Manfred Bieschke-Behm

Zwei Rosenstöcke



Anna hat es noch nicht geschafft, ihr Nachthemd gegen ihre Tageskleidung zu tauschen. Wichtiger ist das Küchenfenster zu öffnen und hinauszuschauen. Sie hat auch heute die Hoffnung irgendetwas Sensationelles zu entdecken. Anna schaut erst nach rechts und dann nach links. Dass sie selbst in ihrer Aufmachung entdeckt werden könnte, vergießt Anna. Es wäre ja nicht nur ihr hochgeschlossenes schneeweißes Nachthemd, das gesehen würde, sondern auch ihre schwarz gefärbten Haare, die sie unter einem schwarzen Haarnetz versteckt hält. Das Haarnetz ist so fest gezurrt, dass es ihr Haar ganz platt gedrückt ist. Während der Nacht nimmt Anne ihre Unterkieferprothese heraus um, wie sie sagt, dem Kiefer und sich Nachtruhe zu gönnen. Dieser Umstand führt dazu, dass Annas Gesicht um die Mundpartie herum ein bisschen eingefallen aussieht. Sieht nicht gerade vorteilhaft aus, wie sie selbst bei einem der seltenen Morgenblicke in ihren Spiegel feststellt.
Wenn sie insgesamt noch ein bisschen schläfrig ist, sind ihre Augen hellwach. Ihnen entgeht nichts. Auch heute beobachtet sie, dass der Mieter, der unter ihr im Erdgeschoss wohnt, das Haus verlässt. Herr Schneidewind läuft von Montag bis Freitag immer zur gleichen Zeit gemäßigten Schrittes zur nahe gelegenen Bushaltestelle, fährt zur Arbeit. Heute Morgen ist das anders. Heute Morgen hat es Herr Schneidewind eilig. Fast rennt er zur Bushaltestelle. Anne ist verwirrt. Sie glaubt die Ursache für sein Verhalten zu wissen. Sie vermutet, dass sich Herr Schneidewind heute Morgen verspätet hat. Und tatsächlich. Der Blick auf ihre Küchenuhr zeigt drei Minuten nach sieben. 'Ob er den Bus noch geschafft hat?', denkt Anna und schaut neugierig aus dem Fenster. Von Herrn Schneidewind keine Spur.
Anna geht in ihr Bad und füllt die grasgrüne Gießkanne, ohne, randvoll mit Wasser. Vorsichtig trägt sie die Kanne vom Bad zur Küche, zum Fenster und bemüht sich kein Wasser zu verschütten. Anna könnte ihre grasgrüne Gießkanne in der Küche füllen. Leider ist der Abstand vom Wasserhahn zum Spülbecken zu gering und die grasgrüne Gießkanne zu groß, um sie senkrecht unter den Hahn stellen zu können. Sich eine kleinere Kanne zu besorgen, und sich damit die Arbeit zu erleichter, daran denkt Anna nicht.
Anne stellt die schwere wassergefüllte Gießkanne auf das Fensterbrett. Bevor sie das tut, was sie jeden Morgen kurz nach sieben Uhr tut, vergewissert sie sich, dass niemand auf der Straße ist. Von rechts kommt eine Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschiebt. Die Frau mit dem Kinderwagen ist noch weit genug entfernt, sodass sich Anna von ihr weder gestört noch beobachtet fühlt. Von links kommt keiner. Anna fühlt sich sicher und gießt die Kanne, die sie wegen der Schwere mit beiden Händen halten muss, aus dem Fenster hinaus aus. Das Wasser landet punktgenau auf zwei Rosenstöcke. Beide Rosenstöcke hat sie zu Ehren ihres verstorbenen Mannes und dem viel zu frühen Tod ihres Sohnes, in den Vorgarten gepflanzt. Den roten Rosenstock für ihren Mann und den weißen Rosenstock für ihren Sohn. Jedem, der es wissen möchte, aber auch denen, die es nicht wissen wollen, erzählt sie die herzerschütternde Geschichte zu den zwei Rosenstöcken.
Die Frau mit dem Kinderwagen kommt näher und näher. So nahe, dass Anna das Kind im Kinderwagen weinen hört. 'Zu so früher Stunde schon raus', denkt Anna, 'ist auch nicht schön'. Die Frau hinter dem Kinderwagen schafft es, das Kind zu beruhigen. 'Sicherlich ist die Frau die Mutter des Kindes', denkt Anna und wüsste zu gerne, ob ihre Vermutung stimmt. Anna hat das Gefühl, die Frau mit dem Kinderwagen hat ihre aberwitzige Tätigkeit mitbekommen. und bleibt regungslos am offenen Küchenfenster stehen. Die Frau mit dem Kinderwagen überquert die Straße. Anna glaubt, dass sie nicht bemerkt wurde. Auf der anderen Straßenseite angekommen, blickt sich die junge Frau erschrocken um. Sie schaut zu Anne hoch und schüttelt ihren Kopf. Anna sich sicher fühlend, gießt eine zweite Kanne beobachtet Wasser auf ihre Rosenstöcke. Erst jetzt bemerkt Anna, dass sie beobachtet wird. Anna ist die Situation peinlich. Nicht weil sie ihre Rosenstöcke aus dem Fenster begießt, sondern wegen ihrer morgendlichen Erscheinung Anna schließt geräuschlos, aber pikiert das Küchenfenster und stellt die Gießkanne in das Abwaschbecken ihrer Küche. Anschließend geht sie ins Bad. Anna blickt in den Badezimmerspiegel und spricht zu ihrem Spiegelbild: 'Zwei Kannen Wasser. Und das jeden Tag', und fügt noch hinzu, 'und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.'

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Manfred Bieschke-Behm).
Der Beitrag wurde von Manfred Bieschke-Behm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.10.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Manfred Bieschke-Behm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Frohe Weihnacht immerzu - Gedichte- & Kurzgeschichtenband zur Weihnacht von Werner Gschwandtner



„Alle Jahre wieder, kehrt die Weihnachtszeit in unsere Herzen. Tannenduft und Kerzenschein, Lieder voller Besinnlichkeit und ein harmonisches Zusammensein. Dies alles beschert uns der Advent. „Frohe Weihnacht immerzu“ beinhaltet 24 Gedichte, 2 Songtexte, sowie 3 Kurzgeschichten und meine persönlichen Gedanken zum Advent.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Alltag" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Manfred Bieschke-Behm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Nobody is perfect (Weihnachtsstern und Nussknacker) von Manfred Bieschke-Behm (Weihnachten)
Seitenschläfer schnarchen selten von Fritz Rubin (Alltag)
Gott schüttelt den Kopf von Gabriela Erber (Spirituelles)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen