Horst Werner Bracker

. . . und Engelchen starb in meinen Armen

 

 

2 Sequenzen eines Herbsttages         

Der Herbst ist über die Flur gegangen und hat das Laub der Bäume und Sträucher bunt gefärbt. In Gelb und golden, Braun und allen Rottönen leuchtet wie verzaubert nun der Wald.
Eine Komposition der Herbstfarben, der Höhepunkt und  das Abschiedsfest einer langen, vegetativen Periode, die vom Frühling, über den Sommer, bis hin zum Herbst reicht.
An Bäumen und Sträucher gereift, von der Sonne gesüßt, hängen die Früchte des Sommers in großer Fülle an den Zweigen. Bereit, gepflückt zu werden, und des Menschen Herz und Gaumen zu erfreuen.
Die Luft, so Düfte schwer,- fasst könnte man sie greifen!
Es riecht nach Erde und Pilzen, nach Kräutern und Reife, nach Vergänglichkeit und Neuanfang.
Ein Potpourri der Gerüche dreier Jahreszeiten!
Der Herbst ist die Zeit einer kaum fassbaren Schönheit und Vielfalt.
Zur Herbstzeit durch einen Buchenwald zu wandern, hat etwas Mystisches.
Wie die Säulen einer gotischen Kathedrale,- ragen die mächtigen, silbrigen Stämme des Buchenwaldes himmelwärts empor.
Eine undefinierbare, spirituelle Aura umgibt den einsamen Wanderer. Ruhig, und ganz bescheiden wird des Menschen Herz, der diese heil ‘gen Hallen der Natur betritt.
Man wähnt sich allein; und ist doch von vielfältigen, produktiven Leben umgeben. Denn alles Leben in Flora und Fauna, bereitet sich im Herbst auf den kommenden Winter und den Neubeginn im Frühling vor.
Und als sei in der Nacht ein Zauber über das Land gekommen und hat die Natur fein geschmückt,- nebelsilbrig, schimmern Laub und Halme! Selbst, ein Trupp Kraniche hat der Zauber mitgebracht. Ihr Trompeten hat mich in der Frühe geweckt und mich ans Fenster gestellt.
Im Nebel verborgen, vor meinem geistigen Auge sichtbar, sah‘ ich die Kraniche gen‘ Süden ziehen. Ihre Rufe,- klangen wie Musik in meinen Ohren.
Der neue Tag begann, wie jeder Tag davor.
Die Sonne durchbrach schon früh den Nebeldunst und ließ die Herbstfarben leuchten. Ein schöner, sonniger und friedfertiger Oktobertag verhieß dieser Tag zu werden.
Um die Mittagszeit fuhr ich mit meiner Schwester Karin durch die weite Ebene der Haseldorfer-Marschen
Der Obst-Hof von Tante Emma war unser Ziel. Wie jedes Jahr im Oktober, holten wir Obst für den langen Winter.
Doch bevor wir in der Marsch fuhren, parkten wir den Wagen auf den Geestberg. Von hier oben, (gerade mal 20-30 Meter), hatten wir einen herrlichen Blick, auf die gewaltige Ebene der Haseldorfer-Marschen
Eine endlose, flache, grüne Kulturlandschaft, ein Flickenteppich aus Felder und Wiesen, von vielen Gräben durchzogen, deren Wasser in der Gleißenden Mittagsonne blinkten.
Einzelne Gehöfte und kleine Ansiedlungen lagen weit verstreut in der Landschaft.
Darüber wölbte sich ein weiter, blauer Himmel, mit weißen Wolken, die wie Segelschiffe am blauen Firmament dahin trieben.
Am fernen Horizont vereinigten sich Himmel und Erde. Und hinter dem Horizont liegt eine weitere Ebene, - bis hin zum großen Elbestrom. Diese wunderschöne, weite Kulturlandschaft, mit dem Blick in die fernste Ferne, übt auf den empfindsamen Menschen eine besondere Magie aus.

 

Der weite Blick, beschränkt sich nicht nur auf das Bild der Landschaft, sondern auch auf das Denken der Menschen selbst.
Sagt und beschrieb immer wieder, der vor kurzem, verstorbene, große, deutsche Schriftsteller, Siegfried Lenz. Und er hat Recht! Die produktiven Gedanken potenzieren sich zu nie gekannten Höhen. Der weite Horizont der Landschaft, erweitert gleichsam auch den geistigen Horizont des Menschen. Grad so,- als lägen die Antworten und Erkenntnisse schwieriger Fragen und Problemlösungen, sichtbar am fernen, unverstellten Horizont. Der Geist des Menschen ist nicht durch Enge, durch verstellte Horizonte eingeengt. Er kann sich Raumgreifend entfalten. Nirgendwo sonst, sind die Menschen in Deutschland der Philosophie so zugetan, wie im flachen Norden. Wo immer sich Menschen treffen, wo Menschen zusammen sitzen, wird philosophiert!
„Was für ein weites,- friedvolles Land!“ sagte Karin.
„Wie still und schön es ist!“ meinte ich und schaute Karin von der Seite an. Wir genossen diesen schönen Herbsttag mit all‘ unseren Sinnen. Karins Gesicht strahlte eine innere Zufriedenheit aus. Gekonnt, steuerte sie den Wagen, über die mit roten Backstein-Ziegeln, gebauten, schmalen Straßen der Marschen.

***
Plötzlich und unvermittelt,- änderte sich die ländliche Idylle in Chaos, Blut, Schmerzen und wildes Geschrei.
Ein Borgward hatte uns schnittig überholt und war fünfhundert Meter weiter frontal gegen einen Baum gefahren. Der Wagen war zurück geprallt und gegen ein Stützseil gekippt, das einen hölzernen Telegraphenpfahl, der auf einer Wiese stand, als Stütze diente. Sollte das Drahtseil reißen, würde der Unfallwagen in die breite „Wetter „stürzen, der die Wiese von der Straße trennte. Die Familie würde unweigerlich ertrinken!
Hinter dem Lenkrad saß die Mutter. Ihr Mann, neben ihr auf den Beifahrersitz. Er hatte die zwei Jahre alte Tochter auf seinen schoss. Auf den Rücksitz zwei Jungen, im Alter von fünf und sieben Jahren. Die Dramatik bei diesem Unfall bestand darin: Zur damaligen Zeit, 60. kannte man noch keine Sicherheitsgurte, geschweige denn, den Airbags. Auch das Handy war noch nicht erfunden
Schnelle Hilfe zu holen, war äußerst schwierig, zumal in dieser dünnbesiedelten Marsch.
Karin bat mich, den Verletzten erste Hilfe zu leisten.
 
Sie selbst wollte Hilfe holen.

Das Bild das sich mir bot, entzog sich jeder Beschreibung und überforderte mich in jeder Beziehung. Fünf schwerverletzte, blutende, vor Schmerzen schreiende Menschen. Der ungeheure Stress, der mich plötzlich wie ein wildes Tier ansprang, ließ meine Beine zittern. Was tun, wo anfangen?
Doch wie so oft, in kritischen unübersichtlichen und chaotischen Situationen, wo es heißt,- schnell zu handeln und das Richtige zu tun, legt sich im Gehirn, quasi ein Schalter um und,- genau das Richtige und notwendige wird getan!
Das kleine Mädchen wurde durch die Windschutzscheibe aus dem Auto geschleudert und lag mit dem Gesicht dem Erdboden zugewandt, im Gras. Vorsichtig drehte ich die Kleine um, ihre Stirn war in voller Breite gespalten, aus der Wunde ragte eine Glasscherbe hervor. Behutsam nahm ich sie auf, hob sie auf meinen Armen und trug es zehn Meter hinter dem Auto und bettete sie im Gras. Rasch lief ich zurück und zog zuerst die Mutter, dann den Vater und schließlich die beiden Jungen aus den Unfallwagen und legte alle in stabiler Seitenlage im Gras. Mit ruhiger Stimme sagte ich, dass der Notarzt und der Krankenwagen schon unterwegs seien. Sie sollten still liegen bleiben. Alles wird gut!


Das kleine Mädchen war offensichtlich am schwersten verletzt. Ich wusste nicht, ob sie diese schwere Kopfverletzung überleben würde. Wenn du schon sterben musst, dachte ich,- dann nicht allein! Ich legte mich neben ihr ins Gras, schob meinen linken Arm unter ihren Nacken und hob ihr Köpfchen ein wenig an. Ihre blauen Augen schauten mich wie hilfeflehend an. Ein leises Wimmern kam aus ihrem Munde. Die Glasscherbe in ihrer klaffenden Stirnwunde machte mich schwer zu schaffen. Vielleicht entscheidet die Glasscherbe über Leben und Tod? Sollte ich das Glas vorsichtig herausziehen? Nein! Nein! Dachte ich, dann wird die Wunde stark bluten!
Ich nickte immer wieder beruhigend mit dem Kopf und sagte mit leiser, ruhiger Stimme: Alles wird gut Engelchen! Alles wird gut! Meine Hand, mit der ich ihr Köpfchen hielt, fühlte sich warm und feucht an. Ihr Blut lief in meiner Handfläche!
Wie viel Blut hat so ein kleines Wesen, schoss es mir durch den Kopf? Panik wollte mich befallen. Ich kämpfte mit meinen Tränen. Bloß jetzt nicht weinen dachte ich, das macht es für das Kind alles noch schlimmer.
 
Während ich leise mit Engelchen sprach, lauschte ich auf die Hilfe bringenden Sirenen eines Krankenwagens.
Aber alles blieb ruhig.
Der Notarzt und der Krankenwagen ließen weiter auf sich warten.
Karin kam zurück!
Während ich bei Engelchen blieb, kümmerte Karin sich um die Anderen verletzten.
 
Vor mir lag ein schwerverletztes Kind, mit einer furchtbaren Verletzung, und ich konnte nicht helfen!
Der psychische Druck in mir, steigerte sich ins unerträgliche und bereitete mir geradezu physische Schmerzen. Eine halbe Stunde,- war seit dem Unfall verstrichen.
Dann geschah, was ich nicht erleben wollte,- ihr Körper veränderte sich zusehends. Ihre blauen Augen verdunkelten sich ganz langsam und verloren den Glanz des Lebendigen. Ihr hübsches, niedliches Gesicht entspannte sich. Alle physische Schwere fiel von ihr ab. Das Muskelspiel in ihrem Gesicht, der lebendige Glanz der Haut, wandelte sich in puppenhafter starre. Ein dunkler Schleier des Todes legte sich über das kleine Menschenkind. Engelchen hatte aufgehört zu Atmen! Ich schloss ihr die Augen. Küsste sie auf die Wange und sagte: Ich werde immer an dich denken Engelchen!
Mich fror!
Noch einmal schaute ich in ihr Gesicht.
Um ihren Mund war ein Lächeln! Ein glückliches Lächeln!

War Engelchen im „Nahtodbereich?“

Dieser Begriff beschreibt das Phänomen: Das Hinüberwechseln vom Diesseits ins Jenseits.
Von denen ‚Zurückgeholte‘, immer wieder berichten.
Eines scheint bei den Nahtoderlebnissen gleich zu sein: Sie sind mit sehr starken, großen Gefühlen verbunden.-
Nahtoderlebnisse sind nicht neu:  Das ägyptische Totenbuch etwa 1600 vor Christus, Homers Odyssee etwa 700 vor Christus, und das Tibetische Totenbuch etwa 800 nach Christus sowie die apokalyptischen Bilder des Malers Hieronymus Bosch aus dem 15. Jahrhundert enthalten Darstellungen von Nahtoderfahrungen.

PlWide 11.2014

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.11.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Weil ich das Verschwenderische des Lebens begriffen habe, die Extreme erkannte und über den Weg von einem zum anderen nachzudenken anfing, weil ich verstand wie elend es ist, wußte ich auch, wie schön es ist und weil ich erkannte, wie ernst es auch ist wußte ich auch wie fröhlich es ist.

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