Simone schloss das Fenster und nahm die gerahmte Fotografie vom Schreibtisch. Roman in der Badehose. Hinter sich hatte er ein Frottiertuch mit beiden Armen ausgespannt, als wollte er es sich gerade um die Schultern legen. Seine Haare glänzten nass. Er lächelte. Zärtlich, zugleich vorsichtig, berührte Simone mit den Fingern ihrer linken Hand die Fotografie. Sie hatte Angst etwas zu zerstören, das längst kaputt war. Wehmut beschlich sie. Mit beiden Händen presste sie das gerahmte Foto an ihre Brust. Sie glaubte so den Herzschlag ihres Sohnes zu hören, dabei war es ihr Herz, das laut und unregelmäßig schlug. In ihrer Aufregung stockte Simone der Atem. Sie stellte das Foto zurück auf den Schreibtisch und öffnete eilig das Fenster. Die frische Luft tat ihr gut. Jetzt nur tief durchatmen, dachte sie, und versuchen an anderes, weniger schmerzhaftes zu denken. Es gelang ihr nicht. Wie so oft in den letzen Wochen sah sie ihren Mann Felix aufgewühlt und mit schmerzverzehrtem Gesicht die Wohnung betreten. Roman war nicht dabei. 'Wo ist Roman?', hört sie sich fragen. Felix starrte Simone an und war unfähig zu reden. Endlich, nach gefühlt langer Zeit, erzählte ihr Mann unter Tränen, was passiert war. Sie erfuhr, dass Roman ausgelassen mit anderen Jungs in Ufernähe spielte. Plötzlich kreischten die Spielkameraden aufgeregt und fuchtelten mit ihren Händen wild durcheinander. Aufmerksam geworden, lief Felix zu den Kindern. Er sah Roman auf den Rücken liegen. Blass und regungslos. Während er Romans leblos wirkenden Körper berührte und versuchte ihn durch Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben, ließ er sich von den aufgeregten Kindern erzählten, was passiert war: Roman prahlte gegenüber seinen Spielkameraden, dass er sein Gesicht länger als alle andern Kinder unter Wasser halten könne. Die Kinder glaubten ihm das nicht und verlangen den Beweis. Sie feuerten Roman an und er wollte es allen zeigen. Zwischenzeitlich hatte jemand die Feuerwehr gerufen, die Roman in das nahe gelegene Krankenhaus brachten. Dort versuchten die Ärzte Roman zu reanimieren. Ohne Erfolg. Simone holte sich ins Jetzt zurück und war gerade dabei, das Wohnzimmerfenster wieder zu schließen, als sich Felix ihr näherte. Ihr Ehemann stand jetzt ganz dicht hinter ihr. Sie spürte seinen Atem. Er umarmte sie von hinten und versuchte sie an sich zu pressen. Diese Art Kontakt war ihr unangenehm. Das wusste Felix. Aber immer wieder versuchte er sich ihr so zu nähern. Seit dem Verlust ihres Sohnes vertrug keine körperliche Nähe. Auch, oder gerade nicht, von ihrem Mann. Felix spürte, dass Simone verkrampfte. Fürsorglich fragte er: "Ist was?"
"Was soll sein?", fragte Simone leicht angeekelt zurück.
"Mein Gefühl sagte mir, dass heute kein guter Tag für dich ist."
"Mach dir keine Sorgen", versuchte Simone ihren Mann zu beruhigen. In Wirklichkeit hatte sie große Mühe ihre Tränen zurück zu halten.
"Entschuldige, Simone, ich wollte dich mit meiner Umarmung nicht erschrecken. Ich wollte dir nur ganz nahe sein."
Von Simone erfolgte keine Reaktion, deshalb löste Felix sofort die Umklammerung und trat einen Schritt zurück. Enttäuscht ging er zu einem der vier bequemen Sessel. Simone folgte ihm, als wäre sie dazu aufgefordert. Bevor sie sich ihm gegenüber setzte, sah sie noch einmal das Foto ihres fröhlich lachenden Sohnes an. Simone hoffte dass Felix nicht über Roman und über das, was geschehen war, spricht. Das hätte sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht aushalten können. Dabei wusste sie, das reden helfen kann. Aber nicht mit Felix. Bitte nicht mit Felix über Roman. Bitte nicht.
"Was würde ich geben, das Geschehende, ungeschehen machen zu können."
'Also doch', dachte Simone und blickte ihren Mann mit rot umränderten Augen an. Sie blieb stumm. Sie weigerte sich zu reden. Sie wusste auch nicht, was sie sagen sollte.
"Simone, lass uns reden! - So geht es nicht weiter mit uns. Ich habe Schuldgefühle ohne Ende und weiß nicht was ich machen soll. Bitte, Simone lass uns vernünftig mit einander umgehen.- Lass es uns wenigstens versuchen. Ich….
Plötzlich schlug das Wohnzimmerfester ungewöhnlich heftig zu. Durch den Windzug rutschte das gerahmte Foto auf dem Schreibtisch bis zur äußersten Kante, kippte um, und fiel mit dem Gesicht nach unten auf den Parkettboden. Simone die mit dem Rücken zum Schreibtisch saß, stand auf und sah auf den zerstörten Rahmen und die vielen Glasscherben, die drum herum lagen. Felix, der ihr gefolgt war, bückte sich und hob das unbeschädigte Foto auf. Er gab das Foto seiner Frau und sagte zu ihr: "War es Zufall, dass der Fotorahmen hinunterfiel oder Bestimmung?"
"Was meinst du mit Bestimmung?", möchte Simone wissen.
Felix gibt keine direkte Antwort, vielmehr sagt er zu seiner Frau: "Komm lass uns die Scherben gemeinsam wegräumen."
Bevor Simone ihrem Mann half den Rahmen und die Scherben wegzuräumen, nahm sie das Foto und legte es, mit dem Gesicht nach unten, in das oberste Fach der Kommode. Sie vergaß nicht, das Kommodenfach abzuschließen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.09.2014.
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Stream of thoughts: Stories and Memories – for contemplating and for pensive moments (english)
von Heinz Werner
Do we know what home is, what does this term mean for modern nomads and cosmopolitans? Where and what exactly is home?
Haven't we all overlooked or misinterpreted signs before? Are we able to let ourselves go during hectic times, do we interpret faces correctly? Presumably, even today we still smile about certain encounters during our travels,
somewhere in the world, or we are still dealing with them. Not only is travveling educating, but each travel also shapes our character, opens up our view for other people, cultures and their very unique challenges.
Streams of thoughts describes those very moments - sometimes longer, sometimes only for a short time - that are forcing us to think and letting us backpedal. It is about contemplative moments and situations
that we all know.
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