Bernhard Pappe

Leben verlischt und entspringt


Leben verlischt und entspringt – Zwei Stunden eines Lebensweges

Die Geschichte handelt vom Leben, so, wie es gelebt werden muss. Sie trägt Tod und Trauer in sich und bejaht das Leben, denn nur so können diese Worte fließen. Nur im Leben kann diese Geschichte sich formen. Sie beschreibt einfach zwei Stunden eines Lebensweges.

Ich sitze am späten Abend am Schreibtisch einer Wochenstation. Im Grunde bin ich hier ein Fremdkörper. Ein Besucher schaut durch die Tür und ich erkläre mich sofort für nicht zuständig. Die Schwester der Nachtwache ist schon im Dienst und nimmt ein paar Papiere entgegen, die es abzugeben galt. Ich wende mich wieder dem Stationscomputer zu. Hier leiste ich ein wenig Hilfe beim Einrichten von Dateien, weil es mir leichter fällt als den Schwestern, die sich in das System erst einfinden müssen. Die wenigen Handgriffe sind schnell erledigt.
Vom Schreibtisch aus schaut man durch eine große Glasscheibe direkt auf den Gang der Station. Immer wieder kommen Mütter oder auch Paare mit Neugeborenen vorbei. Mal werden sie liebevoll auf dem Arm getragen oder sie fahren in einem krankenhaustypischen Bettchen vorüber. Stunden mögen die Kleinen alt sein, vielleicht auch Tage. Sie stehen am Anfang ihres Lebensweges. Manche Mutter schaut zu mir herein und ich lächle ihr zu. Eine hochschwangere Frau blickt etwas irritiert auf mich und sie ruft mir meiner Rolle als Fremdkörper auf der Station wieder ins Gedächtnis.
Neues Leben um mich herum, das behütet ist und dem, so denke ich, alle Aufmerksamkeit gilt. Leben entsteht. Leben verlischt. Das meines Vaters ist verloschen. Es verlosch erst vor gut einer Stunde.
Vor zwei Stunden hatte mein langer Arbeitstag sein Ende gefunden. Der Spätherbstverkehr auf den Straßen ist manchmal einfach nur der Horror schlechthin und jeder noch so kleine Unfall bringt den Fluss der Autos gewaltig ins Stocken. So war leider wieder einmal mein heutiger Rückweg verlaufen und ich war froh, heil angekommen zu sein. Beim Ausziehen der Jacke bemerkte ich, dass das rote Lämpchen am Telefon blinkte und jemand auf den Anrufbeantworter gesprochen haben musste. Die Nummer sagte mir zunächst nichts, von der aus mehrfach angerufen worden war. Ich hörte die Nachricht ab und vernahm eine mir unbekannte Frauenstimme, die mich bat, im Krankenhaus dringend zurückzurufen. War es das Krankenhaus, in welches mein Vater vor wenigen Tagen wegen seiner akuten Schwäche eingeliefert worden war? Ich rief umgehend zurück und meine Befürchtung bestätigte sich. Man verband mich mit der Intensivstation, auf der mein Vater seit dem Morgen nun lag. Die Station hatte mehrfach versucht, mich zu Hause zu erreichen. Eine vergessene Handynummer hatte mein Erreichen nicht einfacher gestaltet. Meine Mutter kam ans Telefon, ihre Stimme klang aufgelöst und verweint. Meinem Vater ging es plötzlich viel schlechter, ihre aufgeregte Botschaft: Das Schlimmste, das momentan Unbegreifbare könnte schon bald eintreten. In den vergangenen Tagen hatten meine Mutter und ich jeden Abend miteinander gesprochen, er schien seine Schwäche überwunden zu haben. Man hatte ihn aufgepäppelt, er hatte seine heißgeliebte Musik am Krankenbett gehabt. Gestern waren sie noch zusammen über den Gang der Station marschiert und es war von einem möglichen Entlassungstermin die Rede. Mein Besuch für das Wochenende war fest eingeplant. Sie hatte ihm davon erzählt. Selbst telefonieren, das tat mein Vater seit mehr als einem Jahr schon nicht mehr.
Das Telefongespräch brachte mein Alltagsdenken zum Erliegen. Woher diese abrupte Wendung? Was war jetzt zu tun? Gleich losfahren, hinein in die Dunkelheit des Abends? Rotierende Gedanken, die zu keinem Ergebnis kamen. Plötzlich schwieg die Kakophonie in meinem Kopf und es war nur noch ein Gedanke da. „Lasse los und gehe in das Licht.“ Ich weiß nicht mehr, für wie lange dieser Gedanke in mir präsent war und alles andere in einen fernen Hintergrund schob. Mag sein, ich sprach ihn aus, murmelte die Worte vor mich hin. Es gibt keine klare Erinnerung an diesen Moment. Ein inneres Schweigen breitete sich in mir aus. Der Rufton des Telefons zerbrach die Stille.
Auf dem Display prangte die Nummer des Krankenhauses. Die Schwester am anderen Ende der Leitung teilte mir das Ableben meines Vaters mit. Meine Mutter wäre im Moment nicht in der Lage, selbst zu telefonieren. Kaum eine halbe Stunde war seit dem Telefongespräch mit ihr vergangen. Sie sagte dabei am Schluss, sie müsse jetzt auflegen, der Vater würde warten, hätte Angst, sie könne fort sein. So, wie ich in diesem Moment fort war, hunderte Kilometer weit weg. Ich vernahm durch die Schwester in wenigen Sätzen, dass mein Vater in den Armen meiner Mutter eingeschlafen sei. Ich bedankte mich für die schnelle Benachrichtigung und legte auf.
Sein Tod nahm Gestalt in meinem Denken an. Hatte auch ich meinen Abschied gehabt? Hatte ich ihm gesagt, er könne loslassen und gehen? Hatte er meine Hand quasi losgelassen und war gegangen in das „Drüben“, in ein Licht, wohin auch immer? Ich kenne die Berichte über solche Erlebnisse. Was ist davon war und was nur frommer Wunsch im Moment der Trauer? Es war für mich ein tröstlicher Gedanke, in diesem Moment von ihm Abschied genommen und gesagt zu habe: „Gehe deinen Weg“. Es war für ihn ein schmerzloser Weg der Erlösung. Ich fühlte, dass die Erinnerung an diesen Moment bleiben wird. Sie wird nicht verblassen. Mag sein, sie verliert ein wenig ihre Form, aber sie wird nicht zerfallen.
Mein Denken wendete sich meiner Mutter zu, sie saß gewiss noch an seinem Bett. Tränen würden fließen und das Bettzeug netzen. Sie musste nun stark sein und ich wünschte ihr alle erdenkliche Kraft. Fremde Menschen umgaben sie in den ersten Minuten der Trauer. Hinterher erfuhr ich, dass diese Menschen mit viel Empathie gehandelt hatten.
Die Geräusche vor dem Fenster geleiten mich in die Gegenwart zurück. Ich hätte nicht hier sitzen müssen und meine Hilfe ebenso absagen können. Vielleicht ist es pure Ablenkung vom Unfassbaren. Suche ich auf der Wochenstation den sicht- und fühlbaren Kontrast zwischen neuem Leben und dem Tod? Die emotionale Erinnerung an die vergangenen zwei Stunden tritt für den Moment in den Hintergrund. Ein Vater hält sein Kind auf dem Arm, läuft mit ihm ein wenig auf und ab, vielleicht wiegt er es in den Schlaf, vielleicht will er dem Kind nur sehr nah sein. Er verweilt kurz vor der Scheibe, hinter der ich noch immer am Computer sitze. Ich betrachte die Szenerie. Leben verlischt und Leben wird geboren. Neues Leben gelangt in friedvolle Hände und sie geleiten es in die Welt. Verlöschendes Leben wird nicht so häufig in den Händen gehalten. Nicht immer ist jemand da, der ein letztes Adieu sagt, bevor die Reise aus dieser Welt angetreten wird.
Ich fahre nach Hause, lasse noch eine Stunde verstreichen und rufe meine Mutter erneut an. Sie ist mit dem Taxi zurückgekehrt in ihre Wohnung. Ich solle nicht losfahren, nicht jetzt in dieser Stunde. Ich könne damit den Tod nicht revidieren. Ich solle beim Fahren auf mich auspassen.
Das verspreche ich ihr und mein zeitiges Kommen am nächsten Tag. Ich fühle, dass meine Autofahrt anfüllt sein wird von Gedanken an den Tod, das „Drüben“ und die Augenblicke des Abschieds, den ihren und den meinen. Angekommen, werde ich sie für lange in die Arme schließen und ihre Tränen werden meine Kleidung netzten. Auch diese Tränen, vermögen den Tod nicht zu ertränken in seiner Endgültigkeit.

© BPa / 11-2014

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.11.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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