Christiane Mielck-Retzdorff

Eine himmlische Gabe



 
Mia schien es, als würden in dieser winterlich klaren Nacht mit den Schneeflocken, die von dem Vollmond und der Beleuchtung des Weges in schimmerndes Licht getaucht wurden, die Sterne vom Himmel rieseln. Kein Windhauch störte diese auf ihrem Weg zur Erde. Es hatte gerade erst begonnen zu schneien und damit rechtzeitig für eine romantische Stimmung am Heiligen Abend. Niemand sonst wanderte durch den Park. Die anderen Menschen feierten mit ihren Familien in geschmückten Zimmern unter erleuchteten Tannen.
 
Mia war nicht betrübt an diesem Fest allein zu sein, auch wenn die Erinnerungen an ihre verstorbenen Eltern und frühere Weihnachtsfeste neben ihr her schritten. Sie genoss die Ruhe zwischen den Bäumen und Rasenflächen. Sie kannte den Park seit ihrer Kindheit, empfand ihn als Ort der Beständigkeit in einer sich fortwährend verändernden Großstadt. Die junge Frau fühlte sich beschenkt von den Flocken, die zart ihre Wangen küssten. Bedächtig ging sie über den glitzernden, weißen Teppich, und ihre Gedanken schwebten zwischen den himmlischen Kristallen.
 
Die Einladungen zum weihnachtlichen Gänsebraten hatte sie genauso ausgeschlagen wie die Angebote, sich mit Freunden und Bekannten zu späterer Stunde in einer Bar zu treffen. Laute Musik und die üblichen Lustbarkeiten reizten sie nicht an einem Abend, der zur Besinnlichkeit aufforderte. So hatte sie es von ihren Eltern gelernt. Auch wenn sie als Teenager der Versuchung des zwanglosen Feierns in Diskotheken erlegen war, wünschte sie nun den Frieden der Heiligen Nacht ganz für sich zu erleben.
 
So erfüllt von stiller Freude entdeckte sie plötzlich auf dem Boden etwas, das unter einer Laterne hell und prächtig funkelte. Sie bückte sich danach und hielt kurz darauf einen taubeneigroßen, sorgfältig geschliffenen Stein in der Hand. Ehrfürchtig betrachtete sie ihn. Mia hatte eine Lehre in einem Juweliergeschäft abgeschlossen. Da dieses bald schließen musste, arbeitete sie nun in einer Bäckerei. Aber sie kannte sich aus mit Edelsteinen. Das Feuer und die Reinheit dieses Kleinods zeugten von einem erheblichen Wert, selbst wenn es kein Diamant sein sollte. Für billigen Modeschmuck war es einfach zu schwer.
 
Das Fundbüro war am Heiligen Abend und den Folgetagen geschlossen. Also gab sie den Stein am nächsten Tag bei der Polizei ab. Dort war der Beamte höchst erstaunt über ihr Anliegen. Pflichtbewusst fertigte er ein Protokoll und verheimlichte dabei sein Erstaunen über die Ehrlichkeit von Mia nicht. Wenn es sich aber um Diebesgut handelte, war sie gut beraten, nicht mit einem Verbrechen in Zusammenhang gebracht zu werden.
 
Es war an diesem Morgen nicht viel los auf der Polizeiwache. Der Beamte bot Mia sogar einen Kaffee an. Dabei entspann sich ein Gespräch, in dem sich eine unerwartete Nähe zwischen den beiden entwickelte. Der ständig mit den Abgründen der Gesellschaft beschäftigte junge Mann traf auf eine Frau, die eine unerschütterliche Liebe zum Leben ausstrahlte. Mias zauberhaftes Lächeln, ihre klaren, blauen Augen und ihre ruhige Herzlichkeit beeindruckten den Polizisten, der sich als Mirko Konradi vorgestellt hatte, so sehr, dass er sie fragte, ob beide nicht am Abend gemeinsam Essen gehen wollten. Mia willigte ein.
 
Aus den beiden wurde ein Liebespaar, und der Stein war bald vergessen. Erst nach beinahe einem halben Jahr erinnerte sich Mirko an das Kleinod und forschte, mit der Zustimmung von Mia, nach dessen Verbleib. Da niemand einen Diebstahl gemeldet hatte, war der Stein beim Fundbüro gelandet. Dort wurde festgestellt, dass es sich tatsächlich um einen großen, lupenreinen Brillanten handelt. Aber trotz aufwendigen Ermittlungen wollte sich kein rechtmäßiger Eigentümer feststellen lassen. So wurde der teure Stein nach Ablauf der Frist der Finderin zurückgegeben.
 
Sich von diesem himmlischen Weihnachtsgeschenk zu trennen, kam für Mia nicht in Frage. Und ihr bescheidener Liebreiz hatte auf Mirko so weit abgefärbt, dass er nicht darauf bestand, den Brillanten zu Geld zu machen. Das Paar heiratete in aller Stille und ohne Gäste im Dezember. Nach der standesamtlichen Trauung wanderte sie zusammen durch den Park. Mia erinnerte sich noch genau an die Stelle, wo sie den Diamanten gefunden hatte.
 
Normalerweise war er zur Sicherheit in einem Bankschließfach eingekerkert, ohne der Welt sein Funkeln zeigen zu können. Doch an diesem Tag trug Mia ihn, eingehüllt in einem Taschentuch aus Leinen, in ihrer Manteltasche. Wenn sie den Stein mit ihrer Hand umfasste, meinte sie darin Wärme und Leben zu spüren. Mirko wusste nichts davon und war höchst erstaunt, als seine frisch Angetraute das Kleinod hervorholte, es vorsichtig auswickelte. Der Mann schaute sich um, ob sie beobachtet wurden. Doch das bitterkalte Wetter sorgte dafür, dass sie ganz allein waren.
 
Mirko liebte seine Frau von Herzen, aber die in ihm keimende Ahnung verstörte ihn. Was hatte Mia mit diesem wertvollen Stein vor? Lächelnd sah sie Mirko an und legte den Taubenei großen Brillanten genau an die Stelle, wo sie ihn vor fast einem Jahr entdeckt  hatte. Ihr Mann war fassungslos seiner Stimme beraubt. Mia nahm Mirkos Hand und drängte ihn, etwas zurück zu treten. Gemeinsam betrachteten sie den Brillanten, wobei sich der Mann beherrschen musste, den Stein nicht an sich zu reißen.
 
Doch plötzlich wurde das Kleinod von einem inneren Strahlen erfüllt. Trotz der grauen Trübnis waren die Laternen noch nicht erleuchtet. Der Stein funkelte aus sich selbst heraus. Bald löste er sich in ein silbrig glänzendes Licht auf, das sich zu einer Gestalt formte. Ein wunderschöner Engel stand nun vor dem Paar und schaute es liebevoll an. Sein Lächeln streichelte ihre Seelen. Dann öffnete er seine Flügel und schwebte davon. Kurz darauf begannen dicke Flocken vom Himmel zu fallen. Wie Küsse berührten sie Mias und Mirkos Wangen.
 
Hand in Hand, voller seliger Freude, schlenderten die beiden von dannen und kehrte traumwandlerisch in die vorweihnachtlich geschmückten Straßen der Großstadt zurück.
 
In dankbarem Gedenken an meine Freundin Nicole Walkows

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
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