Manfred Bieschke-Behm

Rollenwechsel



Es fällt Paul Feddersen schwer seine wohlgeordnete Fassade aufrecht zu erhalten. Seine Veranlagung würde nicht verstanden werden, davon ist er überzeugt. Niemals darf jemand von meinen Doppelleben erfahren. Niemals. Das wäre mein Untergang sagt sich Paul Feddersen fast täglich.
Jeden Morgen steht Feddersen um die gleiche Zeit auf und betritt um die gleiche Zeit sein Büro. Pünktlich um zwölf Uhr geht er zum Essen und verlässt um 17:30 Uhr das Büro. Gegenüber seinen Kollegen verhält er sich freundlich, zurückhaltend und möglichst unauffällig. Engere Kontakte mag er nicht. Paul Feddersen möchte nicht in die Verlegenheit kommen, mehr von sich preiszugeben als unbedingt erforderlich. Neulich fragte eine Kollegin, was er denn so an den Wochenenden treiben würde. Er sagte nur kurz: "Ich verbringe die Wochenenden zu Hause mit Lesen, Musik hören und was mir sonst noch so einfällt." Er hoffte, dass das Ausfragen damit beendet wäre, aber dem war nicht so, es folgte eine Nachfrage: "Leben Sie allein, Herr Feddersen?" Diese Frage war ihm zu persönlich und gleichzeitig peinlich. "Über mein Privatleben möchte ich nicht sprechen."
"Pünktlich wie immer, Herr Feddersen, und ein schönes Wochenende", sagt der Pförtner und schaut dabei auf die große Wanduhr, die unübersehbar an der Wand der großen Empfangshalle hing.
Mit:  "Auch Ihnen ein schönes Wochenende" entlässt sich Feddersen ins Wochenende.
Bis zur Haltestelle der Buslinie 60 sind es nur drei Minuten Fußweg. Meist fährt Willy Otremba diesen Bus. Beide kennen sich seit Jahren und nennen sich beim Namen.
 "Schöner Abend heute", bemerkt Paul Feddersen und spielt dabei auf die laue Luft und das nicht zu überhörende Vogelgezwitscher an.
"Dabei soll es heute noch Regen geben", erklärt der Busfahrer.
Paul Feddersen schaut sich um und bemerkt: "Noch sieht es nicht danach aus. Aber es kommt ja manchmal anders, als man denkt." 
Mit dieser Bemerkung verabschiedet er sich und setzt sich auf einen der wenigen leeren Sitzplätze und liest, wie bei jeder Heimfahrt, seine Tageszeitung. 
Zuhause angekommen, bereitet er sich etwas zu essen. Anschließend wäscht er ab und setzt sich aber nicht wie gewohnt bis 23:00 Uhr vor den Fernseher, um sich anschließend ins Bett zu legen.
 
Von Freitag bis einschließlich Sonntagnacht lebt Paul Feddersen das Leben, das ihn erfüllt, das ihn glücklich macht, dass ihn der sein lässt, wer er gerne wäre: Paula Feddersen. Von Montagmorgen bis Freitagnachmittag spielt er den biederen Büroangestellten Paul Feddersen, eingezwängt in einem unauffälligen Anzug, aufpassend, dass die Krawatte nicht zu bunt gewählt ist und das sonstige Outfit männlich neutral erscheint.
Der Freitagabend gehört seiner Verwandlung. Ein Glas Rotwein, auf dem gut sortierten Schminktisch, im Hintergrund fröhlich aufmunternde Musik und ein weit geöffneter Kleiderschrank sind die Voraussetzung für beginnende Zufriedenheit.
Nach gründlicher Rasur werden die Haare streng nach hinten gekämmt und unter einem Haarnetzt versteckt. Jetzt, wo die ganze Fläche seines Gesichtes frei ist, beginnt Paul mit großer Aufmerksamkeit seine Augenringe abzudecken und spricht dabei mit seinem Spiegelbild: 'Man wird nicht jünger. Aber was soll´s? Andere Frauen werden auch älter und müssen das Beste daraus machen.' Durch ein nicht zu dunkles Make-up verschwinden Gesichtsfalten und feminine Züge werden hervorgeholt. Die Augen schminkt Paul sehr aufwendig. Routiniert erhalten die Lippen die richtige Lippenstiftfarbe. Rouge vervollständigt Pauls Frauenbild. Die Auswahl der künstlichen Wimpern fällt Paula schwer. Sie hat sich noch nicht entschieden, welchen Fummel sie heute anziehen wird. Wimpern und Kleid müssen im Einklang sein, meint Paula, und hält sich daran.
Sie hat sich ein zweites Glas Rotwein eingegossen. Der CD-Player spielt das Lied 'Ich bin was ich bin'. Paula dreht den Lautstärkenregler auf, um jeden Ton des Songs in sich aufzusaugen. Dabei probiert sie ein paar Perücken aus. Die Entscheidung fällt für die halblange mit den Strähnchen. Perfekt.
Paula wirft den Bademantel, der bisher ihren männlichen Körper versteckt hielt, über die Stuhllehne und nähert sich ihrem Kleiderschrank. In der Schranktür, die ein großer Spiegel ausfüllt, betrachtet sie sich. Was sie sieht, gefällt ihr nicht, oben Frau unten Mann. Schnell versteckt sie ihren Körper unter einem betörenden Kleid, das sie ganz als Frau erscheinen lässt. Die atemberaubenden hohen Absatzschuhe vervollkommnen das Bild, das sie sehen möchte.
Paula freut sich auf die kommenden Stunden und unbeschwerte Tage, die vor ihr liegen. Gleich wird sie das Haus verlassen und sich in die Welt der Illusionen und Träume flüchten. Sie wird sich dort aufhalten, und Männer sich treffen, die das Leben leben, das ihrer Neigung entspricht.
Es klingelt an der Tür. 'Wer mag das sein', denkt Paula. 'Vielleicht der bestellte Taxifahrer, der sie abholen will'. Unüberlegt öffnet Paula die Wohnungstür, anstatt vorher durch den Türspion zu schauen. Vor ihr steht der Busfahrer Willy Otremba. Beide sehen sich erschrocken an. Sind fassungslos über das, was sie sehen.  
"Ich möchte zu Herrn Paul Feddersen", stottert Herr Otremba ohne den Blick von Paula zu wenden. "Ich möchte ihm seine Ausweispapiere bringen, die er heute Nachmittag im Bus hat liegen lassen."
Paul weiß nicht, wie er reagieren soll. Ihm ist die Situation mehr als unangenehm.
"Sie können mir die Papiere geben. Ich bin Paul Feddersen."
"Ich verstehe nicht ganz, Sie sind Herr Feddersen?"
"Ja ich bin es. Entschuldigen Sie meinen Aufzug, ich möchte es Ihnen erkl…"
"Schon gut, schon gut" mehr, als diese nichtssagende Bemerkung brachte der Busfahrer nicht heraus. "Hier nehmen Sie ihre Papiere - und passen Sie das nächste Mal besser auf Ihre Sachen auf. "Tschüss und Wiedersehen." Mit diesen Worten verabschiedete sich Herr Otremba und lässt Paula mit den Papieren in der Hand im Türrahmen stehen.
Beim Einstieg in den Bus am Montagmorgen erkundigt sich der Busfahrer Willy Otremba wie immer bei Paul Feddersen, ob er ein schönes Wochenende gehabt hat.
Mit einem "Danke der Nachfrage" setzt sich Paul auf einen freien Platz und breitet die Zeitung aus. Er ist unkonzentriert. Das lesen fällt ihm schwer. Er benutzt die Zeitung, um sich dahinter zu versteckeng. Er fühlt sich vom Busfahrer, mit Blick in den Rückspiegel, beobachtet. Paul Feddersen ist froh, dass die Zielhaltestelle erreicht ist und er ohne Verzögerung das Bürogebäude betreten kann.
Mit, "Guten Morgen Herr Feddersen! Nun beginnt es wieder, das alltägliche Einerlei", begrüßt ihn höflich und zuvorkommend der Pförtner. Paul Feddersen hört nur mit halbem Ohr hin. Um peinliche Begegnungen mit dem Busfahrer künftig zu vermeiden, denkt er darüber nach, ab Morgen einen späteren Bus zu nehmen. An den Pförtner gerichtet sagt er: "Sie haben ja so recht", und fügt hinzu: "Ach wissen Sie, nicht alles ist so, wie es scheint."
Der Pförtner kann mit der Aussage 'Ach wissen Sie, nicht alles ist so, wie es scheint' nichts anfangen und nimmt sich vor Herrn Feddersen demnächst nach dem Sinn und Inhalt dieses Satzes zu fragen.   

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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