Die brodelnde Menschenmenge keilt mich ein, dicht gedrängt stehen wir beisammen, ratlos, fragen einander, was wohl passiert ist. Chromblitzende Feuerwehrautos parken in weitem Rund, versperren uns die Sicht auf das lodernde Gasthaus. In der Hand halte ich noch immer die Serviette ...
Während des Dinners, noch bevor der köstliche Nachtisch serviert wurde – Mousse au chocolat - mußten wir Hals über Kopf das Lokal räumen. Dabei schätze ich dieses Dessert, auf das ich heute allerdings verzichten wollte, über alle Maßen. Wie es auf der Zunge zergeht. Wie der Löffel zielstrebig den nächsten Bissen bereithält, wiewohl der letzte noch nicht hinuntergeschluckt worden ist. Aber was soll’s.
Jetzt stehen wir hier. Schauen interessiert den fleißigen Feuerwehrleuten zu, die eilig Schläuche verlegen, günstige Positionen für den Schuß mit dem Wasserstrahl suchen, dem Brandherd zu Leibe rücken wollen. Ich muß gestehen, sie machen ihre Sache ausgezeichnet.
Nebenbei bemerkt: Die Serviette in meiner Hand ist blütenrein. Sie ist mein ganzer Stolz. Ich fürchte, ich werde ein klein wenig ausholen müssen ...
Es war so gegen halb acht, denke ich, als wir heute das Gasthaus betraten. Wir, das sind meine Dorothea und ich. Wir wollten uns heute abend verloben; eine kleine Feier nur für zwei.
Als erstes fielen mir die Servietten auf den feinen Tischtüchern ins Auge. Eine emsige Kraft hatte sie sorgfältig zusammen gelegt, akkurat gefaltet und - nicht ohne Kunstverstand - unter das Besteck geschoben. Wie ein Blitz durchzuckte mich, was Dorothea mir tags zuvor über Tischdekorationen eingeimpft hatte.
„Nur Ignoranten“, so meine Braut, „betrachten einen festlich gedeckten Tisch als profanen Gebrauchsgegenstand, den man nach Belieben verändern darf. Der wahrlich gebildete Erdenbürger jedoch respektiert die nicht geringe Mühsal des Dekorateurs!“
Ich wußte, was sie damit zum Ausdruck bringen wollte. Sie spielte auf unser letztes gemeinsames Abendessen bei ihr zu Hause an, als ich, wohl aus naiver Unbedachtsamkeit, die bunte, liebevoll als Fächer aufgestellte Papierserviette, völlig in Gedanken, beinahe achtlos, entwirrt, auf meinen Schoß gelegt und mir im Anschluß damit noch das Gesicht sauber gewischt hatte. Niemals wieder sollte mir diesbezüglich Ähnliches passieren. Niemals. Soweit mein Vorsatz. Ich liebe Dorothea!
Am heutigen Abend also wies uns ein vornehm gekleideter Kellner unsere Plätze an, mit äußerster Behutsamkeit setzte ich mich an den Tisch, auf das sorgfältigste darauf bedacht, bloß diese feierliche Dekoration nicht zu verderben.
Das Tischtuch erstrahlte in der Farbe zarter Eierschalen, die Servietten wichen im Ton kaum davon ab. Sie waren nur eine Nuance - heller. Dem Betrachter bot sich ein Bild, als hätten sie lange Zeit auf demselben Tischtuch gelegen und wären irgendwann einfach weggenommen worden. Als sähe man lediglich den schattigen Umriß der Tücher. Wie eine Wand etwa, die uns heimlich jene Stellen verrät, an welchen einst Bilder alter Meister hingen.
Bereits ein erster ungeschickter Griff nach der Speisekarte sorgte für Turbulenzen. Mein linker Ärmel berührte die baumwollene Besteckunterlage und katapultierte die Serviette brutal in Richtung Tischmitte. Verstohlen starrte ich auf Dorothea, sie war, wie so oft, mit ihrem Make-up beschäftigt. Gott sei Dank! Blitzschnell versetzte ich die Dekoration wieder in ihren Urzustand, schickte einen prüfenden Blick zum aufmerksamen Kellner hinüber und stellte voller Erleichterung fest, auch er hatte nichts von dem Malheur mitbekommen.
So vorsichtig wie nur möglich schlug ich die Speisekarte auf. Was nur sollte ich bestellen? Am besten etwas ohne Soße, dann brauchte ich dieses herrliche Lippentuch nicht zu ruinieren.
Dezent trat der Kellner an unseren Tisch, zündete die beiden schlanken, nach oben spitz zulaufenden rosa Kerzen an, die den heutigen feierlichen Rahmen abrundeten und präsentierte mir die Weinkarte. Geschwind überflog ich das Angebot, ließ den Roten selbstredend außer Acht und orderte einen deutschen weißen Tafelwein, wobei ich der Serviette ein verschmitztes Lächeln zukommen ließ. Weißwein hinterläßt keine Flecken. Ha!
Dorothea bestellte sich ein Glas Wasser, was bei mir die allergrößte Hochachtung hervorrief. Und einen feurigen Bordeaux. Genau das, was ich unbedingt vermeiden wollte, nämlich Rotwein an meinem Mund, hielt sie heute abend für angemessen. Auch gut.
Mein Menü stellte ich wie folgt zusammen: Auf die Tomatensuppe verzichtete ich wohlweislich. Ich bestellte ein Naturschnitzel von der Pute, mit Pellkartoffeln, ohne die dafür vorgesehene Pilzrahmsoße! Auch keinen Nachtisch. Obwohl die Mousse au chocolat verlockend war. Aber ich blieb standhaft.
Dorothea entschied sich für eine Rinderzunge in Madeirasoße, Curryreis und einen bunten Salatteller mit Joghurt. Und, keinen Gedanken an ihre dralle Figur verschwendend, natürlich - die Mousse! Und zuvor wollte sie die Ochsenschwanzsuppe kosten.
Als Entree, als Ouvertüre sozusagen, bestellten wir zwei Gläser Cognac. Doppelten. Schließlich feierten wir heute nacht Verlobung.
Der Ober schwebte mit den Getränken heran, wir hoben die geräumigen Schwenker an, ließen sie leise erklingen, hernach etwas kreisen und nippten vornehm den ersten Hauch eines Schluckes.
Es kann nur Nervosität gewesen sein, die einen Tropfen Cognacs aus meinem Mundwinkel quellen und an meinem Kinn herunterlaufen ließ. Geschickt fing ich ihn mit dem Daumen ab und zerrieb die Flüssigkeit geistesgegenwärtig zwischen meinen Fingern. Beim Abstellen des bauchigen Glases berührte meine Hand den an dieser Stelle vollkommen instinktlos plazierten Aschenbecher, das Glas kippte um, und meine hochprozentige doppelte Ouvertüre ergoß sich in einem Schwall über die reizende Tischdecke.
Ein garstiger dunkler Fleck direkt vor Dorotheas Gedeck war die Folge, der sich beständig zu vergrößern anschickte, und dessen Dunstglocke während des Essens über dem gesamten Tisch schweben sollte. Unter Dorotheas tadelnden Blicken plazierte ich meine Serviette derart raffiniert über dem Cognacfleck, daß beinahe nichts mehr zu sehen war. Wie beiläufig rückte ich ihr Rotweinglas zurecht.
Dorothea nahm einen kräftigen Schluck daraus, und deutlich sah ich einen zarten rötlichen Rand um ihre Oberlippe! Ich platzte beinahe vor Neugierde, wie sie sich nun aus der Affäre ziehen wollte, ohne ihre Serviette zu benutzen.
Meine Sorgen erwiesen sich als gänzlich unbegründet. Nachdem sie ihre Lippen mit der Zunge einer sorgfältigen Vorreinigung unterzogen hatte, entnahm sie ihrer Handtasche ein Papiertuch und tupfte damit die Reste ab.
Dies empfand ich als glatten Betrug! Ich verfügte über kein Papiertaschentuch und wollte Dorothea natürlich nicht um ein solches bitten. Mit spitzen Fingern zog ich meine sympathische Serviette vom Cognacfleck herunter und legte sie wieder neben meinen Teller. Schließlich habe ich auch meinen Stolz. Im übrigen befand sich der Fleck größtenteils auf ihrer Seite ...
Ergo lagen unsere Servietten noch immer ebenso jungfräulich auf dem Tisch wie zu Beginn, und daran sollte sich im Verlaufe des Abends auch nichts ändern.
Während ich meine vom Cognac noch etwas klebrigen Finger rieb und rieb, ohne auch nur die Spur eines Erfolges verbuchen zu können, brachte der Ober ihre Suppe, und Dorothea schwärmte nach dem ersten Löffel von der Köstlichkeit, die ich unbedingt probieren sollte. Alles Sträuben half nichts. Wenn Dorothea sich einmal entschlossen hatte, daß ich unbedingt etwas probieren wollte, war ich machtlos.
Von dunklen Vorahnungen ergriffen langte ich über den Tisch, packte mit den klebrigen Fingern den Löffel und führte ihn mit unsteter Hand zum Munde. Alles ging glatt. Die Ochsenschwanzsuppe schmeckte in der Tat vorzüglich. Nur, als ich Dorothea den Löffel zurückgeben wollte, blieb er an meinen Fingern haften und fiel aufs Tischtuch, wo er einen unübersehbaren feuchten Ochsenschwanzsuppenfleck hinterließ. Allerdings - und das trug sehr zu meiner Beruhigung bei – wiederum auf ihrer Seite!
Dorotheas Blick traf mich mit Verachtung, als sie ihr Weinglas auf der nun auch noch mit einem rötlichen Farbtupfer behafteten Tischdecke zurechtschob.
Sie hatte es gut, sie besaß ein eigenes Papiertaschentuch. Ich erwog, mich heimlich auf die Toilette zu stehlen, um mich einer Rolle des an solchen Orten verfügbaren Papiers zu bemächtigen, verwarf den Gedanken aber sogleich. Wie hätte das ausgesehen, wenn ich zwischen der Suppe und dem Hauptgang einfach vom Tisch aufgestanden und für einige Augenblicke verschwunden wäre. Außerdem: Eine Rolle Toilettenpapier auf dem Tisch, das schickt sich wohl nicht!
Was jetzt nur bedeuten konnte, ich mußte noch größere Vorsicht walten lassen. Inzwischen war es mir gelungen, meine klebrigen Finger an meiner schwarzen Smokinghose einigermaßen trockenzureiben. Freundlich strahlte mich die Serviette an. Sie wußte zu schätzen, was ich um ihrer Schonung willen alles erduldete.
Inmitten wachsender Anspannung servierte der Kellner beflissentlich das Hauptgericht. Mein Putenschnitzel sah verführerisch aus. Das lag vor allem an der dunklen Pfifferlingsoße, die der Koch, trotz meiner ausdrücklichen Hinweise - versehentlich - mit geübter Hand ziemlich pittoresk darüber einhergegossen hatte. Sie war noch um einige Farbtöne dunkler als der Cognacfleck, der weiterhin bestrebt war, sich hemmungslos auf dem Tischtuch auszudehnen. Nun war doppelte Achtung geboten!
Über die brennenden Kerzen hinweg vergewisserte ich mich, daß Dorothea mit ihrer Rinderzunge beschäftigt war, schnitt ein winziges Stückchen vom Schnitzel ab, ließ die Soße akkurat abtropfen und steckte es in den Mund. Genüßlich kauend, jedoch mit lauernden Blicken, beobachtete ich mein Umfeld. Sah die ungebildeten Gäste, wie sie, nichtsahnend und bar jedweder Konventionen, schamlos von den ihnen dargebotenen Servietten Gebrauch machten. Barbaren!
Weltmännisch, durch und durch Kosmopolit, hob ich die Schale mit den Pellkartoffeln an, schob mit der Gabel einige davon auf meinen Teller, direkt neben das Putenfleisch.
Ich weiß nicht, ob es daran lag, daß ich die Schale ein wenig zu schräg gehalten habe. Oder zu hoch. Eine der Kartoffeln machte sich jedenfalls plötzlich selbständig, und wie eine Bowlingkugel rollte der Flegel von der Schüssel in meinen Teller.
Sehr hoch spritzte es nicht. Die Tischdecke blieb verschont. Am linken Tellerrand allerdings bildete sich unheilschwanger ein schwerer Tropfen Soße, den die Gravitation unweigerlich in Richtung der an jener Stelle noch makellosen Zierde des Tisches zwang. Nun war guter Rat teuer. Unmerklich wanderte meine linke Rückhand gegen den Teller, versuchte so die sich anbahnende Katastrophe zu verhindern. Keine Sekunde zu früh. Schon machte das braune Ungeheuer namens Bratensoße Anstalten, sich vom Tellerrand zu lösen, wurde von meiner Hand jedoch elegant in Empfang genommen.
Wohin nun mit diesem häßlichen Tropfen? Sollte ich mich meiner Urahnen entsinnen und ihn schnöde ablecken? Was würde Dorothea dazu sagen?
Ich deutete lapidar ein Gähnen an, legte meine Hand quer über das Gesicht, und meine Zunge leckte wie besessen daran, bis nicht das geringste mehr zu sehen und zu schmecken war. Im Anschluß strichen meine Finger über das Kinn, als gälte es, die Naßrasur von heute morgen zu prüfen.
„Sind wir müde?“ drang es ohne Umschweife in mein Ohr, und eine gewisse Gereiztheit war nicht zu überhören.
„Nicht doch“, entfuhr es meiner Kehle. „Am Abend unserer Verlobung? Wo denkst du hin!“
Um diese Aussage zu untermauern, setzte ich mein heiterstes Lächeln auf. Ein kurzer Flirt mit der Serviette, und ich schwor bei mir: Dieses nette Stück Stoff wird heute nicht beschmutzt!
Zusammennehmen mußte ich mich, nichts weiter. Daher aß ich mit Bedacht, kaute gründlich, steckte nicht zu viel auf einmal in den Mund. Das ist auch viel gesünder. Alles lief wie am Schnürchen. Bis mir dummerweise beim Abschneiden eines Fleischstückchens ein Mißgeschick widerfuhr. Kaum erwähnenswert.
Das Messer - das diesen Namen gar nicht verdiente und das ich bei jedem Wettbewerb für Schneidinstrumente gnadenlos hätte durchrasseln lassen - durchtrennte nicht das ganze Stück. Eine unsichtbare, im Mikrobereich angesiedelte Fleischfaser mußte noch mit dem Mutterschnitzel verbunden gewesen sein. Beim Anheben zog sie das Steak mit nach oben, dann riß die Faser unvermittelt und ohne Vorwarnung - und das Putensteak plumpste klatschend auf den Teller zurück. Ein Schwall köstlichster warmer Pfifferlingsoße ergoß sich über den Tellerrand auf meine Hosen, meinen rechten Ärmel, das goldene Kettchen, das an meinem Handgelenk baumelte, und über nicht unerhebliche Teile meines Hemdes; das Tischtuch blieb verschont! Nur dem Umstand, daß Dorothea im selben Moment nach dem Kellner Ausschau hielt, war es zu verdanken, daß sie von meinem Pech nichts bemerkte.
Wie leicht hätte ich noch vor wenigen Tagen dieses Unheil beseitigen können. Oh, wie einfach hatten es all die Ahnungslosen, die ganz dicht neben mir - in Wurfweite einer Hand voll Krautsalat quasi - ihren Hunger stillten. Mich dagegen kostete es reichlich Überwindung.
Um weder Dorothea noch einen der Kellner gegen mich aufzubringen, sank ich auf meinem Stuhl langsam in mich zusammen. So, als suchten meine Beine unter dem Tisch, am anderen Ende, einen abhanden gekommenen Socken. Unter den mißbilligenden Augen meiner zukünftigen Verlobten begann ich nun, heimlich - und unter Mithilfe der eierfarbenen Edeltischdecke - als erstes meine schwer in Mitleidenschaft gezogenen Hosen abzuwischen.
Ja, ja, ich weiß schon! Aber blieb mir denn anderes übrig? Zudem: Von oben sah man ja nichts. Ich wage nicht zu erahnen, was Dorothea dachte, daß ich da unten trieb. Die Schamröte, welche ihr vehement ins Gesicht schoß, konnte man mitnichten als tugendhaft bezeichnen.
Unbeirrt und halb unter dem Tisch liegend fuhr ich mit der Reinigung meiner Garderobe fort. Nach den Hosen kam, etwas höher gelegen, das Hemd an die Reihe, hernach das grazile Goldkettchen. Im Bemühen, laufend ein frisches Stück Tischtuch zu ergattern, zog ich beständig an demselben. Von niemandem bemerkt. Zweimal hatte Dorothea allerdings ihren Teller wieder vor sich postieren müssen, weil der auf unerklärliche Weise an der Tischkante entlang zu wandern begonnen hatte. Schwamm drüber.
Zu guter Letzt galt es noch, den Ärmel vom Bratensaft zu befreien. Aber die eierfarbene Decke streikte! Es war Dorothea, die mit aller Macht ihre Hände ins Tuch gekrallt hielt, nicht willens, auch nur einen Zentimeter Stoffes nachzugeben.
Wahrscheinlich hatte sie sich die Verlobung am heutigen Abend etwas anders vorgestellt. Ich im übrigen auch. Aber die Wege des Schicksals sind unergründlich.
Es wäre ja gelacht, hätte ich mich von zarter Frauenhand davon abhalten lassen, diese gründliche Säuberung zu Ende zu bringen. Ein kurzer Ruck, und Erfolg auf der ganzen Linie ward mir beschieden. Mit Inbrunst putzte ich den Rest.
Ein winziges Flackern im Augenwinkel ließ mich zwischendurch nach oben blinzeln, und so konnte ich gerade noch die Kerzen erkennen, die meinem Ungestüm nicht standzuhalten vermochten und sich gefährlich zur Seite neigten. Einen Augenblick später lagen sie auf dem Tisch.
Nun wären zwei umgefallene brennende Kerzen im Grunde nichts Ungewöhnliches. Wären sie nicht auf meine fehlgeleitete ‚doppelte Ouvertüre‘ namens Cognac gefallen, die mittlerweile vom gesamten Tischtuch Besitz ergriffen hatte. Das anfängliche schüchterne Züngeln wurde schließlich vom untrüglichen Zeichen einer Verpuffung abgelöst, welche die Tischmitte in Brand setzte. Mit einem raschen Griff rückte ich meine Serviette außer Reichweite der Flammen. Bis zur baldachinartigen Deckenbespannung war es kein sonderlich weiter Weg, und im Handumdrehen brannte das ganze Lokal. Lichterloh.
Schreiend rannten die Gäste hinaus. Etwas verloren versuchte einer der Kellner noch - unter Zuhilfenahme einer halbvollen Sodaflasche - der Feuersbrunst Einhalt zu gebieten. Vergeblich. Auch Dorothea und ich strömten dem rettenden Ausgang zu. An der Tür machte ich nochmals kehrt, eilte die paar Schritte zum Tisch zurück, ergriff die Serviette, die unschuldige, und strömte den anderen hinterher in die Sicherheit der Nacht.
Dort, in gebührendem Abstand, betrachteten wir das rauchende Szenario. Kurze Zeit später schon brauste die städtische Feuerwehr heran und begann sofort routiniert zu retten, was nicht mehr zu retten war.
Nun stehe ich zwischen den Schaulustigen, halte die reinste Serviette der Welt in Händen, gebe den fleißigen Brandbekämpfern gutgemeinte Ratschläge und schimpfe über den bodenlosen Leichtsinn gewisser Individuen.
Dorothea ist verschwunden. Sie wollte sich das mit der Verlobung noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Einzig die Serviette ist mir geblieben. Unverändert, so sauber, wie sie aus der Wäscherei kam, strahlt sie im abendlichen Dämmerschein mit dem brennenden Gemäuer um die Wette. Ich werde sie als Andenken behalten. An meine ,Beinahe-Verlobung‘. Auf meine Kommode werde ich sie legen, neben den Pokal für den dritten Platz im Kirschkernweitspucken. Vielleicht wickle ich den Pokal auch damit ein, das macht sich sicher gut.
Die Feuerwehrleute schwitzen erbärmlich; die Hitze, die ihnen vom Brandherd entgegenschlägt, scheint ihnen unangenehm. Wir könnten ja zurückweichen, wenn wir wollten, aber die dürfen nicht. Die Ärmsten.
In meiner unmittelbaren Nähe transpiriert einer besonders heftig, und ich spiele mit dem Gedanken, ihm rasch ein Bier hinüber zu bringen. Aber woher nehmen? Das Gasthaus steht ja in Flammen ...
Er scheint so etwas wie ein Hauptmann der Feuerwehr zu sein, denn er gibt laute Kommandos an seine Kollegen.
Plötzlich verläßt er seinen wichtigen Posten, richtet sich zur vollen Größe auf und schaut in meine Richtung. Sein Gesicht ist rabenschwarz. Im ersten Moment halte ich ihn für einen Neger und kann mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. Natürlich ist er kein Neger, aber dennoch sieht er aus, als hätte er an einem Dieselauspuff geschnüffelt. Tja, manche Berufe sind nicht einfach. Ganz rußverschmiert ist er, wie er da auf mich zuwankt.
„Wir haben kein Bier!“ ruft einer der Umstehenden ihm vorlaut entgegen. Ich hätte schwören mögen, daß ich meine Stimme erkannt habe ...
„Im Dienst sowieso nicht!“ erhalte ich zur Antwort, dabei grapscht sich der ,Schwarze‘ meine Serviette, entfaltet sie fachmännisch, wischt sich damit gründlich das Gesicht sauber, drückt sie mir wieder in die Hand und eilt zurück zu seinen Leidensgenossen. Der Ex-Neger.
Mit zwei Fingern halte ich nun mein Heiligtum. Ein wenig indigniert schiele ich in die Runde, niemand vermag meine Enttäuschung zu erahnen. Jetzt war alles umsonst. Ein wenig trübsinnig, aber im Grunde reinen Gewissens begebe ich mich auf den Heimweg. Den Schandfleck in meinen Händen lasse ich an der nächsten Straßenecke achtlos zu Boden fallen. Er bedeutet mir nichts mehr, bettet sich neben einem rostigen Gullydeckel zur vorläufig letzten Ruhe.
An einem einzigen Abend alles vernichtet: Ein Wirtshaus, eine Verlobung und was am schwersten wiegt, eine unvergleichliche, eine wirklich hart umkämpfte Serviette.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Francesco Lupo).
Der Beitrag wurde von Francesco Lupo auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.11.2014.
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