Christa Astl

Der allerglücklichste Weihnachtsbaum

 

 
 
Tief drin im Wald steht eine Gruppe von besonders schönen Tannen. Sie sind abseits vom Weg und so versteckt, dass sie bisher nicht einmal vom Förster gesehen worden sind. Die alten Tannen sind froh darüber, denn sonst wären sie ja gar nicht so alt und groß geworden. Den jungen Bäumen schärfen sie ein, sich ja still und bescheiden zu verhalten, dass sie nicht gefunden, abgeschnitten und mitgenommen werden.
„Was geschieht, wenn wir mitgenommen werden?“ fragt Tannina, das kleinste, aber neugierigste Tannenmädchen. „Das wissen wir nicht, aber sie können nicht mehr in unserer Gruppe bleiben, müssen weit weg und sind so alleine“. Mehr wissen die Bäume nicht. Doch Tannina möchte gar zu gerne Genaueres wissen, und so wendet sie sich an Ladomir, den Tannenhäher. Ein Vogel kann ja weit herum fliegen, vielleicht weiß der etwas. „Ich habe gesehen, wie die Bäume auf einen Wagen geladen werden, einfach über einander hinauf geworfen und dann kommen sie in die Stadt, mehr weiß ich auch nicht“, krächzt der. Tannina fragt das Eichhörnchen, sie fragt den Fuchs, die Rehe, die Hasen, niemand weiß, was eine Stadt ist, und erst recht nicht, was dort geschieht. Endlich hat Ulla, die weise Eule, eine Antwort: „Einen Baum habe ich gesehen, er stand allein auf einem großen Platz mitten in der Stadt und war mit vielen Lichtern geschmückt.  Menschen gingen zu ihm und bewunderten ihn.“ Und dann fällt ihr noch ein, dass sie in den Fenstern der Häuser auch solche Bäume gesehen hat. Tannina möchte das auch gerne erleben und träumt einen langen Herbst von der Stadt, und wie sie mit vielen Lichtern geschmückt mitten auf dem Platz steht und bewundert wird!
Und wieder naht die Weihnachtszeit, Traktoren und Lastwägen lärmen durch die stillen Wälder. Die Tannenfamilie duckt sich so gut es geht zusammen und ermahnt ihre Kleinen, ganz still zu sein. Doch Tannina streckt sich weg von den anderen, sie will ja entdeckt werden! Sie findet es so langweilig, immer im Wald und an derselben Stelle stehen zu müssen.
Viele Tage arbeiten nun die Holzarbeiter schon im Wald, näher und näher kommt der Lärm der Sägen. Die großen Tannen beginnen zu zittern. Ist es die Angst oder der eiskalte Wind? Nur Tannina reckt sich und wächst schnell noch ein paar Zentimeter. – Endlich, schon einen Tag vor dem Heiligen Abend, wird es wieder stiller, die letzten Traktoren fahren aus dem Wald heraus.
Traurig und enttäuscht steht Tannina da und lässt ihre Äste hängen. Aber am frühen Nachmittag, als es schon fast zu dämmern beginnt, hört sie plötzlich menschliche Stimmen. Drei Männer stapfen durch den frisch gefallenen Schnee, zwei davon tragen lange braune Kleider, die unten schon ganz weiß sind. Ihre Kapuzen haben sie über den Kopf gezogen. Es sind die Pater vom nahen Kapuzinerkloster. Der dritte Mann hält eine Säge in der Hand. Aufmerksam schauen die Männer nach allen Richtungen. Da fällt der Blick des jungen Mönches auf Tannina. „Dieser Baum gefällt mir! Der hat genau die richtige Größe, dass er neben dem Hauptaltar stehen kann.“ – „Ja, den könnt ihr haben“, meint der Mann mit der Säge und schon fährt er damit in Tanninas Rinde. Es tut sehr weh, und bald fällt das junge Bäumchen um. Mit Stricken werden ihm die Äste näher zum Stamm gebunden und dann tragen es die beiden Mönche heim zu sich ins Kloster.
Als Tannina zu sich kommt, steht sie wieder senkrecht wie immer auf ihrem Stamm, doch als sie genauer um sich schaut, merkt sie, dass sie nicht mehr im Wald ist. Sie steht in einer großen, mit wunderschönen Bildern und vergoldeten weißen Figuren verzierten Kirche. Männer und Frauen tummeln sich rund um sie und behängen sie mit glänzenden Sternen, bunten Kugeln und noch allerhand Schmuck. Wunderschön sehe ich aus, denkt Tannina, wenn mich doch meine Tannengeschwister so sehen könnten! Aber das Schönste kommt erst noch.
Die dämmrige Kirche ist dicht gedrängt voller Menschen. Da plötzlich erklingt gewaltige Musik und dann wird es hell wie am lichtesten Sommertag. Alle Lampen im großen Kirchenraum brennen – und am schönsten leuchten die Kerzen, die an dem glücklichen Bäumchen Tannina befestigt sind. Und zu Füßen des Bäumchens stehen ein Ochse und ein Esel, ein Mann und eine Frau und zwischen ihnen liegt in einem Bettchen das mit Heu gefüllt ist, ein kleines hell leuchtendes Kindlein. Ihm gilt all der Schmuck und die Schönheit dieser Nacht, aus Freude, dass es als Gottes Sohn alle Jahre wieder bei uns zur Welt kommt.
 
ChA Dez. 2011

Allen Lesern und denen, denen die Geschichte vorgelesen wird, ein schönes, frohes Weihnachtsfest!
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.12.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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