Evelyn Krampitz

Das verzerrte Spiegelbild


Dagmar ging über den kleinen Flur zum Zimmer ihrer Tochter und klopfte laut an die Tür: „Susi, aufstehen, ich rufe dich jetzt das letzte Mal!“

„Ja, ja, Mutti, ich komme ja schon.“ erschallte es missmutig aus dem Raum. Schlaftrunken zog sich Susi ihre dünne Bettdecke noch einmal bis zur Nasenspitze hoch und bedauerte es, dass bereits ein neuer Tag begann. Schließlich kroch sie aus dem Bett und huschte auf Zehenspitzen über den Flur unbemerkt ins Bad, wo sie die Tür sorgfältig hinter sich verschloss.

„Oh Gott! Wie sehe ich nur aus?“ murmelte sie ihrem Spiegelbild fassungslos entgegen und musterte mit großen, dunkel umrandeten Augen ihr hohlwangiges bleiches Gesicht. Noch verschlafen zog Susi ihren Schlafanzug aus und betrachtete voller Ablehnung ihren Körper im Spiegel. Nackend drehte sie sich hin und her und stöhnte verzweifelt auf.

„Das kann doch nicht wahr sein, mein Bauch ist so dick und ich bin so schrecklich fett.“ jammerte sie vor sich hin. Entrüstete holte sie die Waage unter dem weißen Badeschrank hervor und stellt sich darauf.
“Nein, nein, nein …“, hauchte sie entsetzt. Beim Anblick der Zahl riss sie ihre Augen auf und stotterte erbittert: „fünfundvierzig – ganze fünfundvierzig Kilo!“

Susi sprang von der Waage herunter und stellte sich abermals darauf und hoffte so sehr, dass jetzt ein anderes Ergebnis herauskommen würde. Doch der dumme Zeiger blieb abermals bei fünfundvierzig Kilo stehen.

Kopfschüttelnd stieg sie von der Waage und wagte erneut einen Blick in den Spiegel, schaute sich minuziöser an. Dort sah sie nicht das Spiegelbild eines Mädchens, das hager aussah, einem wandelnden Gerippe glich. Sie nahm nicht die spitzen Knochen wahr, die aus der scheinbar durchsichtigen Haut herausragten.

Sie sah sich auseinandergezerrt!

Sie sah das Bild eines Mädchens, das dick war, das aufgepustete Wangen hatte, das überschüssige Fettrollen um Bauch und Hüfte trug und das mindestens achtzig Kilo wiegen musste.

„Also habe ich zugenommen!“ stellte sie resigniert fest. Ein dicker Kloß hing in ihrer Kehle, ließ sie mehrmals bitter schlucken. Langsam füllten sich ihre Augen mit Flüssigkeit, zogen einen Schleier über das Blau ihrer Pupillen und das junge Mädchen kämpfte mühsam gegen die aufkommenden Tränen.
„Wie kann ich schlanker werden, wie nur?“ hämmerte es in ihrem Kopf. Diese Frage brannte schon wochenlang in ihrer Seele.

Bewusst bummelte sie während ihrer Morgentoilette. Wusste sie doch genau, wenn sie lange genug trödelte, würde später keine Zeit mehr für das Frühstück übrig sein.

Unter der getönten Tagescreme und dem Rouge verschwand ihr blasses, schrecklich müde wirkendes Gesicht und verlieh ihr ein frisches Aussehen. Ein letztes Mal schaute sie sich hasserfüllt im Spiegel an und ging mit einem honigsüßen Lächeln in die Küche zur Mutter.

„Mutti, ich bin aber spät dran“, meinte sie so beiläufig und umarmt Dagmar dabei stürmisch, gab ihr einen Kuss auf die rechte Wange, „ich nehme mein Frühstück mit. Pack‘ es mir bitte ein!“
„Nein, Susi, heute nicht!“ energisch schob sie ihre Tochter von sich weg und zu dem Stuhl ihr gegenüber hin: „Du setzt dich jetzt hier her und isst dein Frühstück vor mir auf. So, wie du es mir immer versprichst!“
„Ja doch, Mutti. Nur jetzt nicht, ich habe keine Zeit mehr, sieh doch, wie spät es ist!“ antwortete sie missmutig und griff hektisch nach der Alufolienrolle auf dem Küchenschrank, um die Brote selber darin einzuwickeln.

„Susi, es ist noch nicht so spät.“ erwiderte Dagmar ganz ruhig, „Weißt du, ich hab‘ die Uhren um eine halbe Stunde vorgestellt! Du hast also noch genügend Zeit zum Essen, ich ...“
„Was? Was hast du gemacht?“ fassungslos stierte sie ihre Mutter an und schrie: „Das kann doch nicht wahr sein, spinnst du denn?“
„Ich, ich spinne? Hm …“ ihre sorgenvoll blickenden Augen suchten die ihrer Tochter und ihre rechte Hand griff über den kleinen Tisch auf den Arm ihres Mädchens, streichelte ihn sanft.
Flehentlich wandte sie sich ihrem Kind zu: „Susi, Susi, sieh dich doch an. Du bist nur noch Haut und Knochen, nichts ist mehr da, nichts!“ ein tiefer, trauriger Atemzug war zu hören, ehe sie bedächtig weiter sprach, „ich mach‘ mir große Sorgen um dich. Das geht jetzt schon seit einem halben Jahr so, dass du immer weniger wirst. Du dich vor dem Essen drückst und denkst, ja du bildest dir ein, ich merke es nicht. Susi - was ist los?“

Schnippisch zog sie ihre Hand vom Tisch weg und verschränkte provokativ ihre Arme vor ihrer Brust.
„Du, du …“, brach es aus ihr heraus, „du täuscht dich. Was soll schon sein? Nichts ist! – Gar nichts …“ und wieder quoll Flüssigkeit in ihre Augen. Das junge Mädchen bemühte sich mit äußerster Willensanstrengung, keine Träne zu vergießen, sich ja nicht vor ihrer Mutter bloß zu stellen. Schnell rieb sie sich mit ihren zusammengeballten Händen über die Lider und schaute trotzig ihrer Mutter entgegen!
„Susi, bitte, bitte sieh dich doch an!“ hilflos und beschwörend redete Dagmar weiter, „lass uns reden, bitte, bitte mein Kind!“

Langsam fühlte sich Susi nicht mehr wohl und bekam Angst, dass ihre Mutter sie durchschauen könnte.
Still fragte sie sich: ‚Was nun?‘ Sie wollte keine unendlichen Gespräche führen, sie wollte doch nur eines. Nichts essen.

„Aber Mutsch, nun mach‘ dir mal keine Sorgen …“, lenkte sie gewandt ein. Schnell stand sie auf und ging zu ihr hin, umarmte sie.
„Weißte was? Wir machen uns heute einen schönen Abend und da reden wir, ja?“ schlug sie vor, obwohl sie genau wusste, dass ihre Mutter nicht vor einundzwanzig Uhr daheim sein würde und sie dann bereits in ihrem Bett lag.
Dagmar überlegte kurz und nickte, „Na gut, meine Kleine“.
Sie zeigte mit dem Finger eindringlich auf das vorbereitete Frühstück: „Doch das Brötchen isst du jetzt noch - ohne Widerrede.“

Erschrocken schaute Susi ihre Mutter an und begriff, dass eine weitere Ausrede zwecklos wäre. Widerwillig biss sie von dem Marmeladenbrötchen ab. Sie kaute und kaute. Voller Ekel schluckte sie einen Bissen nach dem anderen herunter. Endlich fertig, endlich alles aufgegessen sah sie ihre Mutter triumphierend an und schob den Teller beiseite.

Dagmar schaute sorgenvoll ihrer Tochter zu und freute sich insgeheim darüber, dass der Trick mit der Uhr geklappt hatte.

Aus ihren Gedanken gerissen sagt sie: „Das ist toll, Susi! Siehst du, es geht doch ...“, und lächelte sie an, „und heute Abend sprechen wir über unsere Probleme, ich nehme mir die Zeit“, leise flüsterte sie noch, „viel Zeit für dich - versprochen.“
Diese Worte schmerzten Dagmar und schuldbewusst hämmerten sie in ihrem Kopf. Ganz leise fügte sie hinzu: „Wann haben wir das letzte Mal gemeinsam Abendbrot gegessen?“

„Klasse, Mutti! Darauf freue ich mich schon!“ antwortete Susi mit einem traurigen Unterton.
Das hatte sie ihr schon so oft versprochen. Sie kam aber nicht eher nach Hause oder sah sich die Premiere eines neuen Ballettstückes nicht an.
Wegen ihrer Arbeit hatte sie es nie einhalten können.
Doch wie glücklich wäre Susi, wenn ihre Mutter sie wieder einmal tanzen sehen würde, wenn sie ihre Sprünge miterlebte. Hier wollte sie die Beste sein, hier wollte sie allen beweisen, dass sie keine Verliererin war.

„Ich muss noch mal aufs Klo!“ sagte Susi beiläufig und ging ins Bad. Sie verschloss die Tür und hockte sich vor das Toilettenbecken. Ganz weit steckte sie sich ihren Finger in den Hals und erbrach. Susi schaute mit einer inneren Genugtuung den Essensresten beim Herunterspülen hinterher und hauchte siegessicher: „Das macht mich nicht fett!“. Um den unangenehmen Geschmack loszuwerden, putzte sie sich noch einmal die Zähne.

Schnell ergriff sie in ihrem Zimmer die Schulsachen und ihren Trainingsbeutel für den Ballettunterricht und tippelt zur Wohnungstür.
“Machs gut Mutti!“ rief sie noch in die Wohnung und ging los.

Auf dem Weg zum Bus beschloss sie, diesen nicht zu nehmen. Sie wollte die Strecke zu Fuß bewältigen, um dabei überschüssiges Fett zu verbrennen und rannte los.

***

Dagmar saß noch immer in der Küche am Frühstückstisch und erschrak, als die Wohnungstür ins Schloss fiel. Jetzt verlor sie ihre Haltung und sackte in sich zusammen. Immer wieder fragte sie sich, was das mit Susi sein könnte und ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit. Es war für sie nie einfach, alleine mit dem Kind und ihren ständigen finanziellen Nöten. Susis Vater zahlte keine Alimente und er kümmerte sich auch einen Dreck um sein Kind. Aber sie wollte doch ihrer Tochter den Himmel auf Erden schenken und zeigte ihr oftmals die Hölle. Fünfmal zogen sie wegen ihrer beruflichen Karriere um, fünfmal mussten beide einen Neuanfang wagen, fünfmal neue Freundschaften schließen.
Aber jetzt hatte sie es geschafft. Als Stellvertreterin des Hotelmanagers war sie finanziell abgesichert. Nur zu welchem Preis? Diese bange Frage brannte in ihrem Herzen.

Seufzend stand sie auf und ging schwerfällig ins Bad.
„Ach du liebes Bisschen, ist das spät!“ rief sie erschrocken und erledigte eilig ihre morgendliche Toilette. Schnell zog sie ihr dunkelblaues Hosenkostüm an, schnappte sich die Tasche und erharschte gerade noch die Straßenbahn.

Im Büro angekommen wollte sie die notwendigsten Aufgaben erledigen, doch sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Immer wieder grübelte Dagmar über das „Warum“, über das „Was wird“ nach. Dabei fühlte sie eine aufkommende Ohnmacht in sich und diese alles auffressende Leere verschlang sie fast. Aber Dagmar wollte nicht ganz in diesem Nichts versinken. Nein - sie musste etwas tun. Nicht irgendwann und nicht irgendwie, sondern jetzt! Deshalb gab sie im Internet das Suchwort „Essstörungen“ ein. Viele, viele Seiten wurden ihr zur Auswahl angezeigt. Jetzt suchte die Frau gezielt nach einer Adresse, nach einer Beratungsstelle in ihrer Stadt und sie fand einen Ansprechpartner. Zaghaft wählte sie die Nummer.

Es klingelte und plötzlich hörte sie eine Stimme: „Beratungsstelle für Essstörungen Cinderella – was kann ich für sie tun?“
„Ich, ich habe ein Problem – meine Tochter, die hat ein Problem ...“
„Woher kommen Sie?“
„Ich bin von hier, von ...“
„Wollen Sie nicht lieber vorbeikommen, ich habe Zeit für Sie!“
„Ja, ja gerne. Wann kann ich ...“
„Gegen fünfzehn Uhr, wenn es Ihnen Recht ist!“
„Das ist mir recht. Ja. Ja, ich komme!“

Dagmar klärte ihren Feierabend gegen fünfzehn Uhr und machte sich auf dem Weg zu dieser Beratungsstelle, sie lief wie hypnotisiert durch die Straßen, sah keine Schaufenster, sah keine vorbeieilenden Menschen. Still fragte sie sich immer und immer wieder: „Können die mir helfen?“

Pünktlich stand sie vor der Tür und klopfte zaghaft an.
“Herein!“
Sie zögerte kurz, nur einen Moment lang, dann drückte sie entschlossen die Türklinke nach unten und trat ein.

Lange sprach sie mit einer netten Dame und begriff allmählich, was ihre Tochter hatte, was für ein Kampf es zu kämpfen gab und sie begann zu ahnen, dass dieser Kampf nicht nur Gewinner kennt!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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