Ewald Frankenberg

Lassen sie einfach mal alles hinter sich

 

„Lassen sie einfach mal alles hinter sich“ war der Rat des Arztes, den ich, als alles um
mich herum über meine Möglichkeiten hinauswuchs, um eine Woche zusätzliche
Entspannung gebeten hatte, um wirklich relaxt in meinen dann anschließenden
Urlaub starten zu können. Da ich keine physischen Ausfallerscheinungen vorzuweisen
hatte, und ob meiner Perspektive, die ja wohl schon jetzt mehr als einen Sonnenstrahl
in meine abgedunkelte Psyche brächte, lehnte er ab.

„Das schaffen sie schon, jeden Tag ein Strahl mehr, und wenn es dann so weit ist, lassen
sie einfach mal alles hinter sich.“

Während wir auf Nachtfahrt in Richtung Schweiz die Heimat hinter uns lassen, leuchtet
meine Frau ihr schönes Gesicht für mich mit ihrem Handydings aus und erzählt mir,
laut lachend, was sie sich so alles witziges mit mir Unbekannten Menschen schreibt.
Die Möglichkeiten und Vorteile dieser kleinen Kästchen sind ja nun wirklich atemberaubend.
Man benötigt beim Lesen im Bett nicht mehr die Kopflampe, man braucht seinen Partner
beim Frühstück nicht mehr hinter der hochgehaltenen Zeitung vermuten, sondern ich
kann ihr direkt ins Gesicht lächeln. Und während ich mich genüsslich über den Inhalt meines
Ei-Bechers hermache, steht sie dank ihres i-pot trotz gemeinsamen Frühstücks schon
mitten im Leben.

Und gleichzeitig erleichtert uns dieses Gerät noch die ausführliche Dokumentation
unseres aufregenden Alltags. Noch während wir unser Eis bei Sonnenschein im Straßencafé
in Brienz genießen, bekommt meine Frau für die gleich nach dem Servieren abgelichtete
und hochgeladene Erfrischung etwa zwölf hochgereckte Daumen und einen hochgereckten
Mittelfinger, weil es daheim fürs gleiche Geld die doppelte Portion gibt.

Und natürlich lässt sie mich nach jedem Bling an ihrer Freude teilhaben und tippt sogleich
einen lächelnden Dank an den fernen Bewerter. Außerdem muss ich feststellen, dass
dieses Gerät die Freude an den kleinen Highlights des Lebens verlängert, denn während
ich schon den zweiten Espresso in mich hineinschütte trinkt sie immer noch genussvoll
die zweite Hälfte ihres Eises aus dem Becher.

Ich bin ja mehr so der analoge Typ, früher hieß das auf Deutsch bodenständig oder
konservativ, in Zeiten des schnellen Sprach- und Bedeutungswandels bin ich denn heute
wohl schon in die Schublade „ewig Gestriger“ einsortiert. So bedarf ich denn oft der
aufklärerischen Hilfe meiner Frau. Also weiß ich denn inzwischen, das ein Selfie das ist,
was wir vor dreißig Jahren schon, selbst auf die Gefahr hin, wertvolles Bildmaterial
zu verschwenden und teure Entwicklungskosten in einen Fehlschuss zu investieren,
machten, um festzuhalten, wie glücklich wir gerade waren.

Sie ist es aber auch, die mich immer rüffelt, bleibe ich nicht stehen, wenn jemand ganz
offensichtlich ein Bild quer zu meiner Laufrichtung machen möchte. Dabei sagt sie
als Fotografin selbst, möchte sie ein gutes Bild machen, dann kann das halt schon mal
eine viertel Stunde dauern. Und da sehe ich dann nicht mehr ein, dass ich für jeden
Fotografen mein Leben so lange still zu halten habe, da hab ich ja auch als letzter
Mensch ohne Kamera ein Recht auf Minderheitenschutz.

Früher machten wir uns über die Japaner lustig, die immer den Fotoapparat
vorm Gesicht trugen, um dann daheim zu schauen, wo sie überall waren. Dank neuer
Technologien kann man aber heute die Kameras so auf Abstand halten, das ich weiß,
so viele Japaner sind das garnicht.

Selbst wenn die Arme zu kurz sind, kein Problem. Hier rennen massenhaft Leute
 herum die ihr Fotogerät auf einer Armverlängerung eineinhalb Meter vor sich
herumtragen. Irritierend finde ich nur, alle stehen mit dem Rücken zum Wasserfall.
Anfangs drehe ich mich auch immer herum, um zu sehen, was ich auf der anderen
Seite verpasse, aber da ist nichts.

Und als eine schöne Frau mit ihrem Handy auf mich zielt schenke ich ihr mein schönstes
Lächeln und träume davon, wie es sein könnte, mit ihr einfach mal alles hinter mich
zu lassen, bis meine Frau mich abermals aufklärt, dass man mit diesen Dingern in
beide Richtungen fotografieren kann und sie sich wohl nur vor der Schlange am
Toilettenhäuschen ablichtet.

Meinte mein Arzt etwa die Art der Entspannung, als er sagte „lassen sie einmal alles hinter sich“.
Da kann ich nur sagen, das ist nicht meins, ich bin der Typ, der sich vor dreißig Jahren ein
Auto kaufte, einzig, weil er es nicht ertrug beim Fahren per Anhalter immer mit dem Rücken
zum Ziel zu stehen.

copyright ewald frankenberg 10.2014

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.11.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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