar seiner Anhänger: Jawohl, jawohl… Wir brauchen keine gute und breite Allgemeinbildung, die Naturmenschen waren und sind glücklicher als wir… 
 
Was kümmert es uns, wenn die anderen Länder bessere Wissenschaftler, Ingenieure, Ärzte und Fachleute haben. Wir brauchen kein hohes Lebensniveau…
 
Wenn alle Ackerbau und Gartenbau betreiben und Fahrrad fahren, werden wir alle satt und sind gesund…
 
Schulstress lässt die natürliche Kreativität der Kinder verkümmern…  
 
Ein anderer Gutmenschen-Meinungsführer: Die Schule muss äußerlich und innerlich eine Wohlfühl-Schule werden, dann lernen die Schüler wieder gerne und lernen mehr!
 
Unterstützende Rufe aus der Schar seiner Anhänger: Dazu muss jede Schule ein grünes Paradies werden, voller üppiger Pflanzen, Blumen, Rasenstücken…
 
Und grüne Wände und kleine Springbrunnen müssen eine entspannte Atmosphäre schaffen…
 
Und die Tische dürfen nicht mehr viereckig sein, sondern rund oder oval oder gebuchtet oder trapezförmig…
 
Und überall müssen schallschluckende Elemente installiert werden, an Decken, Wänden und Böden, denn man kann heute nicht mehr Ruhe durch ruhiges Schülerverhalten fordern, sondern man muss Ruhe durch die Technik schaffen…
 
Und die Lehrer und Schüler müssen alle per-Du sein, denn Hierarchie belastet die Kinder…
 
Und die Lehrer müssen immer freundlich und gut gelaunt sein und alles ruhig angehen…
 
Und es darf möglichst wenig Verbote in der Schule geben, denn die belasten ebenfalls und fordern zum Gegenteil heraus…
 
Wenn alle Menschen und besonders Kinder frei von Zwängen leben können, sind sie gute Menschen…
 
Und es muss eine zeitliche Gliederung des Tages in Unterrichtsstunden abgeschafft werden. Jeder Schüler soll lernen und sich entspannen, wie und wann er will. Das ist Voraussetzung für ein Sich-Wohlfühlen…
 
Und es dürfen nur noch solche Menschen Lehrer werden, die ein positives pädagogisches Charisma ausstrahlen, ein Charisma, das die Schüler fesselt…
 
Ein weiterer Gutmenschen-Meinungsführer: Es darf nur noch eine Einheitsschule geben, keine organisatorischen Unterschiede und keine Lage-Unterschiede verschiedener Schularten. Jede Differenzierung muss abgeschafft werden!
 
Unterstützende Rufe aus der Schar seiner Anhänger: Wir brauchen keine Gymnasien und Schulen mit unterschiedlichem Niveau. Alle Menschen und Schüler sind gleich begabt und könnten gleich lernen…
 
Schulen mit einem hohen Niveau schaffen nur Dünkel-Gefühle bei ihren Schülern…
 
Alle Schüler müssen in einer Lerngruppe gemeinsam lernen. Ein fauler Schüler beginnt sofort zu lernen, wenn er neben einem fleißigen sitzt…
 
Das soziale Verantwortungsgefühl wird bei Kindern verstärkt entwickelt, wenn verschiedene  Schülertypen zusammen in einer Lerngruppe sitzen…
 
Wir brauchen keine Schülerschicht, die mehr lernt und eingebildet ist. Ein mittleres Niveau reicht völlig aus…
 
Ein nächster Gutmenschen-Meinungsführer:
 
Statt Wissen, Können und Bildung müssen in der Schule Toleranz, Demokratie und Liebe zum Mitmenschen vermittelt werden. Das sollen die neuen Ziele unserer Menschenbildung werden!
 
Unterstützende Rufe aus der Schar seiner Anhänger:
 
Durch die Einheitsschule lernen die Schüler am besten Toleranz…
 
Und die Lehrer sollen erkennen lassen, dass sie die Schüler lieben und dass diese Liebe ihnen die Kraft für ihre Tätigkeit gibt…
 
Und im Unterricht soll immer wieder das Thema einer menschheitsumfassenden Liebe behandelt werden. Jeder muss jeden lieben können, auch wenn der andere eine ganz andere Lebensart und andere Lebensziele hat…
 
Und weil die Schüler selber bestimmen können, wann und wo und wie sie lernen, lernen sie täglich demokratisches Handeln und demokratische Toleranz den anderen gegenüber und besonders diese anderen freundlich zu ertragen…  
  
IV: Der 2. Akt:
 
Das Stimmengewirr im Tagungsgebäude ist allmählich abgeflaut. Man hat offensichtlich ein Ergebnis oder zumindest eine Basis gefunden, mit der die Tagungsteilnehmer als Plattform für weitere Gespräche leben können. Sokrates tritt als Sprecher vor das Gebäude und sagt zu den wartenden Gutmenschen:
 
Sokrates: Diese Tagung stand bewusst unter dem Blickwinkel der absoluten soziologischen und human-biologischen Realität. Damit ist gemeint, dass analysiert wurde, wie der junge Mensch anthropologisch und psychologisch "angelegt" ist, welche Wirkungen die Erziehung und die sonstigen Einflüsse der Umwelt auf die Entwicklung der Kindern haben und unter welchen Lernbedingungen welche Ergebnisse zu erreichen sind. Jeglicher realitätsfremde Idealismus und jegliches unwissenschaftliche und unbewiesenes pädagogische Denken wurden vermieden.
 
Nach Referaten, Diskussionen und Gesprächen, die auch teilweise heftig waren, aber stets auf dem Boden der Realität blieben, sind die Tagungsteilnehmer zu folgender Grundbasis gekommen, auf der weiter geforscht, geplant, organisiert und unterrichtet werden sollte.
Ich stelle die Ergebnisse kurz vor:
 
1. Die Menschen allgemein und damit auch die Schüler sind von ihren individuellen Anlagen und Lebensumwelten her nicht gleich, sondern teilweise erheblich unterschiedlich. Der Mensch ist ein human-biologisches Wesen, das in einer jeweils unterschiedlichen lokalen und  soziologischen Umwelt lebt und zurechtkommen muss.
 
2. Es kann deswegen kein "richtiges einheitliches" Schulsystem geben, sondern je nach den soziologischen Bedingungen, der realen Schülersituation, den individuellen Anlagen und den jeweiligen Elternwünschen muss das Schulwesen, Lehren und Lernen unterschiedlich organisiert sein. Dabei kommen alle Schulformen, Unterrichtsformen und Lernformen in die Auswahl.
 
3. Wir können uns im Rahmen der immer mehr vernetzten globalen Welt nicht im Lernen und Lernniveau ausklinken und eine "Naturvölker- und Steinzeitbildung" anstreben. Wenn dies das staatliche Schulwesen anstrebt, wird parallel dazu das private und differenzierte Schulwesen immer mehr ausgebaut werden. Die Gesellschaft benötigt hochqualifizierte Personen, die in Schule und Universität gefördert worden sind.
 
4. Es ist für die innere Entwicklung der Jugendlichen wichtig, dass sie Frust, Unlustgefühle,
Lernen aus Pflicht, Lernwiderstände und Gebote und Normen kennenlernen und lernen, diese zu überwinden. Die belastungsfreie ideale "Schonwelt für Jugendliche" schadet mehr als sie nützt.
 
5. Innerhalb der Schule sollte es bei den Lehrern einen Konsens bezüglich ihres Verhaltens gegenüber den Schülern geben. Denn wenn sich Lehrer gegenüber Schülern gegenseitig ausspielen, schadet das dem Schulleben und Bildungsergebnis. Denn Schüler neigen dazu, den bequemsten Lehrer und das bequemste Lernniveau als Orientierung zu wählen und anspruchsvolleren Lehrern beim Lehren Schwierigkeiten zu machen.
 
6. Es ist weniger wichtig, wie die Lernumwelt gestaltet ist. Die Wohnzimmer-Atmosphäre wird in ihrer Bedeutung für das Lernen überschätzt. Wichtiger ist, wie man Schüler von der Notwendigkeit des Lernens überzeugt. Ernsthaftes Lernen ist auch in nüchterner Umgebung möglich.
 
7. Der Lehrerberuf darf keine Domäne für pädagogisch besonders Begabte werden. Das Bildungssystem muss in seinen  Detailstrukturen so gestaltet sein, dass auch Menschen ohne pädagogisches Charisma, aber mit ernsthafter Bereitschaft und echter Freude am Lehrerberuf im Bildungssystem mitarbeiten können. Denn es gibt zu wenige Menschen mit einem besonderen pädagogischen Charisma, um die notwendigen Stellen zu besetzen. Die Schulaufsicht hat deswegen engagierte und fleißige Lehrer im Schulalltag zu unterstützen, denn diese stabilisieren das Schulwesen.  
 
Das Bildungssystem darf aber andererseits auch keine Domäne für solche sein, die eine feste Arbeitsstelle, eine relativ gute Bezahlung, viel Ferien und freie Nachmittage schätzen.
Solche Bequem-Lehrer schwächen das Schulwesen.
 
Damit dreht sich Sokrates um und geht zurück in das Tagungsgebäude
 
V: 3. Akt:
 
Auf dem Platz vor dem Tagungsgebäude bricht ein heftiger Spektakel und viel Geschrei los. Viele Gutmenschen heben die Fäuste und beginnen nach den Tomaten am nächstgelegenen Marktstand zu greifen. Man hört Rufe wie:
 
Das ist das Programm von pädagogischen Konterrevolutionären…
 
Diese angebliche Basis wirft alle unsere Hoffnungen auf eine Revolution im Bildungswesen auf den Müllhaufen…
 
Wo bleiben bei diesem Tagungsergebnis unsere Ideale, Visionen, wertvollen Utopien und hohen Ziele…
Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen. Jeder, der eine andere Meinung hat und andere Ziele verfolgt wie wir, zeigt, dass er dumm ist. Denn nur Dummheit kann der Grund sein, von uns abzuweichen…
 
Gegen Dummheit muss man sich wehren. Wehrt Euch gegen diese Rückschrittler, nieder mit diesen Dummen…  
 
Bewerft ihre Autos, besprüht sie mit Farbe, beschmiert sie mit Senf…
 
Immer mehr Gutmenschen stürzen zum Gemüse- und Obststand und bewaffnen sich mit reifem Obst und Gemüseköpfen und öffnen die Senfbüchsen. Als die Tagungsteilnehmer dann aus dem Gebäude treten, werden sie mit reifem Obst beworfen, sie müssen sich vor den Wurfgeschossen aus Gemüseköpfen ducken und die Windschutzscheiben ihrer Autos werden mit Senf beschmiert.
 
Sokrates versucht anfangs verzweifelt zu beschwichtigen. Aber dann gibt er es auf, denn er kennt aus seiner langen historischen Erfahrung, wie schwer es ist, erregte oder in Aufruhr geratene idealistische Gutmenschen zu beruhigen. Denn Glauben ist hartnäckiger und auch gefährlicher als Realismus.
 
Zurück bleibt der jammernde Gemüsehändler vor seinem halbleeren Stand. Er ringt verzweifelt die Hände…
 
 
(Verfasst vom discipulus Sokratis, der als Begleiter des Sokrates mit bei diesem Ereignis war und anschließend den Umhang des Sokrates von den Tomatenflecken reinigte, denn Sokrates hatte mit seiner bekannten Haltung zur Ausgewogenheit natürlich auch den Zorn der Gutmenschen auf sich gezogen; August 2014.)
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.08.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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