Hans K. Reiter

Adele

Als Adele am frühen Morgen das Haus verlässt, ahnt sie nichts von den schicksalhaften Zufällen, bei denen sie eine unvergessliche Rolle spielen sollte.

Es ist exakt 5:30 Uhr, als der Wecker den Bauarbeiter Martin Huber unsanft aus dem Schlaf reisst. Schlaftrunken torkelt er ins Bad. Die Kaffeemaschine in der Küche spuckt eine lauwarme Brühe aus. Mist, sagt er zu sich, wird Zeit, dass ich sie reparieren lasse. Dieses Gebräu kann ja niemand trinken! Ein Blick auf die Uhr am Küchentisch. Er muss sich beeilen. Die Fuhre Zement muss pünktlich auf der Baustelle sein. Brückenbau, spätestens um halbacht muss die Ladung abgeladen sein. Der Mischer steht dann bereit und die Leute müssen pünktlich mit dem Gießen beginnen.

Um 6:00 läuten die Glocken der Dorfkirche, wie jeden Tag, zum Angelusgebet, ein alter Brauch der katholischen Kirche, der bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht. Manche der Gläubigen machen sich schon auf den Weg zur Kirche, bevor sie dann ihrem Tagwerk nachgehen.

Adele hatte nur ein kleines Frühstück zu sich genommen, etwas Kaffee und ein Brot. Ein Blick aus dem Fenster, blauer Himmel zog auf. Wird warm werden heut’, dachte Sie und zog nur eine leichte Jacke über. Fünfzehn Minuten noch, dann würde der Morgenbus sie in knapp 20 Minuten in die Stadt bringen. Dann gute 10 Minuten zu Fuss und sie würde wie jeden Tag ihren Arbeitsplatz erreicht haben. Sie fing früh an. Die Arbeit in der Molkerei war zwar nicht gerade besonders aufregend, aber irgendwie machte sie ihr trotzdem Spass. Adele war heute erst etwas spät aus dem Bett gekommen und die Kirchenglocken signalisierten ihr, dass sie sich ein wenig sputen musste. Kurz vor halb sieben schloss sie die Wohnungstüre, eilte die Treppe hinunter und war wenig später über der Straße, gerade, als der Bus um die Ecke bog.

Martin Huber hörte die morgendlichen Kirchenglocken ebenfalls, als er sich die zweite Tasse Kaffee eingoss. Er hatte noch ein paar Minuten, dann musste er los. Er nahm den Bus, es waren nur zwei Haltestellen bis zum Zementwerk. Eine junge Frau sass bereits im Bus und nickte einen Morgengruss, als er zustieg und ein n’Morgen brummte, seine Variante von guten Morgen. Sonst sah er keine Fahrgäste.

Häuser, Gärten und Felder flogen vorüber. Adele registrierte, dass der Mann schon zwei Stationen später wieder ausstieg. Arbeitet sicher im Zementwerk, dachte sie und war’s zufrieden, dass sie mit der Molkerei einen besseren Fang gemacht hatte, wie sie meinte. Ein paar Leute waren zugestiegen, aber sie nahm keine Notiz davon.

Der schwere Motor des Zementlasters bremste Wagen und Hänger ab, als Martin Huber kurz nach sieben Uhr auf die Baustelle einbog. Beinahe hätte er den Bus, der ihn zur Arbeit gebracht hatte, noch eingeholt. Er war ein geübter Fahrer und wenn kein Verkehr war, dann liess er den Wagen schon mal laufen. Das Abladen ging zügig voran. Die Arbeiter wussten genau, was sie zu tun hatten. Jeder Handgriff sass. Eine knappe Stunde später schon rollte der nun leere Lastzug zur Ausfahrt der Baustelle, die auf der gegenüberliegenden Seite der Einfahrt lag. Ein Spiegel gab die Sicht nach rechts auf die nur schwer einsehbare Straße frei. Ein kurzer Blick, dann den Kopf nach links. Niemand! Gekonnt steuerte Martin Huber den Lastzug nach links auf die Fahrbahn.

Adele arbeitete im Büro und konnte die Straße einsehen, wenn sie aus dem Fenster blickte. Von Weitem sah sie einen Lastzug aus der Baustelle in die Straße zur Molkerei einfahren. Arbeiten auch schon früh, die Leute, murmelte sie vor sich hin.

Die Erstklässler begannen ihren Unterricht um acht Uhr fünfzehn, eine viertel Stunde später als die anderen Schüler. Sie sollten im Trubel der heranstürmenden Buben und Mädchen nicht untergehen, war die Überlegung. Das funktionierte jeden Tag ganz prima und die Eltern, die ihre Kinder mit dem Auto zur Schule brachten, fanden auch leichter einen Parkplatz.

Wieder ein kurzer Blick aus dem Fenster. Weiter entfernt registrierte Adele auf der gegenüberliegenden Strassenseite einen Schulranzen, der sich mit grellen Farben von seinem Träger abhob. Auch ein Erstklässler, dachte sie. Einer, der schon alleine zur Schule geht.

Martin Huber beschleunigte seinen Lastzug nur mässig, denn die übernächste Strasse bei der Schule musste er links abbiegen, um wieder auf die Landstraße zum Zementwerk zu gelangen. Er sah links den Jungen mit dem grellen Schulranzen, dann war er schon vorüber.

Adele vermeinte, einen Schatten wahrzunehmen. Dann, die Augen weit aufgerissen, verfolgte sie den Schulranzen, wie er begann, neben dem Lastzug herzulaufen, immer schneller und schneller! Der Lastzug verringerte seine Geschwindigkeit etwas und sie sah den Blinker links. Der biegt ab!, durchfuhr es sie, und der Fahrer sieht den Jungen mit dem Ranzen nicht. Sieht er ihn den nicht im Spiegel? Und der Junge? Was hat er vor? Will er den Zebra noch vor dem Lastzug erreichen?

Der Lastzug bremste ab, setzte den Blinker nach links und machte sich daran, in die Straße links nach dem Zebrastreifen einzubiegen. Martin Huber sah mit einem Auge, wie rechts aus der Molkerei eine Frau auf die Straße rannte und wild mit Armen und Händen gestikulierte und irgendetwas rief, das er nicht verstehen konnte. Abrupt trat er instinktiv mit voller Wucht auf die Bremse, dann war die Frau schon am Führerhaus vorbei. Er musste sie noch erwischt haben, wahrscheinlich, schoss es ihm durch den Kopf, dann stand der Zug.

Zitternd stieg Martin Huber aus dem Führerhaus. Er sah die Frau. Sie lag am Boden. Was war geschehen? Er verstand es nicht! Warum war ihm die Frau vor den Wagen gelaufen? Hilflos blickte er um sich. Ruft jemand die Polizei!, sagte er zu ein paar Leuten, die sich um den Lastzug drängten, und stürzte auf die Frau zu.

Dann stockte ihm der Atem und er wankte. Die Frau bewegte sich und gab den Blick frei auf einen Schulranzen, der zu einem Jungen gehörte. Zu dem Jungen, den er kurz zuvor noch überholt hatte. Und jetzt? Vorsichtig berührte er die Frau. Sie drehte sich langsam zu ihm um. Da erkannte er sie. Es war die Frau aus dem Bus, von heute Morgen.

Es ist alles in Ordnung, hörte Martin Huber die Frau sagen, es ist nichts weiter passiert. Nur die Knie etwas aufgeschrammt. Sie haben den Buben nicht gesehen? Stimmt’s?, fragte die Frau. Nicht gesehen, wiederholte er wie benommen. Der Bub musste sich im toten Winkel des Spiegels befunden haben. Nicht auszudenken, wenn Sie nicht …, sagte Martin Huber. Ich weiß nicht, wie Sie es geschafft haben, aber danke und, nein …! 

Martin Huber beruhigte sich nur langsam. Die Polizei notierte alles sehr gewissenhaft, dann durfte Martin Huber weiter fahren. Adele war an diesem Tag der Schutzengel des kleinen Jungen gewesen. Ein Tag, den sie niemals vergessen würde. Es stand dann auch in der Zeitung, wie heldenmütig sie gewesen sei. Adele empfand es gar nicht so. Sie hatte doch nur gemacht, was jeder gemacht hätte, dachte sie.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.09.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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