Manfred Bieschke-Behm

Der Reisebegleiter




Das Zuggeräusch wird beeindruckend intensiver. Endlich ist der Zug in Sichtweite. Er kommt näher. Immer näher. Er fährt mit abgebremster Kraft in den Bahnhof ein. Die Lokomotive, ein schwarzes Ungetüm, gibt Zisch- und Puffgeräusche von sich und hüllt sich in dichte Rauchwolken. Das Reiben der Räder auf den Gleisen verursacht einen ohrenbetäubenden Lärm. Endlich kommt der Zug zum Stehen Die Lokomotive scheint führerlos. Hinter der Lokomotive befindet sich nur ein Waggon.' Nur ein Waggon für so viele Reisewillige', denkt Herr R. und schaut auf sein Billett. Waggonnummer und Angaben auf der Buchungsbestätigung sind identisch. Herr R. betritt den leeren Zugabteil. Die leise Hoffnung, dass noch weitere Fahrgäste zusteigen würden, erfüllt sich nicht. Er bleibt allein.
Nachdem der Zug etwa eine halbe Stunde gefahren ist, geht Herr R. an das hintere Ende des Waggons und schaut aus dem Abschlussfenster. Er sieht kein hinter sich lassendes Gleis, weder Weichen noch Nebengleise. 'Was soll das?', fragt er sich. In seiner Erregung wünscht er sich, umkehren zu können.
Herr R. geht zurück zu seinem Sitzplatz, setzt sich hin, fühlt sich erschöpft und sucht Entspannung, indem er die Augen schließt. Mehrmals atmet Herr R. tief durch. Er öffnet die Augen und sieht einen Mann, der sich ihm gegenüber gesetzt hat. 'Eine imposante Erscheinung' denkt Herr R., 'aber auch ein bisschen unheimlich'. 'Wo kommt er her, so plötzlich? Hatte er sich bis eben noch versteckt?! Je mehr sich Herr R. in ein Gedankenkarussell begibt, desto mehr steigt Unwohlsein in ihm auf. Erst jetzt schaut er in das blasse maskenhafte Gesicht seines Gegenübers. Was er sieht, macht ihm Angst. Ist das der Tod? fragt er sich.
'Ja, das ist gewiss der Tod, der mich auf meine letzte Reise begleitet. Aber ich will nicht sterben, möchte er schreien, aber Herr R. bekommt keinen Ton heraus.
Der Zug fährt mit gleichmäßigem Tempo die gewollte Strecke ab. Herr R. schaut aus dem Zugfenster, will sich ablenken. Dichte Nebelschwaden verwehren ihm eine freie Sicht. Schemenhaft fliegt die Landschaft an ihm vorbei. Er lehnt seine heiße Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Fühlt Erleichterung.
Plötzlich verliert der Zug an Tempo. Starkes abbremsen lässt ihn aufschrecken und zusammenzucken.
"Sie haben nichts zu befürchten", flüstert der Mitreisenden. Herr R. erschrickt zu tiefst. Er zuckt zusammen. In monotoner Sprechweise erklärt der Fremde, dass sie sich der einzigen Zwischenstation der Reise nähern. 'Zwischenstation? - Was für eine Zwischenstation', denkt Herr R. Der dämonisch aussehende Zugbegleiter erhebt sich, verharrt in leicht gebückter Stellung und wispert. "Gestatten, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Leben."
"Ihr Name ist Leben nicht Tod? ", fragt Herr R. argwöhnisch zurück.
 "Wie kommen Sie darauf, dass mein Name Tod sei?"
Herr R. gibt keine Antwort, möchte vielmehr ohne Verzögerung wissen, wie der Bahnhof heißt, in dem der Zug gleich einfahren wird. Er spürt starkes Herzklopfen und eine unangenehme Enge im Hals. Das Öffnen des obersten Hemdknopfes bringt Erleichterung. Herr R. versucht das Abteilfenster zu öffnen. Das Fenster ist verschlossen. Angstschweiß überzieht seine Stirn und breitet sich über sein ganzes Gesicht aus. Er. glaubt, ohnmächtig zu werden. Der Reisebegleiter legt seine linke Hand auf die rechte Schulter von Herrn R.. "Bitte beruhigen Sie sich. - Es besteht kein Grund, in Panik zu geraten. - Alles läuft nach Plan."
Herr R. fühlt sich durch das Gesagte nicht getröstet. Ganz im Gegenteil. Die als unangenehm empfundene Berührung lässt ihn frösteln, obwohl ihm kochend heiß ist.
Der Zug rollt in den Bahnhof und kommt zum Stehen. Herr R. versucht, durch die milchige Scheibe des Waggonfensters, die Umgebung zu erkunden. Langsam gewöhnen sich seine Augen an das diffuse Licht. Keine Menschenseele befindet sich auf dem Bahnsteig. Ein prallgefüllter herrenloser Koffer steht an der Bahnsteigkante, als würde er warten, mitgenommen zu werden. Eine Bahnhofuhr, deren Zeiger rückwärts laufen setzte Herrn R. in Erstaunen.
"Sie müssen sich in den nächsten fünf Minuten entscheiden ob sie umkehren, oder weiter fahren wollen. Entweder Sie kehren zum Bahnhof der Vergangenheit zurück, oder fahren weiter zum Zielbahnhof Zukunft."
Herr R. ist nicht fähig zu antworten. Es fällt ihm schwer zu glauben, was er hört und sieht.
"Wollen Sie wissen, weshalb die Zeiger der Uhr rückwärts laufen?"
Herr R. weiß nicht, ob er es wissen möchte, nickt aber zustimmend.
"Die Uhr zeigt an, dass Sie mehr im Gestern leben, als im Heute."
'Stimmt das?', fragt sich Herr R. 'Ja, das stimmt', ist seine stumme Antwort.
Was es mit dem herrenlosen Koffer auf sich möchte Herr R. wissen. Er erfährt, dass es sein Koffer ist, und dass sich darin belastende Erinnerungen befinden.
Herr R. hat Schwierigkeiten, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. 'Wach ich oder träume ich'. Er glaubt, den Sinn für die Realität verloren zu haben, hat Angst den Verstand zu verlieren und fürchte sich vor Panik und anbahnendem Wahnsinn.
Der Reisebegleiter sieht, wie es um Herrn R. bestellt ist. Ohne dass danach gefragt wurde, erfährt Herr R. das er nicht der Erste ist, der diese Reise unternimmt und hier Zwischenstation macht.
"Die Entscheidung umzukehren oder weiterzufahren ist nicht leicht, das weiß ich. Sie haben die Reise angetreten und müssen sich jetzt entscheiden. Der Zug kann nicht länger warten."
„Ich habe mich entschieden. Ich will meine Reise bis zum Zielbahnhof fortsetzen. Ich will meine Vergangenheit hinter mich lassen, den Sinn des Lebens neu entdecken."
"Das ist eine gute Entscheidung. - Ich werde mich jetzt von ihnen verabschieden. Sie brauchen meine Begleitung nicht mehr."
Der Reisbegleiter erhebt sich und verlässt geräuschlos den Zug.
Herr R. beobachtet, wie er den schweren Koffer der Erinnerungen anhebt und ihn angestrengt davon schleppt. Der Koffer wird nicht mehr gebraucht. Hätte Herr R. die Umkehr gewählt, wäre der Koffer mit ihm zurückgefahren.
Ein Signal ertönt. Der Zug setzt sich in Bewegung. Den Dampf, den die Lokomotive ausstößt, hüllt den Bahnhof in dichten Nebel. Nur die Bahnhofsuhr bleibt sichtbar. Herr R. erkennt, dass sich die Zeiger der Bahnhofuhr jetzt vorwärts bewegen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.11.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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