Birgit Enser

Die Muse

Sie schaute ihm über die Schulter, doch eigentlich war ihr gar nicht wichtig, was er da so eifrig und mit gerunzelter Stirn in seinen PC tippte. Nichts war wirklich wichtig. Sie hatte weder ein Zeitgefühl noch hätte sie sagen können, was sie hier bei ihm hielt. Genauso wenig wusste sie, wie sie hätte gehen können. Sie war eben da, mehr nicht.

Er jedenfalls tippte, seit sie da war, wie wild auf der Tastatur herum. Wenn er Besuch bekam, war er immer sehr ungehalten, also gingen seine Freunde meistens schnell wieder. Das Telefon hatte er ausgestellt, er aß kaum, rasierte sich nicht, nur kannenweise Kaffee schüttete er in sich hinein. Widerliches schwarzes Zeug, sie hatte immer Tee vorgezogen. Nicht diese aromatisierten Tees, die man nun an jeder Ecke bekam, sie liebte Oolong Tee aus Taiwan. Sie hatte immer eine kleine Zeremonie aus ihrer Teestunde gemacht.

Es gab Momente in dieser Zeit, die sie nun schon bei ihm weilte, in denen sie versucht gewesen war, ihm ganz leicht über sein wirres, dunkles Haar zu streicheln, denn sie empfand seltsamerweise Sympatie für ihn und dachte, dass er zu viel arbeitete, doch immer, wenn sie sich ihm näherte, sah er sich fröstelnd um und blickte durch sie hindurch.
So streifte sie ziellos durch seine kleine Wohnung, hielt sich mal in dieser, mal in jeder Ecke auf, um dann wieder zu seinem Arbeitsplatz zurückzukehren in der Hoffnung, diesmal zu ihm durchzudringen und eine Reaktion zu erhalten.
Sie setzte sich in den hübschen roten Lehnstuhl, der schräg gegenüber seines Arbeitsplatzes in einer Ecke stand. Hier saß sie am liebsten, und sie verstand gar nicht, dass er diesen Platz so sorgsam mied.
Auch jetzt sprang er wieder auf und fluchte: ´Verdammt, was ist das hier kalt! Funktioniert denn die Heizung nicht?´. Dann drehte er hektisch an dem Thermostat, holte sich eine warme Jacke und setzte sich wieder an den Schreibtisch.
Manchmal lief er völlig in Gedanken versunken von einem Zimmer ins nächste, blieb dann vor ihr stehen und sah sie an, sagte jedoch nichts, sondern schien zu überlegen. Dann lächelte er auch schon mal und setzte seinen kleinen Rundgang fort.

Gestern war diese Frau wieder da gewesen. Immer hielt sie ihm vor, dass er sich zu sehr zurückzöge, und sie wollte wissen, was er da eigentlich tat. Doch er war mürrisch wie immer und sagte grob: ´Lass mich in Ruhe, Mama.´.
Die Mutter schien das allerdings nicht zu stören, denn sie hatte ein paar Einkäufe für ihn erledigt, die sie nun in seiner kleinen Küche auspackte. ´Du bist furchtbar dünn geworden, Simon.´, sagte sie.

Simon hieß er also, das hieß ´der Erhörte´. Sie selbst hieß Angela. Doch auch das war nicht mehr wichtig.

Simon ging in die Küche und meinte zu seiner Mutter: ´Lass mich einfach eine Weile in Ruhe. Ich habe endlich wieder begonnen, zu schreiben. Ich weiß auch nicht, was los ist. Irgendwie scheine ich momentan von der Muse geküsst.´ Er lachte.
´Na, ich wünschte, deine Muse wäre aus Fleisch und Blut, könnte kochen und würde mir endlich ein paar Enkelkinder schenken.´
´Ach, Mama, fang nicht wieder davon an. Sonst nehme ich dir den Wohnungsschlüssel weg.´ drohte er lächelnd. ´Und hör auf, für mich einkaufen zu gehen. Trink noch einen Kaffee, wenn´s sein muss, aber dann geh putzen oder mit einer Freundin weg. Oder geh Bungee springen! Du wirst schon was finden.´

Simon setzte sich dann wieder in sein Arbeitszimmer, um zu schreiben. Seine Mutter blieb nicht sehr lange, ihr sei es zu kalt bei ihm, er solle die Heizung endlich reparieren lassen, meinte sie.

Später, als er zu Bett ging, blieb Angela noch eine Zeitlang im Lehnstuhl sitzen. Dann, als sie wusste, er würde schlafen, legte sie sich leise neben ihn.
Sie küsste ihn leicht auf die Lippen, doch er drehte sich weg und zog die Decke höher. Wie jede Nacht.


Birgit Enser
20.05.2003

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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