Hans-Georg von Rantzau

Zurück im Leben!

 
Mosbach, 4. Juli 2014, ein schwülwarmer Sommertag. Konstanze brütet eine Halsentzündung aus und kann nicht zum Dienst. Daher fahre ich sie gegen 11 Uhr zum Ärztehaus im Knopfweg. „Bis in einer Stunde“, verabschiede ich mich und will die Zeit nutzen für ein paar Besorgungen in der Stadt. Das Auto parke ich gegenüber dem Kulturtempel der Stadt, der Alten Mälzerei. Ich mache meine Runde, möchte zum Auto zurück. Aber ab jetzt läuft es anders als geplant.
 
Ich komme aus der Stadt und betrete, nichts Schlimmes ahnend, den Zebrastreifen an der Alten Bergsteige zwischen Parkdeck und Alter Mälzerei. Dieser Zebrastreifen lag schon vor 55 Jahren auf meinem täglichen Weg zum Kindergarten. Aufpassen ist angesagt, erst links, dann rechts, dann geradeaus… Aus gut 30 Metern Entfernung nähert sich von links ein roter Mercedes in langsamer Fahrt. Ok, der wird anhalten, alles klar. Also marschiere ich los.
 
Dann höre ich plötzlich zwei heftige Einschläge – wie das Klicken eines Fotoapparats. Der Blitz aus heiterem Himmel! Der Mercedes hat mich volle Kanne von links erfaßt und über meinen eigenen Haufen gefahren. Merkwürdigerweise empfinde ich ein unbeschreibliches, ja glückliches Gefühl von Schwerelosigkeit und Freiheit, aber keinerlei Schmerzen. Ich fühle mich in diesem Augenblick völlig mit Gott und der Welt im reinen, als mich eine Stimme fragt: „Wenn du jetzt stirbst, geht das in Ordnung?“ Es war noch nie klug, sich dem Allmächtigen in den Weg zu stellen, und so antworte ich ohne Zögern: „Ja, das ist gut so. Dann war 's das jetzt eben.“ Letzte, liebevolle Gedanken sind bei meinen Kindern, die einen besseren Vater verdient gehabt hätten, und bei Konstanze, die mit ihren betagten Eltern schon genug Theater hat und jetzt auch noch krank ist. Herr, vergib mir, so nimm denn meine Hände, Dein Wille geschehe. Eines Tages einfach gehen zu dürfen, ohne langes Siechtum oder Leiden, war es nicht genau das, was ich immer wollte?
 
So, jetzt bin ich also tot. Das hatte ich mir viel dramatischer vorgestellt. Ich wähne mich in einem riesigen, tiefschwarzen Raum, einem schier endlosen Tunnel. Es ist heiß und laut. Ist es der sprichwörtliche Höllenlärm, der sich hier auftut? Einige zufällig vorbeikommende Passanten werden in der Stadt die Kunde verbreiten, oben an der Mälzerei sei gerade einer totgefahren worden.
 
Aber die innere Uhr tickt weiter. Nach gefühlten 20 Minuten finde ich mich wieder, mitten auf der Straße, lehrbuchmäßig in stabiler Seitenlage mit Blick nach links, sehe Fahrertür und Unterseite eines dunkelroten Autos, den Auspufftopf, die Hinterräder, dahinter das Chinarestaurant, auf dessen verlockende Chappi-Whiskas-Trill-Speisekarte ich jetzt noch weniger scharf bin als sonst. Eigenartigerweise scheint das Leben genau dort weiterzugehen, wo es wenige Augenblicke zuvor zu Ende schien. Fluch oder Segen? Gibt es eine Rückkehr in ein Leben, das diese Bezeichnung verdient? Dein Wille geschehe!
 
Um mich herum herrscht hektisches Treiben. Volles Aufgebot, das komplette Programm, Polizei, Sanitäter, Notarzt. Profis sind am Werk, jeder Handgriff sitzt. „Grüß Gott allseits, vielen Dank, daß Sie mir helfen!“, begrüße ich die illustre Gesellschaft, und frage als erstes, ob ich jemanden geschädigt habe, notfalls bin ich versichert. „Nein, Sie sind nicht schuldig“, lautet die Antwort. Ich bin erleichtert, aber noch nicht beruhigt: „Dann steht da noch mein Auto, ein dunkelblauer älterer Audi, hundert Meter weiter oben, da läuft jetzt die Parkzeit ab, und wenn der Sheriff aus der Mittagspause kommt…“ – „Keine Angst, das regeln wir“, sagt ein freundlicher Polizist.
 
Ich schnappe auch sonst noch einige Sprachfetzen auf – Aufprall ungebremst – 50er-Zone –– offener Schienbeinbruch links – Frontscheibe kaputt – mit dem Kopf dagegen – hätte tot sein können – Glück gehabt – und manches andere. „Sagen Sie dem Fahrer, ich bin ihm nicht bös“, rufe ich in die Menge. Inzwischen haben die Helfer meine Taschen ausgeleert und mein Handy gefunden. „Geben Sie uns die PIN-Nummer, wen sollen wir alles benachrichtigen?“ – „Meine Frau werden Sie gar nicht erreichen, die ist in der Arztpraxis Habel“ ergänze ich. Obwohl ich deren Nummer nicht habe, wird sofort dort angerufen, und alle gehen zur Tagesordnung über. Ich merke, daß ich am Kopf stark blute, und mit vereinten Kräften hievt man mich auf eine Tragbahre.
 
„Wir fliegen jetzt zusammen nach Heidelberg, der Hubschrauber steht schon da“, sagt jemand zu mir. Oha, da muß ich schon ordentlich zugelangt haben. Zum Spaßvergnügen holt niemand einen Hubschrauber. Eigentlich toll, schon als kleiner Junge wollte ich immer mal Hubschrauber fliegen. Man muß nur aus allem das Beste machen. Der Rest ist Routine, man vertäut mich im Stauraum, hupend und schraubend hebt das Vehikel ab und rauscht davon. Dabei müßte ich als ordentlicher Mensch jetzt eigentlich die Blutlachen von der Straße schrubben. Dummerweise geht das gerade nicht.
 
Inzwischen hat sich Konstanze, die bei der Ärztin schneller als erwartet fertig geworden war, auf den Weg zur Apotheke gemacht. Sie kommt 50 Meter unterhalb der Unfallstelle vorbei und sieht, wie da einer am Boden liegt, von behendem Trubel umgeben. Aber sie will nicht gaffen und geht weiter. Die Apothekerin hat das Rezept nicht vorrätig und ruft deshalb bei der Ärztin an, die unmittelbar zuvor die Polizei an der Strippe hatte. „Ganz schnell bitte, die Frau von Rantzau…“ – so schließt sich der Kreis.
 
Die Mosbacher Unfallretter haben einen Super-Job gemacht. Eigentlich geht es mir unverschämt gut, besser hätte ich es nicht erwischen können. Von dem 10minütigen Flug über den Kleinen Odenwald habe ich nicht viel, ich glotze die ganze Zeit gegen das steril-graue Blechdach des Hubschraubers. Landung im Neuenheimer Feld, ich komme in die Unfallchirurgie. Ein freundlicher Pfleger reicht mir ein Handy, ich darf zu Hause anrufen. „Konstanze, wie geht es Dir, was sagt die Ärztin?“ frage ich meine Frau und empfehle ihr, sie möge die Ruhe meiner Abwesenheit genießen.
 
Dann darf ich in die verschiedensten Röhren gucken, in die ich der Reihe nach geschoben werde, kreuz und quer, rauf und runter. Es bleibt bei einem schweren Schädel-Hirn-Trauma, einer etwas deformierten Birne und einem kaputten Bein, als Zugabe jede Menge Schürfwunden, Prellungen und blaue Flecken, alles schön gleichmäßig über den ganzen Körper verteilt. Für den Anfang reicht mir das auch. Mein Bein bekommt per Notoperation einen Fixateur, ein Osramologe vernäht kunstvoll meinen Kopf. Daß man Holz besser verleimt, scheinen die noch nicht zu wissen. Dabei steht die Weisheit „erst leimen, dann pressen“ in jedem Anfängerleitfaden für Heimwerker.
 
Am Tag darauf geht es per Krankentransport ins Allerheiligste, nämlich in die Orthopädie nach Schlierbach zu den Knochen-Docs, bekannt aus der gleichnamigen Fernsehserie. Die Ärzte dort sind einsame Weltelite. Unter den Schwestern und Pflegern gibt es liebe und nette, aber auch Dragoner und Oberlehrer. Für knapp zwei Wochen ist Schlierbach mein Domizil für die unfreiwilligen Ferien. In einer zweiten, komplizierten Operation bekomme ich einen etwa 30 cm langen Nagel, genauer gesagt eine Art Edelstahlträger, ins linke Bein eingesetzt, verbunden mit der Perspektive, in einem halben Jahr wieder ganz normal laufen zu können. Ich freue mich über manch lieben Besuch, wir haben viel miteinander zu lachen.    
 
Der Weg zurück ins Leben wird steinig, mühsam und oft auch schmerzhaft. Kleinste Dinge wollen neu gelernt sein und sind furchtbar umständlich, der Gang zur Toilette, die tägliche Hygiene. Es folgen erste Schrittchen mit dem Gehbock, dann mit Krücken. All das strengt sehr an, oft wird mir schwindelig. Aber die Ärzte sind zufrieden, vor allem mit sich selber. Unangenehme Komplikationen kann es immer noch geben. Autofahren, Gartenarbeit und vieles andere ist in den nächsten Monaten tabu. Zweierlei brauche ich jetzt: Viel, viel Geduld und eine liebe Frau. Zum Glück habe ich beides! Schnell spricht sich herum, daß ich die Geschichte überlebt habe. Also wird mich die Welt noch eine Weile ertragen müssen, mancher kaltgestellte Schampus wandert zurück in den Keller.
 
Nach gut zwei Wochen komme ich wieder nach Hause. Noch bin ich ein Wrack, ein Krüppel, und hilflos wie ein kleines Kind. Aber die Veilchen im Gesicht, die meine seit dem Unfall vermißte Brille hinterlassen hat, sind schon verheilt. Die Krücken werden die nächsten Monate meine ständigen Begleiter sein. Man soll nicht glauben, was man mit diesen lästigen Dingern mit der Zeit für eine Routine entfaltet! Eine dicke Spinne auf der Stirn wird mir als Erinnerung bleiben. Muß schon sein, man gönnt sich ja sonst nichts. Ich hätte es auch wirklich nicht geschafft, in Schlierbach noch zu einer Souvenirbude zu humpeln, um dort einen Wimpel oder einen Stocknagel für das heimische Edelkitschsammelsurium zu ergattern.
 
Stinkfaul hocke ich die nächste Zeit daheim und lebe wie ein Pascha. Das Schlimmste ist: Ich kann so gut wie gar nichts tun, außer meiner Familie zur Last zu fallen. Zum Glück hatte ich noch am Tag vor dem Unfall drei Kisten Bier eingekellert.
 
Aber es soll ja wieder alles gut werden, schauen wir also bester Dinge nach vorn! Der 4. Juli 2014 ist mein zweiter Geburtstag geworden. Das Gebot der Stunde lautet, die verbliebenen Kräfte wieder zu mobilisieren, zu nutzen und mit der Zeit, die mir das zweite Leben beschert, das Bestmögliche anzufangen. Die Zeiten sind nicht einfach. Aber ich bin nicht allein! Konstanze und unsere Kinder helfen mir nach Kräften, Schwiegerfreund Florian erledigt als Rechtsanwalt den Papierkram mit der Versicherung.
 
Nach drei Monaten klingelt es an der Tür. Die Tochter des Unglücksfahrers bringt mir meine Brille vorbei! Jemand hatte sie von der Straße aufgelesen und in den Kofferraum des Autos gelegt. Die Brille sieht aus wie neu und hat nicht den kleinsten Kratzer.

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