Sebastian Bienewald

Als ich klein war -oder- Was ich weiß, und was ich glaube

Als ich klein war
oder: Was ich weiß, und was ich glaube
 
 
Als ich klein war, da war alles ganz anders. Als ich klein war, da waren die Bäume Bäume. Als ich klein war, da waren die Vögel Vögel. Als ich klein war, waren die Fische Fische, und die Pferde waren Pferde. Als ich klein war, da waren Autos eben einfach nur Autos. Als ich klein war, da waren das alles tolle Dinge, die mich faszinierten.
Die Vögel, die am Himmel fliegen. Bei Nacht fliegen die Vögel ganz nah an den Sternen. Man kann sie dort oben im Mondschein sehen - manchmal, denn die Vögel fliegen selten nachts. Aber sie tun es, und das fasziniert mich. Es fasziniert mich, einfach so. Warum, das weiß ich nicht. Vielleicht fasziniert es mich, weil ich auch gerne den Sternen und den Wolken so nahe wäre. Ich weiß es nicht. Ich kann mir gut vorstellen, daß ich es toll fände, wie die Vögel durch die Wolken zu fliegen. Sie fliegen in die Wolken hinein, und sie kommen auch alle immer wieder hinaus - ja, sie fliegen. Ich kann nicht durch die Wolken und zu den Sternen fliegen. Ich kann nicht fliegen. Warum, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich es nicht kann, und das akzeptiere ich. Auf jeden Fall faszinieren mich diese Vögel, wie sie durch den Himmel ziehen. Sie scheinen vollkommen frei und unendlich sorglos - so, wie sie in Schwärmen oder einzeln, aber niemals einsam, den Himmel durchqueren.
Auch die Bäume finde ich unerklärlich schön. Sie sind so hoch, daß sie bis zu den Wolken zu reichen scheinen - und sie sind gewaltig, diese Bäume, sicher sind sie so groß, wenn nicht größer, wie ich, meine Mutter, und meine Großeltern zusammen.
Ich bin Einzelkind. Einen Vater habe ich nicht. Meine Mutter heißt Ursula. Mich nennt sie meistens Schatz. Aber die fremden Leute sagen Bernhard zu mir. Ursula sagt, der Wolfgang sei im Himmel. Wolfgang ist mein Vater. Im Himmel soll es schön sein, sagt Mama. Ich glaube, mein Vater ist jetzt ein Vogel und fliegt von Wolke zu Wolke. So, wie die Vögel dort über mir. Vielleicht fliegt er öfters an mir vorbei. Bestimmt tut er das. Ich weiß es nicht. Aber ich wünsche es mir.
Genau weiß ich nicht, wie hoch die Bäume sind. Ich weiß nur, daß manche Bäume größer sind, als das Haus, in dem ich wohne. Das weiß ich, ich bin mir ganz sicher. Ich bin schlau, sagt Ursula immer. Ich glaube, sie hat recht. Ich  bin mir sicher, daß viele Bäume größer sind, als unser Haus, weil neben unserem Haus ein paar Bäume stehen. Es sind vier. Zählen habe ich von Felix gelernt. Felix ist der Freund von Mama. Ich habe auch Freunde. Aber das sind andere Freunde. Ich kenne den Unterschied nicht genau, aber irgendetwas ist an meinen Freunden anders, als an dem Felix. Einige von den Bäumen sind größer, als das Haus, ihre Baumkrone ragt noch über das Dach hinaus.
Ich wohne ganz oben im Haus. Oft stehe ich am Fenster. Wenn ich manchmal in die Baumkrone schaue - ich mache das gerne -, sehe ich immer Vögel in den Ästen sitzen. Die Vögel sitzen dort und singen. Einmal ist ein komisches Tier zwischen den Ästen hin und her gesprungen. Vögel sehen anders aus. Das weiß ich, denn ich kenne Vögel. Felix sagt, ich hätte selber einen. Und dann lacht er immer. Ursula sagt, das seltsame Tier sei ein Eichhörnchen. Ich weiß nicht, was ein Eichhörnchen ist, aber jetzt sehe ich eins. Das freut mich. Wirklich. Ich weiß nicht, warum das Eichhörnchen von Ast zu Ast springt. Aber ich traue mich nicht, meine Mutter danach zu fragen. Ich denke mir, das ist eben so. Mama wird auch nicht wissen, warum. Woher denn?
Ursula schaut dem Eichhörnchen auch eine Weile zu, und dann sagt sie, warum das Tier dauernd hin und her springt. Ich bin enttäuscht, weil sie das wusste, aber ich nicht. Das verstehe ich nicht.
Ich glaube, sie wird es schon gewusst haben, als ich noch in ihrem Bauch war. Vielleicht war ich auch noch gar nicht da.
Eigentlich kann das gar nicht sein. Ich meine, daß ich mal nicht da war. Es muß mich doch schon immer gegeben haben. Es erscheint mir völlig ausgeschlossen, daß ich erst seit wenigen Jahren hier sein soll. Ursula hat mir das erzählt, und Felix auch. Ich vertraue ihnen. Aber ich weiß, daß sie mich auf den Arm nehmen wollen. Wo soll ich denn so plötzlich hergekommen sein. Auch Ursula wird schon immer da gewesen sein. Das erscheint mir logisch... Der Felix war vorher in Bayern. Ich nicht, und Ursula auch nicht. Das kann nicht sein. Die beiden wollen mich auf den Arm nehmen. Es macht ihnen wohl Spaß. Ich weiß das, denn in Mamas Bauch würde ich gar nicht reinpassen. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, irgendwann mal nicht da gewesen zu sein. Auch Mama war schon immer da.
Mit den Fischen ist es genauso faszinierend, wie mit den Vögeln. Die Fische schwimmen durchs Wasser, ich kann das nicht. Manchmal werfe ich Steine ins Wasser. Dann entstehen viele Kreise, und die Fische schwimmen weg.
Auf der großen Wiese sind immer Pferde. Aber die Pferde sind anders, als die Vögel und die Fische. Und sie sind anders als die Bäume. Die Pferde stehen immer auf der Koppel und fressen Gras. Sie bewegen sich kaum von der Stelle. Das ist bei den Vögeln und den Fischen und dem Eichhörnchen nicht so.
Ich glaube, die Pferde wissen, daß sie eingesperrt sind. Warum sollten sie also laufen, sie kämen sowieso nur bis zum Zaun. Ich weiß nicht, warum die Pferde eingesperrt sind. Ich will auch nicht danach fragen. Es wird schon seine Richtigkeit damit haben.
Irgendwann, so glaube ich, werde ich morgens aufwachen und alles wissen, was auch meine Mama weiß.
Autos sind etwas noch anderes als Bäume, Vögel und Fische. Warum, weiß ich natürlich nicht. Das macht mir nichts aus. Ich will es gerade gar nicht wissen, irgendwann werde ich es von selbst erfahren - bei Ursula muß es auch so gewesen sein. Natürlich.
 
Heute bin ich groß. Ich weiß jetzt, warum die Vögel fliegen. Ich weiß jetzt, warum die Fische schwimmen können, und ich nicht. Ich weiß jetzt, warum Eichhörnchen von Ast zu Ast hüpfen. Ich weiß jetzt, warum die Pferde immer regungslos auf der Wiese stehen und Gras fressen. Autos sind für mich jetzt etwas ganz normales, ich habe selbst eins.
Meine Mutter ist heute so, wie meine Oma Birgit gewesen ist, als ich klein war.
Oma Birgit ist jetzt tot. Sie ist im Himmel - glaube ich. Darin bin ich mir nicht sicher. Aber irgendwann wird auch Ursula tot sein, das weiß ich. Und ich, und Felix auch. Ich glaube, daß wir uns dann alle im Himmel wiedersehen werden. Denn ich glaube, daß ich schon einmal im Himmel war. Ich glaube das nur, weil ich nicht sicher weiß, ob ich schon einmal dort war. Es kann auch sein, daß es gar keinen Himmel gibt, denn ich kann mich nicht daran erinnern. Aber eines Tages werde ich es wissen. Darin bin ich mir ganz sicher.
 
 
 
 
Sebastian Bienewald, 25.09.1999

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