Sandra Strauss

Nebelläufer (Prolog)

 

 

Prolog

 
 
Am fernen Horizont waren bereits die ersten Anzeichen der aufkommenden Dämmerung zu erkennen. Nicht mehr allzu lang und die Sonne würde vollends aufgehen und den noch düsteren Wald in erstes mattes Licht tauchen.
Ein zaghaftes Zwitschern erklang am Rande einer kleinen, unscheinbaren Lichtung, nur um kurz darauf wieder von der allumfassenden Stille und Dunkelheit des Ortes verschluckt zu werden. Scheinbar hatte der Vogel bemerkt, dass es noch nicht an der Zeit war den anbrechenden Morgen zu begrüßen, und so wartete er nun geduldig darauf, dass auch andere seiner Artgenossen ihren täglichen Gesang anstimmten.
Auch wenn am Rande des Waldes die erste Helligkeit bereits dabei war die Schatten der vergangenen Nacht zu vertreiben - rund um die kleine Lichtung herrschte noch immer Dunkelheit vor. Sie schien sich fest an den umstehenden, knorrigen Bäumen festzukrallen, und klebte an Blättern und Büschen die den winzigen freien Platz inmitten des riesigen Yuvu-Fâer-Waldes umgrenzten.
Mochte dieser unbewaldete Fleck auch noch so klein sein, so war er doch alles andere als unbedeutend. Schließlich verdankte der uralte und düstere Wald dieser Lichtung nichts Geringeres als seinen Namen. Denn im Zentrum befand sich, umgeben von Klee, Siebenkraut und vereinzelten Ansammlungen von Mädesüß, ein wahrer Riese von Baum. Oder zumindest mochte er einst, vor unzähligen Jahrhunderten ein Riese gewesen sein, denn seit ewiger Zeit erinnerte nur noch der übrig gebliebene Stumpf des Baums an seine mutmaßliche Größe in früheren Tagen. Die Reste des einstmals majestätischen Stammes durchmaßen gut und gerne fünf oder sechs große Ellen und es hätte sicherlich einer Kette von zehn Menschen oder mehr bedurft, um ihn einmal zu umfassen.
Doch waren es nicht allein seine Maße, die diesen Baum zu etwas so besonderem machten, dass die Menschen des Landes sich dazu verleiten ließen, gleichsam dem gesamten umliegenden Waldgebiet seinen Namen zu geben. Nein, es war auch sein einmaliges Äußeres, das schließlich zu dieser Bezeichnung geführt hatte: Yuvu-Fâer in der alten Sprache – Schwarzbaum in der heutigen.
Und schwarz war er tatsächlich! Nicht etwa dunkles Braun oder sprießendes Grün umgab den gesamten Stumpf in Form von Rinde oder Moosgewächs, sondern eine pechdunkle Schwärze. Und diese Färbung machte nicht nur die oberste Schicht des Baumes aus, sondern vereinzelte Risse und Kerben im knorrigen Stamm ließen erahnen, dass das gesamte tote Gewächs aus diesem schwarzen Material bestand. Natürlich waren über die Jahrhunderte hindurch die verschiedensten Theorien und Ideen darüber aufgestellt worden, wie dieser alte Riese zu seiner ungewöhnlichen Gestalt gekommen war. Zu den verbreitetesten Geschichten gehörte dabei die einfache, und wenig aufregende Annahme, der Baum wäre schon vor etlichen Jahrhunderten durch einen Blitz zerstört worden, wobei schließlich die gewaltige Kraft des Angriffs dazu geführt habe, dass sich die Reste des Baums in eine verkohlte Masse verwandelt hatten.
Dass diese schlichte Erklärung unzulänglich war, musste allerdings jedem Menschen bewusst werden, der sich einmal die Zeit nahm den Stumpf genauer zu betrachten. Denn das Holz war zwar tatsächlich so schwarz wie es nach einem Blitzeinschlag häufiger der Fall war, verwundern musste aber der Umstand, dass es eben nicht verkohlt war. Im Gegenteil. Der Baum wies keinerlei Anzeichen von Verbrennungen oder Hitze auf. Was blieb, war allein die charakteristische Schwärze, die ihn in verblüffender Gleichmäßigkeit umschlang und gleichzeitig auszufüllen schien.
All diese mysteriösen Umstände blieben natürlich nicht unbemerkt, und so kam es, dass sich, neben der Vorstellung vom schlichten Blitzeinschlag, ein zweiter Glaube durchzusetzen begann; denn nicht wenigen Menschen gefiel die Idee, der Baum sei in irgendeiner Weise von den Göttern berührt. Sagen und Mythen rankten sich um die Entstehung des Yuvu-Fâers, der trotz seines verkrüppelten Äußeren so majestätisch inmitten des endlosen und dunklen Schwarzbaumwaldes zu thronen schien, und so war er über die Jahrhunderte auch zu einer Art Schrein geworden, und seine kleine Lichtung einer von nur noch wenigen heiligen Orten die im Lande Arod erhalten geblieben waren. Von diesem alten Glauben zeugten auch in dieser dämmrigen Stunde vereinzelte Gaben, die auf und um den Stamm herum niedergelegt worden waren.
Reisende, die in der Hoffnung auf eine Abkürzung diesen Teil des Waldes durchquerten, oder auch Bewohner der umliegenden Dörfer, brachten nicht selten kleinere Geschenke für den Yuvu-Fâer, damit dieser ihnen als Gegenleistung zu Glück verhalf, oder ihnen möglicherweise auch kleinere Bitten erfüllte.
Und so befand sich auch jetzt ein interessantes Sammelsurium von Dingen rund um den Riesen.
 Ein schmaler Strauß aus schlichten Wald-und Wiesenblumen lag recht unscheinbar am Rande der großen Stammfläche. Die kleinen Blümchen mochten frisch gepflückt sicherlich bunt und wohlriechend gewesen sein, doch mittlerweile verkümmerten sie verblüht auf dem schwarzen Holz. Einzig das üppige Band aus leuchtend grünem und gelbem Seidenstoff, das den Strauß zusammenhalten sollte, kontrastierte noch durch seine hellen und freundlichen Farben mit der Dunkelheit des holzigen Untergrundes. Doch es ließen sich auch noch weitere Gaben finden, die scheinbar noch vor nicht allzu langer Zeit hier abgelegt worden waren: eine kleine unscheinbare Brosche lag dort, gleich neben den toten Blumen, und ihr weiterhin glänzendes Metall und die sauberen Verzierungen aus Gold und Bein zeugten davon, dass ihr ehemaliger Besitzer sie wohl erst vor wenigen Tagen dem Yuvu-Fâer als Geschenk überlassen hatte. Weitere, wenig wertvolle Schmuckstücke, aber auch vereinzelte, kleine Edelsteine vervollständigten schließlich das Bild eines vollen Gabentisches inmitten der winzigen Waldlichtung.
Die ersten Sonnenstrahlen waren inzwischen weiter vorgedrungen, und krochen nun mutig über die taufeuchten Grashalme in Richtung des schwarzen Stumpfes. Bald schon würden sie ihn in ihr klares Licht tauchen und so der gesamten Szenerie zumindest ein wenig mehr Wärme und Freundlichkeit verleihen.
Erneut war es derselbe Vogel, eine kleine Amsel, die sich auf einem breiten Ast ganz am Rande der Lichtung niedergelassen hatte, die sich nun ermutigt durch die fortschreitende Helligkeit dazu verleitet sah ihren zuvor abgebrochenen Gesang wieder aufzunehmen. Doch der Wald meinte es heute Morgen nicht gut mit ihr, denn schon wenige Augenblicke nachdem sie die ersten vorsichtigen Töne dem aufkommenden Wind anvertraut hatte, veranlasste ein plötzlich aufkommendes Geräusch den Vogel ein weiteres Mal von seinem Vorhaben abzulassen. Ein Knacken im Unterholz und schließlich lauter werdendes Rascheln des Grases in der Umgebung, kündigten unerwartete Besucher an, die sich nun der Lichtung zu nähern schienen.
 
 
♦♦♦
 
»Verfluchter Wald!«
Dies war ganz eindeutig nicht Odgers Tag.
Schon beim frühen Aufstehen an diesem Morgen war er das Gefühl nicht los geworden, dass der heutige Tag nichts Gutes für ihn bereit halten würde.
Und hatte er nicht Recht behalten?
Bereits als er vor einigen Stunden an ihrem Lagerfeuer wachgeworden war, nur um noch im Halbschlaf feststellen zu müssen, dass einer dieser verdammten Käfer, die es in dieser Gegend zu Tausenden zu geben schien, ihn in der Nacht in seinen Allerwertesten gebissen hatte, ja bereits da hatte sich kein guter Tag angekündigt.
Und als der Hauptmann dann auch noch zu verstehen gegeben hatte, dass ihr übriger Proviant bis auf Weiteres strenger rationiert werden müsse, hatte sich Odgers gute Laune schließlich vollends verabschiedet. Wie sollte ein Mann denn ohne ordentliche Mahlzeit und insbesondere ohne den geliebten, gebratenen Speck den Tag beginnen? Odger stapfte, vertieft in übellaunige Gedanken, weiter den schmalen Waldpfad entlang. Es schien ihm, als kämpfte er sich nun schon seit Stunden durch diesen verfluchten Wald mit seinen seltsamen dunklen und verschlungenen Wegen. Dass seine einzige Begleiterin dagegen keinerlei Schwierigkeiten mit dieser düsteren Umgebung und den unliebsamen Gelände hatte, steigerte seine Stimmung dabei natürlich kaum. Als junger Kämpfer hinter einer kleinen und so zierlichen Frau zurückzubleiben, kratzte allmählich an Odgers Ehrgefühl. Also fasste er, wie es ihm vorkam, zum mittlerweile hundertsten Mal nach seinem schlecht sitzenden Schwertgurt, zog diesen so gut es ging fester um seinen knurrenden Bauch und versuchte mit weitausholenden Schritten zu Lady Adris aufzuschließen.
Auch wenn es ihm gegen den Strich gegangen war, dass der Hauptmann ausgerechnet ihn zu ihrem Schutz abkommandiert hatte, Odger war immer noch Soldat genug, um diesen Befehl zur Zufriedenheit seines Befehlshabers ausführen zu wollen. Die Tatsache, dass Odger sich diese ungewollte Aufgabe ohnehin aufgrund seiner morgendlichen Nörgelei selbst eingebrockt hatte, verdrängte der junge Soldat dabei überaus gekonnt. Die junge Frau hatte sich derweil zu ihrem fluchenden Begleiter herumgedreht und schenkte ihm nun ein kleines Lächeln. Sie war auf dem überwucherten und kaum zu erkennenden Pfad stehen geblieben und wartete bis Odger die sie trennenden Meter überwunden hatte und schließlich wieder neben ihr stand. Auf ihren Rücken trug sie ein kleines festgeschnürtes Bündel, dessen Inhalt sich nun, da sie mit ihren gleichmäßigen Schritten plötzlich innegehalten hatte, unruhig zu bewegen begann. Die junge Frau griff hinter sich und streichelte liebevoll und beruhigend über den weichen Stoff.
 »Ihr solltet auf eure Worte Acht geben«, riet sie währenddessen dem näherkommenden Odger, der beim Anblick ihres kurzen Lächelns beinahe erneut über eine der zahlreichen Baumwurzeln gestolpert wäre.
»Wälder mögen fluchende Menschen nicht. Es zeugt von Respektlosigkeit und fehlender Ehrfurcht, wenn man wie ihr zwischen den Bäumen hindurch stapft«.
Odger warf ihr einen zweifelnden, aber auch verblüfften Blick zu. Sie hatte bisher kein einziges Wort an ihn gerichtet und er war überrascht welche Wirkung ihre sanfte Stimme und ihr Lachen auf ihn hatten. Warum war ihm auf der bisherigen Reise nie aufgefallen wie schön sie eigentlich war?
Trotzdem, ihre Worte weckten bei Odger nur milden Unglauben. Lady Adris schien diese Skepsis allerdings bemerkt zu haben. Während sie gemeinsam weiter dem Weg folgten, lächelte sie ihn erneut an und fuhr mit ihrer Erklärung fort.
»Glaubt mir. Diesen Rat gab mir mein Vater bereits als ich noch sehr klein war, und bisher hat er sich noch immer als sehr hilfreich erwiesen. Wenn ihr also nicht auf mich hören wollt, vertraut wenigstens auf die Worte meines Vaters. Als Skadu-Naî kannte er sich mit solchen Dingen sicherlich besser aus, als andere Menschen«.
Verdutzt blickte Odger auf die kleine Frau herab, die langsamer, aber noch immer erstaunlich trittsicher neben ihm herging.
Sie war also eine Nebelläuferin?
Oder zumindest stammte sie, wenn sie gerade die Wahrheit gesagt hatte, von diesem Volk ab. Das erklärte natürlich, wieso sie sich so gewandt in dieser unliebsamen Umgebung bewegen konnte und in den vergangenen Minuten stets gewusst hatte welchen Weg sie einzuschlagen hatten.
Odger musterte Lady Adris nun mit neuem Interesse. Nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, dass sie zum Nebelvolk gehören könnte. Schließlich hatte sie keines der üblichen, äußerlichen Merkmale.
Verstohlen ließ der junge Soldat den Blick über seine hübsche Begleiterin wandern, als diese ihre Aufmerksamkeit erneut dem vor ihnen liegenden Weg widmete. Natürlich, sie war sehr zierlich und zart gebaut, und bewegte sich tatsächlich so elegant durch diese Wälder, wie man es wohl auch von einer echten Skadi Naî erwartet hätte. Doch ihre Augen … Nichts in ihren Augen deutete auf ihre Abstammung hin. Odger war natürlich in seinem recht jungen Leben noch keinem Nebelläufer persönlich begegnet – schließlich gab es nur so wenige von ihnen. Und normalerweise lebten sie auch nicht, wie Lady Adris, unter den normalen Menschen. Doch was er wusste, war, dass man einen Nebelläufer jederzeit an seinen Augen erkennen konnte. Zumindest hatte er dies bis gerade eben noch zu wissen geglaubt.
»Wenn ihr eine vom Nebelvolk seid, wie kommt es dann, dass ihr … ich meine warum seid ihr…?« stammelnd und von plötzlicher Schüchternheit befangen, ließ Odger seine Frage in der Luft schweben. Eigentlich ging ihn die Lebensgeschichte dieser Frau nichts an. Und es war sicherlich unhöflich einfach danach zu fragen. Doch seine Neugierde war dank ihrer wenigen Worte wirklich geweckt.
»Warum ich nicht wie eine Skadi Naî aussehe?« ergänzte nun aber Adris die unausgesprochene Frage.
»Entschuldigt. Es geht mich nichts an. Ich war nur verwundert, weil ihr nicht die …« zögernd suchte Odger nach der richtigen Ausdrucksweise. »Nun, ihr habt nicht die klassischen Merkmale einer Nebelfrau, richtig?«
Adris blickte bei seinen Worten zu ihm auf und schenkte ihm auf diese Weise einen ungehinderten Blick in ihre Augen. Sie waren Kastanienbraun.
»Das habt ihr gut erkannt« sagte sie, und wandte den Blick wieder von ihm ab. Dann ergriff sie erneut das Wort.
»Meine Augen sind nicht die eines Nebelläufers, weil ich nicht lange genug unter ihnen gelebt habe. Der Schleier bildet sich erst nach einigen Jahren, mit Eintritt in das Jugendalter.«
Während dieser kurzen Erklärung hatten die beiden Wanderer das Ende des kaum erkennbaren Pfades erreicht. Vor ihnen breitete sich eine sonnenbeschienene Lichtung aus, und noch ehe Odger zu den eben gemachten Äußerungen weitere Fragen stellen konnte, schnitt Adris ihm das Wort ab.
»Wir sind da. Bitte, lasst mir ein paar Minuten und wartet hier. Es dauert nicht lange. Ihr werdet rechtzeitig zum Mittagessen wieder bei euren Kameraden sein.«
Wieder lächelte sie ihn an, und Odger vergaß augenblicklich den Hunger den er eben noch gespürt hatte. Er nickte ihr verständnisvoll zu und suchte sich unter einer alten Eiche einen bequemen Platz an dem er auf sie warten konnte. Als er angelehnt an dem rauen Stamm saß, beobachtete er wie Adris sich respektvoll dem alten und ge-schwärzten Baumstumpf näherte, der sich in der Mitte der baumbegrenzten Lichtung befand. Wieso lebte eine Frau des Nebelvolkes allein unter den Stadtbewohnern von Aeron? Und eine Frage die Odger schon zuvor beschäftigt hatte: Weshalb musste eine Frau bei ihrer Reise nach Barathron von einer ganzen Truppe von Soldaten begleitet werden?  
Vielleicht hat es etwas mit dem Kind zu tun, mutmaßte Odger, und beobachtete seine Schutzbefohlene nun mit neuem Interesse von seinem schattigen Platz aus.
 
 
♦♦♦
 
 
Es war die richtige Entscheidung gewesen hierher zu kommen. Das spürte sie jetzt. Und sie war froh Hauptmann Delando zu dem nötigen Umweg überredet zu haben. Sie würden ganze drei Tage später an ihrem Ziel ankommen, doch obwohl Adris sich noch am Morgen selbst nicht sicher gewesen war, ob es nicht letzten Endes vergeudete Zeit bedeuten würde, hier und jetzt fühlte es sich richtig an.
Vorsichtig überquerte sie die helle, von Blumen übersäte Lichtung und atmete dabei voller Genuss die süße und frische Luft ein.
Seit Monaten, wenn nicht gar seit Jahren, hatte sie sich nicht mehr so belebt gefühlt! Es tat gut, das taufeuchte Gras unter den Füßen zu spüren, das leise Rauschen des Windes wahrzunehmen, der durch die hohen Kronen der Bäume fuhr.
Erst mit Beginn ihrer Reise hatte Adris realisiert, wie sehr sie in all den Jahren des Stadtlebens die Natur vermisst hatte.
Sie waren nun schon mehr als zwei Wochen unterwegs, und sie hatte förmlich spüren können, wie mit jeder weiteren Meile die sie entlang des Waldes zurücklegten, mehr von ihrer Trauer und ihren sorgenvollen Gedanken von ihr abfielen. Heute Morgen hatte sie dann sogar das erste echte Lächeln seit Tagen zustande gebracht. Der junge tollpatschige Soldat, den Delando zu ihrem Bewacher auf dem unwegsamen Weg zum Yuvu-Fâer ernannt hatte, bewegte sich derart ungeschickt und mit einer solchen Griesgrämigkeit, dass es ihr nach einiger Zeit zwangsläufig ein kleines Lachen abverlangt hatte.
Echte Freude weckte allerdings kaum noch etwas in ihr. Einzig ihre Kleine Rianna war dazu noch in der Lage.
Und nun sollte ihr also auch diese einzige Freude im Leben genommen werden!
Erneut in so schwermütige Gedanken vertieft, war Adris mittlerweile am dunklen Stamm des Yuvu-Fâers angekommen. Dort kniete die junge Frau nieder und nahm behutsam das wollene Bündel von ihrem Rücken, das nun leise Geräusche von sich zu geben begann.
Vorsichtig befreite Adris ihre kleine Tochter aus den schützenden Stoffbahnen und setzte sie auf das sonnenbeschienene Gras vor sich. Sogleich begann Rianna mit dem Tatendrang einer neugierigen  und Dank der schaukelnden Waldwanderung auch ausgeschlafenen Einjährigen, damit ihre neue Umgebung zu erkundschaften. Adris sah ihrer Kleinen eine Weile voll Freude dabei zu, wie sie sich munter auf allen Vieren einen Weg durch das üppige und viel zu hohe Gras zu bahnen begann. Erst als Rianna zielstrebig auf den schwarzen Stamm vor ihr zusteuerte, hob die junge Mutter sie erneut auf, um sie in ihre Arme zu schließen.
Noch vor wenigen Monaten hätte Adris bei der Vorstellung wie Rianna mit ihren kleinen Fingern das schwarze Holz des heiligen Baumes berühren könnte, keinerlei Bedenken verspürt. Doch nun war alles anders.
Jetzt, da sie wusste warum tatsächlich von dem einstigen Baumriesen nur noch dieser pechschwarze Stumpf existierte, graute ihr davor, ihre Tochter zu nah an die Überbleibsel des Baumes herankommen zu lassen. Sicher, es war noch immer ein heiliger Ort, doch das Gute und Göttliche hatte diesen kleinen Flecken Erde längst verlassen, das wusste Adris nun. Geblieben war allein die verblassende Erinnerung an alte und bessere Zeiten, die sich fast spürbar an den verkohlten Resten festzuklammern schien. Adris bemerkte wie sie aufgrund dieser trübsinnigen Gedanken ein kleiner Schauer überlief.
Wie sehr wünschte sie sich manchmal die Unwissenheit vergangener Tage zurück. Ohne diese ständigen Träume, ohne das Wissen um die Geschehnisse der Vergangenheit, würde es ihr sicherlich besser gehen!
Doch nein, sie sollte aufhören sich etwas vor zu machen. Vergangene Ereignisse konnten auch durch eine solche Unwissenheit nicht ungeschehen gemacht werden. Was würde es ihr, was würde es den Menschen bringen, sollte sie sich diesen neuen Erkenntnissen verweigern?
Die Götter, nein die Ewigen, verbesserte sich Adris in Gedanken selbst, hatten ihr diese Träume nicht ohne Grund gesandt. Sie musste handeln, wie es von ihr verlangt wurde.
Alles ihr Vertraute, ihr ganzer bisheriger Lebenssinn mochte durch die Entdeckung, dass die von ihr verehrten Gottheiten in Wirklichkeit alles andere als göttlich waren erschüttert worden sein, doch diese ernüchternde Tatsache durfte sie nicht über die Notwendigkeit des von ihr erwarteten Handelns hinwegtäuschen.
Langsam sank Adris auf dem weichen Boden direkt vor dem großen Yuvu-Fâer in sich zusammen – ganz so als würde diese bittere Erkenntnis sie nun schließlich doch auf die Knie zwingen, und drückte ihre kleine Tochter noch fester an sich.
Rianna musste nach Barathron, nur so würde sie das notwendige Wissen erhalten, um sich dem ihr vorherbestimmten Schicksal stellen zu können.
Sie hatte keine Wahl.
Auch wenn die Wesen, die Adris in ihren Träumen diese schrecklichen Bilder von vergangenen Kriegen und Leid gezeigt hatten keine Götter waren, so waren sie den Menschen doch zumindest weit überlegen. Sie hatten ihr die Geschehnisse der Vergangenheit deutlich vor Augen geführt, ja eines Nachts hatte eines der Wesen sogar zu Adris gesprochen, während diese erneut von endlosen Kämpfen, Tod und Zerstörung geträumt hatte. Die Stimme hatte in ihrem Kopf widergehallt und ihr endlich erklärt, warum sie all diese furchtbaren Geschehnisse sah. Sie hatte sie in Dinge eingeweiht, von denen wohl nur wenige Menschen je etwas erfahren hatten. Und schließlich hatte das Wesen, oder wie es sich selbst bezeichnet hatte: der Ewige, Adris vor Augen geführt, welch bedeutendes Schicksal ihrer neugeborenen Tochter zukommen sollte.
Und hier waren sie nun: Auf der Reise zur Ordensfestung von Barathron, dem einzigen Ort, an dem Rianna in den kommenden Jahren genügend Wissen anhäufen konnte, um sich ihrem weiteren Lebensweg stellen zu können.
Liebevoll streichelte Adris dem kleinen Mädchen in ihren Armen über das Köpfchen. Es zerriss sie schier bei der Vorstellung, welche Gefahren und Aufgaben in nicht allzu ferner Zukunft auf ihre Tochter zu kommen sollten.
Doch Adris musste zuversichtlich sein. Hatte der Ewige ihr nicht versichert, dass Rianna bereits alle Fähigkeiten die sie benötigen würde, in sich trug?
 Sie musste einfach hoffen, dass es reichen würde.
 Sicherlich konnten die eingeweihten Priester auf der Insel dem Mädchen vieles beibringen – Wissen und Fähigkeiten die selbstverständlich weit über meinen schlichten Verstand hinausgehen, dachte Adris bitter. Der Verzicht auf ihre Tochter war der Preis den Adris für die bestmögliche Sicherheit Riannas zu zahlen hatte.
Sie selbst würde in Barathron nicht willkommen sein.
Und auch die Tatsache, dass es Rianna gestattet werden würde ihre Ausbildung auf der Festung zu erhalten, hatte Adris allein ihren guten Verbindungen zu verdanken. Verbindungen, die sie, den Göttern sei Dank, auch nach dem Tod ihres Ehemanns weiter gepflegt hatte.
Nachdem Adris vor zwei Mondläufen endgültig den Entschluss gefasst hatte, sich mit ihrer inzwischen zehn Monate alten Tochter auf den Weg zur Insel von Barathron zu machen, hatte sie den Hohepriester von Arod persönlich aufgesucht.
Ulan ad Retis war ein sehr alter Freund der Familie Maniru – der Sippe ihres Mannes, und nachdem Adris ihn weitestgehend in ihr Vorhaben eingeweiht hatte, hatte Ulan es nicht nur als Selbstverständlichkeit betrachtet, Rianna einen Platz in der Barathronfestung zuzusichern, er hatte Adris zudem auch noch eine kleine Eskorte zum Schutz mitgegeben.
Adris war natürlich nicht in der Lage gewesen, den greisen Priester vollständig in ihr Geheimnis einzuweihen. Wie hätte sie den geistigen Führer und obersten Regenten des Landes auch davon überzeugen können?
Ulan hatte sein ganzes Leben dem Dienst an den Göttern geweiht. Alles woran er glaubte, seine gesamte Herrschaft als erster Hohepriester der Priesterkaste basierte auf diesem jahrhundertealten Glauben an die Naturgötter. Also hatte Adris dem alten Freund nur von einigen ihrer Träume berichtet – Träume die sicherlich nur die Götter ihr geschickt haben konnten. Träume, mit der eindeutigen Forderung, das erste und einzige Kind des verstorbenen Reldo ad Maniru möge in Barathron zur Priesterin ausgebildet werden. Mehr hatte sie Ulan nicht anvertrauen dürfen – die Ewigen hatten ihr in den vergangenen Monaten immer wieder deutlich zu verstehen gegeben, wie wichtig es war, dass Niemand die wahren Gründe für Riannas Aufenthalt auf der Insel erfuhr.
In der Festung selbst gab es einige wenige Eingeweihte - sie würden in den kommenden Jahren nicht nur dafür Sorge tragen, dass Rianna zu einer geweihten Priesterin heranreifen würde, auch die Schulung ihrer schlummernden Fähigkeiten sollte in die Hände dieser kleinen Gruppe fallen.
Doch noch war es nicht soweit. Einige wenige Tage, vielleicht auch Wochen, blieben Adris noch mit ihrer Tochter!
Zaghaft erwiderte Adris das strahlende Lachen, das Rianna ihr nun schenkte, während eine ihrer kleinen Hände nach einer losen, dunklen Haar-strähne griff, die sich aus Adris Zopf gelöst hatte.
»Keine Angst mein Schatz«, flüsterte sie dem kleinen Mädchen dabei ins Ohr, »ich werde auf dich warten, egal wie viele Jahre es auch dauern wird. Wir werden uns wieder sehen, ich verspreche es dir…«
Nach diesen wenigen Worten erhob sich Adris, weiterhin Rianna im Arm haltend, und wandte sich endlich dem schwarzen Stumpf des Yuvu-Fâers zu. Bis zu ihrer Ankunft auf dieser Lichtung hätte Adris nicht begründen können, weshalb es sie so danach verlangt hatte an diesen Ort zu gelangen - sie hätte den Hauptmann nicht um diesen zeitraubenden Umweg bitten müssen. Doch nun, da sie hier stand, wusste Adris den Grund:
Sie hatte es mit eigenen Augen sehen müssen. Hier war die letzte Bestätigung, der unleugbare Beweis für die Wahrheit ihrer Träume. Nie zuvor war Adris hier gewesen, und doch sah alles so aus, wie sie es im Schlaf gesehen hatte. Das Schwarz des riesigen Baumstumpfs wich keinen Deut von der Farbe ab, die sie in ihren Träumen erblickt hatte - ein so intensives und gleichmäßiges Schwarz hatte Adris nie zuvor gesehen. Und auch die verstreuten Gaben, die sich im Laufe der Zeit auf und auch um den Baum herum angesammelt hatten, kannte Adris größten Teils bereits aus ihren Traumbildern. Vor allem einige der Broschen und Bänder erkannte sie ohne Zweifel wieder.
Einer spontanen Eingebung folgend, griff sich Adris mit ihrer freien Hand in den Nacken. Nach wenigen Sekunden hatte sie es geschafft den Verschluss ihrer Halskette zu öffnen. Es war ein schönes Stück Schmuck: feinste Handarbeit, mit einem kleinen silbernen Anhänger in der Form eines Seesterns. Reldo hatte ihr die Kette zu ihrem letzten gemeinsamen Hochzeitstag geschenkt. Den Stern hatte er dabei später selbst hinzugefügt – ein Symbol für den Familiennamen Maniru - was in der alten Sprache so viel wie Meer bedeutete. Nach kurzem Zögern und einem letzten Blick auf die Kette in ihrer Hand, tat Adris schließlich zwei schnelle Schritte nach vorne. Als sie mit ihren Fußspitzen beinahe den zerstörten Stamm vor ihr berührte, bückte sie sich, um ihr Schmuckstück auf eine freie Stelle zwischen zwei verkümmerten Blumensträußen niederzulegen. Kaum hatte das kostbare Silber das alte Holz des Stammes berührt, da drehte Adris sich auch schon wieder herum und kehrte den verkohlten Überresten des heiligen Baumes endgültig den Rücken zu.
Dann machte sie sich auf den Rückweg zu ihrem jungen Begleiter, ohne sich die Zeit zu nehmen, das eben Getane zu bereuen.
Sie wusste selbst nicht ganz, was sie zu dem Entschluss bewogen hatte, eines der wenigen Andenken an ihren Geliebten an diesem Ort zurückzulassen. War es nicht sinnlos eine Gabe an Götter zu opfern, die in Wirklichkeit gar keine waren?
Doch trotz ihres neuen, ungewollten Wissens, hatte es sich für Adris nicht falsch angefühlt. Im Gegenteil. Noch während sie gehandelt hatte, hatte sie ein seltsames Gefühl beschlichen. Es hatte einen kurzen Augenblick in Anspruch genommen, bevor Adris erkannt hatte welche Empfindung da so unvorhergesehen in ihr aufgekeimt war. Es war tatsächlich lange her, seit sie zuletzt Ähnliches gefühlt hatte.
Und doch, während sie die letzten Meter auf der sonnenbeschienenen Lichtung des Yuvu-Fâers zurücklegte, ihre Tochter liebevoll zwischen Arm und Hüfte balancierend,  wusste sie, was sie empfand.
Hoffnung.
 
 

 

 

Liebe Leser,

dies ist der Prolog eines Buches, welches ich vor etwa 2 Jahren begonnen hatte zu schreiben (mein erstes Buch :-))Mein Schreibfluss ist jedoch in den vergangenen Monaten etwas ins Stocken geraten. Daher dachte ich, ich nutze E-Stories um eventuell dank eurer Anmerkungen und Kommentare zu neuer Inspiration zu gelangen...
Vielen Dank und viel Spass beim Lesen....!

PS: ich werde die restlichen, schon existierenden Seiten wohl nach und nach ebenfalls einstellen...
Sandra Strauss, Anmerkung zur Geschichte

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Sandra Strauss).
Der Beitrag wurde von Sandra Strauss auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.09.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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