Francesco Lupo

Ein Pechvogel

Warum nur genieren wir uns albern zu sein?
Weil wir erwachsen sind? Oder sein müssen?
Gibt es schöneres, als sich ohne Alkoholgenuß
der Albernheit hinzugeben?
Wie das Kinder zuweilen tun …
 
   Dieser Tag war so grau wie Justins Gesicht. Der Mann sah aus, als wäre er bereits vor drei Wochen gestorben. Soeben hatte er es sich auf einer Bank im Park gemütlich gemacht und starrte ein Weilchen in die Luft. Neben sich die Stofftasche, prall gefüllt. Mit Banknoten. Das Giftgrün der Parkbank stellte einen imposanten Kontrast dar zu Justins aschfahlem Aussehen.   
Er griff in die offene Geldtasche, holte ein paar der Scheine heraus und betrachtete sie gelangweilt. Danach kramte er ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche, drehte am Rädchen und zündete die Geldscheine an. Sie waren nicht so leicht entflammbar wie normales Papier, aber letztendlich zeigten Funken und Rauschschwaden, daß seine Absicht von Erfolg gekrönt wurde.
Mehrere Minuten saß er so da, zündelnd, mit trübsinniger Miene, als sich auf dem Kiesweg von rechts knirschenden Schrittes ein älterer Herr näherte, in der Hand eine dicke Zigarre.
„Guten Tag, junger Mann“, rief er schon von weitem, „hätten Sie wohl auch Feuer für mich?“
Justin schaute nicht hoch, sondern hielt ihm einen der brennenden Scheine entgegen. Diese bizarre Szene hätte einem alten amerikanischen Film der Serie Noir entstammen können, wo gewisse gesetzlose Individuen zuweilen demonstrieren mußten, wie wenig ihnen am Geld lag. Weil sie nie dafür gearbeitet hatten und dennoch genug davon besaßen.
Als bemerkte er gar nicht, womit er sich die Zigarre anzündete, so selbstverständlich sog der Herr den Rauch in sich auf, bedankte sich und wollte weiter gehen. Da fiel sein Blick auf den Boden vor Justins Füßen. Verkohlte Reste lagen dort, Papier, auf dem noch vereinzelt Zahlen und Wasserzeichen zu sehen waren, und unvermittelt erkannte er die Rudimente der Zahlungsmittel.  
„Was tun Sie da?“ stieß er aufgeregt hervor. „Sie verbrennen Ihr Geld!“
Justin reagiert kaum, sondern langte in die Stofftasche und hielt dem Mann ein Bündel Scheine entgegen.
„Da! Nehmen Sie!“  
Er sprach unendlich langsam, ziemlich leise, und etwas wie Wehmut klang in seiner Stimme.
Aber anstatt das Angebot dankend anzunehmen, setzte sich der grauhaarige Herr neben Justin, zog an der Zigarre, blies den Rauch von sich und versuchte mit seiner freien Linken, dem unsinnigen Treiben Justins Einhalt zu gebieten. Sanft aber bestimmt drückte er die Hand mit dem Feuerzeug nach unten.
„Was es auch sei, das Ihnen am heutigen Tag passiert ist“, begann er mit fester Stimme, „es besteht sicher kein Grund, Ihr gesamtes Vermögen zu verbrennen. Glauben Sie mir. Ich weiß das. Ich bin Psychologe. Ich werde Ihnen helfen!“
Justin hielt tatsächlich inne, legte das Feuerzeug in die Geldtasche und betrachtete den seltsamen Herrn neben sich.
„Am heutigen Tag? Sagten Sie eben: Was mir am heutigen Tag passiert ist?“
Justins fragender Blick verharrte nur kurz auf dem glattrasierten Gesicht des Fremden neben sich, danach starrte er in die Ferne, der in diesem Park bereits nach wenigen Metern durch das Blätterdach der Ahornbäume Einhalt geboten wurde. Er atmete tief durch, und der Fremde merkte schnell, daß Justin sich eine Last von den Schultern reden wollte. Reden mußte. Und er war gewillt ihm zuzuhören. Kostenlos. Ausnahmsweise.
„Es ist nicht so“, hub Justin an, „daß es nur um heute geht. Ganz im Gegenteil. Solange ich mich zurück erinnern kann, verfolgt mich das Pech, es klebt an meinen Schuhen wie Hundesch … Sie wissen schon.“
„Junger Mann“, begann der Psychologe zu dozieren, „das Leben verläuft nicht geradlinig. Immer gibt es Phasen, die unseren Vorstellungen nicht so richtig entsprechen. Sehen Sie, ich bin seit einigen Monaten Witwer. Aber auch deswegen braucht man nicht gleich die Flinte ins Korn zu werfen.“
„Phasen, die unseren Vorstellungen nicht entsprechen? Sie haben ja keine Ahnung. Als Pechvogel wird man geboren, das dürfen Sie mir glauben. Ich spreche aus Erfahrung. Immer werde ich nur der Zweitbeste bleiben.“
„Der Zweitbeste? Aber das ist doch kolossal! Der Zweitbeste zu sein, das bedeutet doch einen Erfolg ohnegleichen“, versuchte der Mann bei Justin Ansätze eines Selbstwertgefühls zu entwickeln, mußte aber erkennen, daß dies nicht leicht werden dürfte.
„Der Zweitbeste zu sein“, schob Justin in seinem langsamen einschläfernden Ton nach, „bedeutet in meinem speziellen Fall, daß alle anderen besser sind. Wirklich kolossal. Nehmen Sie meine Geschwister. Meine Schwester zum Beispiel hat Abitur gemacht, mein Bruder macht Geschäfte mit Saudi Arabien, und was habe ich gemacht? Pleite.“   
Justin zog ein Bild aus der Innentasche seiner Jacke und reichte es dem Psychologen. Der betrachtete es eindringlich und sagte schließlich:
„Eine hübsche Dame. Das Ihre Frau. Oder Ihre Schwester?“
„Das ist mein Bruder.“
Der Fremde begann sich ein wenig unwohl zu fühlen, wollte aber nicht die Waffen strecken. Ergo lauschte er weiter, was Justin ihm mit Trauermiene erzählte.
„Bei mir zu Hause steht das Sonnenblumenöl neben dem Spülmittel. Fragen Sie nicht, wie oft aus meiner Bratpfanne Seifenblasen aufsteigen.“
Darauf konnte der Mann nichts erwidern.
„Mir wird schlecht, wenn ich Brechbohnen esse“, fuhr Justin betrübt fort, „und nachts kann ich nur schlafen, wenn ich bis drei zähle. Erst dann dämmere ich ein.“
„Sie zählen bis drei und schlafen? Das hab ich noch nie gehört. Klappt das immer?“
„Nicht immer. Manchmal zähle ich auch bis halb vier. Letzte Woche habe ich mir auf der Wiese an einem Baumstumpf das Knie gestoßen, und, weil es so weh getan hat, die Hose heruntergelassen und nachgeschaut. Als ich sie wieder anhatte, waren zwei Hummeln mit eingestiegen ...“
In imposanten Ringen stieß der Seelendoktor den Rauch seiner Zigarre von sich.
„Rauchen Sie?“ fragte er und griff in seine Innentasche, um Justin eine Zigarre anzubieten.
„Ich hab’s einmal versucht“, entgegnete der desillusioniert, „Hab mir den Mund verbrannt.“
Hastig steckte der Psychologe die Zigarren wieder weg.  
„Ich bin nur ein einziges Mal in meinem Leben im Urlaub gewesen“, erklärte Justin treuherzig. „In der Schweiz. Und habe den größten Wirbelsturm über mich ergehen lassen müssen, der dort je gesichtet wurde. Auch als Schriftsteller bin ich keine Größe. Ich bin der einzige Autor, der schreiben kann - und nicht lesen. In meinem Roman klingelt zweihundert Seiten lang ein Telefon. Neulich hatte ich bei einem Wettbewerb für Vierzeiler mitgemacht, aber mein Gedicht kam nicht in die engere Wahl.“
„Das müssen Sie mir unbedingt vortragen“, ermutigte ihn der Fremde. „Ich bitte Sie darum!“
„Ich weiß nicht, ob ich’s noch auf die Reihe kriege“, sagte Justin nachdenklich.
„Aber ich versuch’s. Also:
                                          < Es war einmal ein Jaguar,
                                             der jagte nur im Februar.
                                             ---  ---- ---- --- ----- ---- ---
                                            drum   fraß   er  Antilopen  >
 
Den vorletzten Satz habe ich vergessen. War irgendwas mit den Tropen. Aber so schlecht war das Gedicht nicht.“
„Nein, nein, das war nicht …ist nicht …schlecht.“
Der Herr begann traurig zu nicken. Mittlerweile war er nahe dran, Justin Glauben zu schenken, was dessen Pech betraf. Der lamentierte in einem fort:
„In unserer Verwandtschaft ist das Pech tief verwurzelt. Schon mein Vater war ein ausgesprochener Pechvogel. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der in einem Fahrstuhl einen Strafzettel erhalten hat. Später war er Pilot; ist am Steuerknüppel ertrunken. Kennen Sie das Standbild zur Ehrung des Unbekannten Soldaten vor dem Ehrenfriedhof?“
Der Banknachbar nickte.
„Der Unbekannte Soldat war mein Großvater.“
Justin holte tief Luft.
„Einer meiner Onkel ist Pastor gewesen. Er war fleißig. Hat oft und viel gesegnet. Früh morgens eine Glocke, gleich danach schnell noch die Gemeinde. Und kurz darauf das Zeitliche.   
Mein Vetter war Großwildjäger in Afrika. Er hat sich beim Reinigen seiner Doppelflinte selbst erschossen. Von hinten. Und ein Cousin mütterlicherseits wurde in Oberammergau bei einem Sportfest überrundet. Beim Hundertmeterlauf.
Ich selbst bin ja auch nicht unsportlich. Ich habe schon viel gemacht in meinem Leben. Früher war ich Biathlet. Mein Problem war, ich war nicht schnell genug, deshalb haben sie mich dann auch disqualifiziert.“
„Weil Sie als Biathlet zu langsam waren? Das kann ich gar nicht glauben“, sagte der Fremde. „Das ist doch kein Grund für eine Disqualifikation.“
„Das meine ich auch. Aber ich war wirklich langsam. Um schneller zu werden, hätte ich trainieren müssen. Das wollte ich nicht, deswegen habe ich meine Mitkonkurrenten aus der Loipe geschossen. Das hätte ich - laut Reglement - nicht gedurft …“
Der Mann an Justins Seite schluckte schwer, bevor er sagte:
„Hätten Sie eben etwas anderes gemacht.“  
„Ich habe Fußball gespielt. Früher. Meine Stärke als Stürmer lag in der Verteidigung. Danach hab ich’s als Torhüter versucht. Ich bekam nach dem Spiel immer die herzlichsten Gratulationen. Von der gegnerischen Mannschaft. Mein Verein hat mir eine stolze Summe geboten. Wenn ich zur Konkurrenz gehe. Und als Fußballtrainer habe ich 19 Spiele absolviert und 18 davon verloren!“
„Na, immerhin“, bemerkte der Psychologe.
„Das letzte wurde beim Stande von 0:7 abgebrochen. Einmal saß ich im Fußballstadion zusammen mit 43798 weiteren Zuschauern - und mich hat der Ball getroffen. Als Kind wohnte ich am Rhein und war so dick, daß sie mich beim Spielen auf den Schiffen als Boje verwendet haben. In Italien habe ich tagelang vergeblich versucht, den Schiefen Turm von Pisa gerade zu rücken.
Während meiner kirchlichen Trauung ging die Orgel kaputt, kurze Zeit später war ich wieder geschieden. Als Kind bin ich beim Milchholen hingefallen und habe dabei das Geld verbogen. Ich habe so viel Pech, daß mir die Leute am Wettschalter die Lose gleich zerrissen in die Hand drücken.
Ich habe auch einen enormen Sockenverschleiß. Vielleicht sollte ich sie ausziehen, bevor ich mir die Fußnägel schneide. Manchmal denke ich, ich bin ein Schaf im Wolfspelz.“
Der Psychologe überlegte fieberhaft, wie er Justin positiv stimmen könnte.
„Mögen Sie …Schwarzwälder Kirschtorte?“ fragte er unvermittelt.
„Nein. Mein Lieblingsnachtisch ist Rhabarberkompott“, bekam er zur Antwort.
Die Schwermut, die Justin fest im Griff hielt, schickte sich an, auch den Zigarrenraucher zu packen. Längst hatte er es aufgegeben, dem jungen Mann neben sich gutgemeinte Ratschläge zu erteilen. Eher hoffnungslos fragte er:
„Sind Sie musikalisch?“
„Musikalisch? Seit ich einmal nachts auf meinem Balkon gesungen habe, gibt es in unserer Gegend keine Katzen mehr. Die haben sich alle totgelacht. Und im Jugendorchester habe ich wieder aufgehört, weil mich niemand bemerkt hat. Ich war zu leise.“
„Was haben Sie denn gespielt?“
„Die Laute.“
Der Psychologe schluckte erneut. Derartiges war ihm zuvor noch nie zu Ohren gekommen.
„Vielleicht sollten Sie sich ein entspannendes Hobby suchen. Gehen sie doch angeln!“
„Ich habe schon geangelt.“
„Das ist gut. Und wo angeln Sie am liebsten?“
„Im Wasser. Neulich habe ich mir eine preiswerte Rute gekauft“, spann Justin den trostlosen Faden weiter, „unglaublich biegsam. Zu Hause habe ich bemerkt, daß die Schnur extrem kurz war. Und etwas dick. Außerdem fehlte die Rolle. Daraufhin hat mein Nachbar festgestellt, daß es sich um eine Reitgerte handelt. Jetzt muß ich mir wohl oder übel ein Pferd kaufen. Dabei hatte ich nie lange Haustiere. Die laufen mir immer weg. Einmal hat mit einer einen Husky verkauft, der hat mich immer gebissen. Ich habe daran gezweifelt, daß es ein Husky war, er sah gar nicht aus wie ein Schlittenhund, und das Halsband ist ständig runtergerutscht. Schließlich habe ich ihn von einem Hundespezialisten begutachten lassen, und es stellte sich heraus, es war tatsächlich keiner!“
„Was für eine Rasse war es denn?“ wollte der Fremde in Erfahrung bringen. „Ein Schäferhund?“
„Es war ein Meerschweinchen. Irgendwann ist es weggelaufen. Die einzigen Tiere, die partout bei mir bleiben wollen, sind diese kleinen Dinger.“
„Goldhamster?“
„So ähnlich ...“
„Mäuse!“
„Nein. Ich meine die kleinen Dinger, die sich immer an meine Ohren schmiegen und so lustig singen.“
„Sie meinen Kanarienvögel!“
„Ich meine Stechmücken und Fliegen. Die fühlen sich von mir angezogen. Die genießen meine Nähe.“
Der fremde Mann schwieg eine geraume Zeit betroffen, bevor er sagte:
„Ein hübsch Uhr haben Sie da. Wasserdicht?“
„Natürlich“, entgegnete Justin, „wenn da mal Wasser drin ist, krieg ich es nie wieder raus.“
Der Psychologe wollte das Thema wechseln.
„Was machen Sie denn beruflich?“
Justin schob sich gemächlich die Haare aus der Stirn und überlegte.
„Ich bin Bankräuber und habe eine vielversprechende Zukunft hinter mir. Die erste Bank, die ich überfallen habe, war eine Parkbank. Der letzten habe ich heute nachmittag einen Besuch abgestattet.“ Dabei deutete er auf die Aschenreste am Boden. „Ich wurde dabei gefilmt. Aber ich habe zur Tarnung eine blonde Perücke getragen, mit langen Zöpfen. Die ist mir allerdings ständig vom Kopf gefallen.“
Der ältere Herr neben ihm holte tief Luft.
„Für einen Bankraub kann man bestraft werden“, hielt er dagegen.
„Ich weiß ja, ich weiß es ja. Aber die werden mich nicht kriegen. Ich habe den Kassierer nämlich in die Irre geführt und erzählt, mein Name sei Rumpelstilzchen.“
„Sie meinen das Märchen mit dem Mädchen und den langen Haaren?“
„Genau.“
„Hieß das nicht …Rapunzel?“
Justin zuckte mit den Schultern und legte eine nachdenkliche Pause ein.
„Wegen jeder Kleinigkeit wird man heutzutage bestraft“, sprach er weiter. „Sprengen Sie im Spielcasino die Bank, werden Sie bewundert. Wenn Sie das mit einer normalen Bank tun, werden Sie bestraft wegen Sachbeschädigung. Warum muß ein Hurrikan keine Strafe zahlen wegen Sachbeschädigung? Einmal haben sie mich verhaftet, nur weil ich die Hände in den Hosentaschen hatte.“
„Was? Das kann ich gar nicht glauben.“
„Es waren nicht meine Hosentaschen.“
Traurig blickte Justin zum Himmel.
„Ich habe schon dies und das gemacht. Meist habe ich das Angenehme mit dem Nutzlosen verbunden. Einmal war ich Informant.“
„Informant? Beim Geheimdienst?“
„So ähnlich. Ich habe Einbrecher informiert, wenn die Bullen kamen. Ich war ein wichtiger Mann für diese Brüder. Meine Informationen waren nach deren eigenen Worten unbezahlbar. Das ist wohl der Grund, weshalb sie mir nie etwas dafür gegeben haben.
Zwischendurch habe ich die koffeinfreie Buttermilch erfunden. Aber es fand sich kein Interesse beim Verbraucher. Auch der Spaten für Einbeinige war kein rechter Erfolg. Irgendwann wurde ich mal beim Zirkus angestellt. Ich sollte dem Dompteur bei seiner Schimpansennummer assistieren. Gleich an meinem ersten Arbeitstag bin ich etwas zu spät gekommen, und er hatte schon angefangen. Ich habe mutig den vollbesetzten Affenkäfig betreten und gefragt, welcher der Anwesenden der Dompteur sei. Da konnte ich gleich wieder gehen. Als Museumswächter habe ich nur eine Nacht Dienst getan.“
„Wieso nur eine einzige Nacht?“ wollte der alter Herr wissen.
„Weil ich im Morgengrauen von einer Mumie verdroschen worden bin. In meiner Biographie wird einmal stehen: Er hatte links Schuhgröße 42 und rechts 45; er war da, aber es hat niemand bemerkt. Mit dem Rasenmäher habe ich mich neulich selbst überfahren. Es ist beinahe traurig.“
Justin legte eine Pause beim Erzählen ein, warf einen Blick in die Stofftasche an seiner Seite. Die Scheine wiesen fast alle merkwürdige Farbflecken auf.
„Glück“, fuhr er gewohnt schleppend fort, „hatte nur einer in unserer Familie. Vetter Oskar. Meines Wissens ist er der Einzige, der in einem 4 ½  Minuten-Ei eine Perle entdeckt hat. Aber so ist das Leben. Ihm haben die Frauen daraufhin Champagner ins Gesicht gespritzt. Wie sehr habe ich mir gewünscht, auch mir würden die Frauen Champagner ins Gesicht schütten. Das ist bisher nur ein einziges Mal passiert. Dummerweise war der Sekt, als er mir ins Gesicht flog, noch in der Flasche. Als ich einst auf dem Bürgersteig jemanden fragte, wo die städtische Klinik sei, gab man mir einen Schubs, ich fiel auf die Straße, wurde überfahren und kam auf direktem Weg dorthin. So was nenne ich schon Glück.“
Bei so viel Pech wurde seinem Sitznachbarn der Kragen zu eng. Aber Justin war noch lange nicht fertig.
„Nicht mal in die Kirche kann ich mehr gehen. Seit ich dem Herrn Pastor gestanden habe: ‚Ich habe gesündigt. Meine letzte Beichte war gelogen’. Aber das sind Peanuts.
Beim Bungee-Springen neulich haben sie alle schon applaudiert, bevor ich gesprungen bin, das heißt …bevor sie mich vom Gerüst gestoßen haben. Als ich dann am Seil hing, habe ich gemerkt warum. Unter größter Atemnot mußte ich erkennen, daß sie mir das Seil am Hals festgemacht hatten. Böse Buben. Dies war das einzige Mal, als alle sagten: Das hast du toll gemacht. Dabei hatte ich überhaupt nichts gemacht.
Als ich ein Kind war, habe ich eine wunderschöne Giraffe gemalt und alle fragten: Was ist das? Als Lehrling wollte ich von meinem Meister wissen, ob der Aufzug auch so heißt, wenn er nach unten fährt, dafür gab’s eine Ohrfeige. Seither frage ich nicht mehr so viel. Vor Gericht hat man mich einmal verwarnt, weil ich behauptet hatte, etwas eigenhändig gesehen zu haben. Manchmal glaube ich, die Menschen nehmen mich nicht ernst. Auch als Taschendieb war ich nicht sonderlich tauglich, weil ich meine Opfer beim Klauen immer gekitzelt habe. Als Geheimagent bin ich gescheitert. Die meisten meiner Aktionen waren so geheim, daß ich selbst nicht wußte, worum es ging.“
Justin machte eine kleine Verschnaufpause, bevor er weitersprach.
„In unserer Laienspielgruppe hatte ich nach den Vorstellungen immer Kopfschmerzen.“
„Weil Ihre Rolle so umfangreich oder so schwierig war?“
„Weder noch. Ich spielte das Hausmädchen und hatte nur einen Satz zu sagen: Die Suppe ist serviert! Aber weil ich als Frau verkleidet war, hat das Publikum immer so viel applaudiert.“
„Und davon hatten Sie Kopfschmerzen bekommen. Das gibt es. Ich kenne das.“
„Nein, das war’s nicht. Aber weil sie so rasend geklatscht haben, habe ich mir beim Verbeugen immer die Stirn am Souffleurkasten angeschlagen.
Ja, ja, ich wurde oft kopiert. Und immer übertroffen. Meine Freundin hat mir eines Tages eröffnet, daß sie bald in einem Labor in der Antarktis arbeiten wird. Sie glauben nicht, wie stolz ich auf sie war. Wochenlang habe ich ihr gesagt, wie stolz ich auf sie bin. Zwar weiß ich bis heute nicht genau, wo die Antarktis liegt, aber als ich sie irgendwann einmal fragte, was das sei, ein Labor, schaute sie mich sehr nachdenklich an. Danach sah sie sich genötigt, mich dorthin mitzunehmen. Im Rahmen einer Forschungsreihe sollte ich mit einem Heißluftballon mitfliegen, die Landschaft erkunden und fotografieren. Soweit ist es dann aber nicht gekommen. Vor dem Start waren wir von Pinguinen umringt, und diese wilden Bestien wollten nicht zur Seite weichen. Gut. Während ich dabei war, den liegenden Ballon mit Hilfe des Brenners mit heißer Luft zu füllen, habe ich zwischendurch den einen oder anderen vorwitzigen schwarzweißen Gesellen mal kurz mit der Flamme auf Distanz halten müssen. Also, die brennen ja hervorragend. Und geschmeckt haben sie noch besser. Aber nach diesem Zwischenfall mußte ich wieder abreisen.“
Langsam verließ den Psychologen der Mut.
„Danach habe ich es bei der Freiwilligen Feuerwehr versucht. Aber auch das konnte nicht lange gut gehen. Wenn man so einen Namen hat.“
„Wieso? Wie heißen Sie denn?“
„Justin.“
„Das ist doch ein hübscher Name.“
„Justin Brandstifter. Rufen Sie mal einen Brandstifter zum Löschen. Sie sagten vorhin, Sie seien Witwer?“
„Ja.“
„Weshalb?“
„Weil meine Frau gestorben ist.“
„Ah! Das erinnert mich an meinen letzten Kaufhausbesuch. Ich sollte für einen Freund einen Schaukelstuhl erwerben. In der Möbelabteilung habe ich mich auf verschiedene Modelle gesetzt und geschaukelt, bis ich etwas rumsen gehört habe. Zunächst konnte ich nichts Auffälliges entdecken. Daraufhin habe ich mich genauer umgesehen und festgestellt: Ich lag unter dem Schaukelstuhl. Den habe ich dann gekauft. Ein gutes Omen.“
Justins Blässe hatte sich längst auf den Psychologen übertragen, selbst dessen Zigarre war erloschen. Zu zweit saßen sie auf der grünen Parkbank und stierten vor sich auf den Kies.
„Ein einzige Mal in meinem Leben hatte ich Glück“, sagte Justin in die Stille hinein, und ein freudiges Lächeln ließ sein Gesicht erstrahlen.
„Niemand hat ausschließlich Pech“, glaubte der Psychologe nun doch noch einen Lichtschimmer am Horizont zu sehen.
„Bei einer Feier gab es Kuchen, und irgendwo darin war ein Geldstück versteckt. Ich hab’s gefunden.“
„Na, sehen Sie.“
 „Dabei habe ich mir drei Zähne ausgebissen.“
 Der Psychologe unternahm einen letzten Versuch:
„Und dieser Banküberfall heute nachmittag? Was ist damit? Immerhin haben sie den erfolgreich abgeschlossen.“
„Erfolgreich? Die Scheine sind alle präpariert, die Farbbombe ist explodiert. Sehen Sie sich das an!“
Von bösen Ahnungen gepeinigt schaute der Mann lange in die Stofftasche, griff schließlich hinein, nahm das Feuerzeug und begann nun seinerseits, die Scheine zu verbrennen. Auch jene ohne Flecken... Justin sah ihm interessiert dabei zu.
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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