Manfred Bieschke-Behm

Triologie “Du wirst immer fetter“ - Es kann spät werden


"Du wirst immer fetter", sagte Fred angewidert zu seiner Frau und vermied es Blickkontakt mit ihr aufzunehmen. Luisa traf diese Aussage wie ein Donnerschlag. Sie fühlte sich immer wieder aufs Neue wie vom Blitz getroffen, wenn ihr Mann sie mit herabwürdigenden, abfälligen Aussagen angriff. Sie konnte und wollte sich nicht an seinen rüden Umgangston gewöhnen. Luisa mochte nicht mehr als Schlampe oder Hure angepöbelt werden. Wo er konnte, schikanierte und beschimpfte er sie in gemeinster Weise. Jedes Mal war sie fassungslos und gleichzeitig sprachlos und wusste sich nicht erfolgreich zu wehren. Ihr blieb nur Wut, Traurigkeit und Resignation. Die Frage, warum Luisa bei ihrem Mann verharrte, stellte sich nicht, weil Luisa sich mit dieser Frage nicht beschäftigte. Ein Grund für ihr Aushalten schien die Hoffnung, dass ihr Mann sein Benehmen ändern würde. Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen oder übermorgen …
Was ist nur aus uns unserer Ehe geworden, überlegte Luisa, während sie vor dem Spiegel stand und sich in ihrer dreiviertellangen Hose betrachtete. Sie wusste und sah, dass sie nicht mehr die Idealfigur, wie vor Jahren noch gehabt, besaß, aber gab diese Tatsache Fred das Recht sie ständig zu erniedrigen und zu verunglimpfen? Luise kämpfte wieder einmal mit den Tränen. In der nur schwer auszuhaltenden Situation schoben sich Erinnerungen aus besseren Zeiten. Nachdem ihre drei Kinder aus dem Haus waren, wollten sie ein gemütliches Leben zu zweit führen. Anfangs lief alles gut. Sie unternahmen viel. Sie verreisten und machten Ausflüge. Es gab den einen oder anderen Theaterbesuch und es gab gemeinsame Restaurantbesuche. Sie waren in Freundschaften eingebunden, die sich gegenseitig besuchten. Luisa und Fred hatten Spaß am Leben, sie genossen ihre Freiheit, wie Fred den Zustand der Unabhängigkeit nannte. Dann kam Freds Arbeitslosigkeit. Von diesem Moment an veränderte sich Fred. Er war plötzlich nicht mehr der, den alle kannten: fröhlich, zugänglich, Tolerant. Durch seine Unbeherrschtheit und sein angreifendes Verhalten zerbrach eine Freundschaft nach der andern. Zum Schluss waren sie allein und es gab kaum noch Gemeinsamkeiten. Fred fühlte sich wertlos. Er sah keinen Sinn in seinem Leben. Seinen Frust darüber bekam Luisa fast täglich zu spüren. Er erklärte Luisa für seine Unzufriedenheit zuständig und erwartete absolute Unterlegenheit. Fred duldete keine Widerrede und keine noch so gut gemeinte Einmischung in seine Lebensgestaltung. Kontakte zu den Kindern mied er, und wenn sich Treffen nicht umgehen ließen, fand er Gründe die Zusammenkünfte schnell wieder zu beenden. Luisa vereinsamte und Fred merkte nicht, dass ihre Ehe nur noch an einem seidenen Faden hing.     
Luisa betrachtete ihr Gesicht im Spiegel und sah, Tränen über ihre Wangen laufen. Sie hatte sich vorgenommen, seinetwegen nicht mehr zu heulen. Es fiel ihr schwer, dagegen anzukämpfen. Ihr verheultes Gesicht anzusehen deprimierte sie und machte sie zusätzlich wütend. Er ist es nicht wert, Tränen zu vergießen, dachte sie und wischte die Tränen mit beiden Handrücken energisch weg. Dabei verwischte sie die Wimperntusche. Ihr Gesicht sah danach maskenhaft aus, fast dämonisch.
Luisa starrte in ihr gespiegeltes Gesicht und schauderte über einen Gedanken, der sich in ihrem Kopf in den Vordergrund drängte. Die Eingebung, sich von ihrem Mann zu trennen, war ihr fremd. Sie war entsetzt, eine derartige Eingebung haben zu können. Luisa wollte sich von dem ungeheuerlichen Einfall ablenken und versuchte wohlwollend den Sitz ihrer neuen Hose zu betrachten. Sie konnte sich drehen und wenden, wie sie wollte, die Hose saß nicht. Sie passte nicht zu ihr. Luisa ärgerte sich über ihren Frustkauf, heute Morgen im Supermarkt. Es war eine spontane, schnelle, nicht gut durchdachte Entscheidung. Eine von vielen Fehlentscheidungen der letzten Zeit. Wieder einmal wollte sich Luisa belohnen. Aber für was belohnen? Für ihr Dableiben? Für ihr Aushalten?
Dieser unnütze Hosenkauf, versicherte Luisa ihrem Spiegelbild, ist der letzte Frustkauf. Sie zerrte erfolglos an der Bluse, die ihr über die Hüften hing, um kleine Fettpolster zu verstecken. 'Na und', sagte sie überheblich, aber nicht überzeugend klingend zu sich selbst. Dennoch reichten Sekunden kritischer Betrachtung im Spiegel aus, den Entschluss zu fassen, an ihrer Figur etwas zu ändern. Nicht für Fred. Diese Feststellung war ihr wichtig. Nein, für sich selbst wollte sie es tun.
Luise erneuerte die Wimperntusche und puderte sich die Nase, dabei sah sie ungewollt ihren Mann, der sich den Fernseher angemacht hatte und im Sessel lungerte. Was für ein erbärmlicher Anblick. Was für eine jämmerliche Figur gibt er ab. Du müsstest dich sehen in deiner abgewetzten Jogginghose, die unterhalb des Schmierbauches hängt und das bis zur Brust hochgezogene bekleckerte Unterhemd, dachte Luise, und wendetet sich angewidert ab. Sie fühlte nur noch Abscheu. Aus Liebe wurde Mitleid und aus Mitleid Hass.
Luisa schenkte sich ihre gesamte Aufmerksamkeit, als ihr Mann wissen wollte, ob sie genug Bier kaltgestellt hätte. Eigentlich wollte sie ihm keine Antwort geben, sagte dann aber doch: "Ja", und "ich habe dir ein paar Brote gerichtet." Eigentlich wollte sie auch noch sagen: "Es kann spät werden." Sagte stattdessen: "Ich gehe jetzt".
Fred hörte seiner Frau, wie immer, nicht zu. Ihn interessierte das Fernsehprogramm mehr, als alles was mit seiner Frau zu tun hatte. Die Tatsache, dass seine Frau dabei war, eine wegweisende und schwerwiegende Entscheidung in die Tat umzusetzen, kam Fred nicht in den Sinn.
Luisa war froh nicht gesagt zu haben 'es kann später werden'. Sie wollte sich nicht mit einer Lüge verabschieden.
 
 

Trilogie "Du wirst immer fetter": "Es kann spät werden" - "Innerer Monolog einer frustrieten Frau" - "Ehestreit".
Zum gleichen Thema (Inhalt) "Du wirst immer fetter" habe ich drei Versionen geschrieben. "Es kann spät werden" im reflektierendem Stil, "Innerer Monolog einer frustrieten Frau" in verinnerlichter Erzählweise und "Ehestreit" in der Dialogform. Die Leserin, der Leser kann entscheiden welcher der drei Szenen am überzeugendsten wirkt.
Manfred Bieschke-Behm, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Manfred Bieschke-Behm).
Der Beitrag wurde von Manfred Bieschke-Behm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.10.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Manfred Bieschke-Behm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Labyrinth. Reise in ein inneres Land von Rita Hausen



Ein Lebensweg in symbolischen Landschaften, das Ziel ist die eigene Mitte, die zunächst verfehlt, schließlich jedoch gefunden wird.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Mensch kontra Mensch" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Manfred Bieschke-Behm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Schminken (Generationsdialog) von Manfred Bieschke-Behm (Leben mit Kindern)
Nazis, Stasi und andere verdiente Bürger von Norbert Wittke (Mensch kontra Mensch)
Nur ein Stein - Lebendige Gedanken zur toten Materie von Christa Astl (Gedanken)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen