Christa Astl

Die Nachbarin

 

 
Allein steht der alte Mann am Fenster und schaut in den trüben Dezembernachmittag. Seit seine Frau tot ist, weiß er nichts mehr anzufangen. Kinder und Enkel waren ihnen keine beschert. Riesengroß steht die Einsamkeit mit ihm im Zimmer. Aber fremde Leute mag er nicht.
Draußen hat es ganz leise und fein zu schneien begonnen. Auf der Straße hasten die Menschen mit Paketen beladen heimwärts. Im Gewühl erkennt er die immer nervöse und gehetzte Nachbarin, die sich nicht einmal zu einem Gruß Zeit nimmt, wenn er ihr im Stiegenhaus begegnet. In einer Hand trägt sie zwei große Plastiktaschen, mit der anderen hält und zieht sie ihren widerstrebenden, quengelnden Sohn mit sich. Noch nie hat er die beiden lachen gesehen, die Mutter kennt er nur als böse schimpfende Frau, der Kleine weint und schreit fast immer. Er mag die beiden nicht.
Plötzlich kommt die Frau aus dem Gleichgewicht und fällt. Ist sie gestolpert, hat sie jemand gestoßen, ist sie ausgerutscht? Die Menschen hasten vorbei. Keiner bemerkt sie. Sie lässt die Hand des Kindes los, das sofort abgedrängt wird, hilflos dasteht und weint. Da kann der Mann nicht mehr zusehen. Er schlüpft in Jacke und Stiefel und eilt hinunter. Immer noch liegt die Frau auf der Straße und kann nicht aufstehen. Der Alte bückt sich, reicht ihr die Hand und mit viel Mühe gelingt es ihm, sie aufzurichten. Fest auf ihn gestützt humpelt sie dem Eingang zu. Er geht noch einmal zurück um die Taschen zu holen, zögernd folgt der Kleine ins Haus. Langsam, mit großer Anstrengung führt der Mann die Frau Stufe für Stufe hinauf. Vor seiner Wohnung will sie sich mit einem leisen „Danke“ verabschieden, kommt aber allein nicht weiter.
Obwohl er es eigentlich gar nicht will, bittet er sie zu sich hinein und bringt sie zu einem bequemen Sessel. Mit geschickten Händen zieht er den Schuh vom geschwollen Knöchel und macht ihr einen kühlenden Umschlag. Dann geht er zum Herd und kocht Kaffee. So lange ist es her, dass er das letzte Mal die Kaffeemaschine eingeschaltet hat. Er denkt daran, wie gerne er mit seiner Frau nachmittags bei einer Tasse beisammen gesessen ist. Allein schmeckt ihm der Kaffee nicht. Nun aber freut er sich direkt, dass die Nachbarin bei ihm ist. Diese hat sich inzwischen ein wenig erholt. Und nun beginnt sie aus ihrem Leben zu erzählen. Von ihrer Arbeit in der Fabrik, damit sie ihrem Sohn den Platz im Tagesheim bezahlen kann, von ihrer Einsamkeit in der großen Stadt mit ihren vielen Menschen, und davon, wie sehr sie sich freut, im Sommer in ihr Heimatland zurück zu fahren. Der Junge sitzt still daneben und hört aufmerksam zu. „Eigentlich ein braves Kind“, denkt der alte Mann plötzlich, und da fällt ihm etwas ein. Im Schrank müssten noch ein paar Bücher liegen, die er selbst früher gerne gelesen hat. Und tatsächlich, er findet ein altes Märchenbuch und ein Buch mit biblischen Geschichten und gibt beide dem Jungen mit den Worten: „Die beiden Bücher gebe ich dir als Weihnachtsgeschenk.“  Wie freut sich der Bub darüber! Er blättert vorsichtig darin und vertieft sich in die schönen Bilder, während der alte Mann ihm eine Geschichte vorliest. Seine Mutter lehnt ihm gegenüber auf der Couch und lagert ihr Bein hoch. Plötzlich schmiegt sich der Junge ganz eng an den alten Mann und fragt dann: „Willst du mein Opa sein?“ 
Ein kurzes frohes Aufleuchten in den Augen des Kindes ist es, das ihm wieder Sinn in sein Leben bringt.

 
ChA Dez. 2010 (Aus meinem Buch "Schneerosen")
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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