Manfred Bieschke-Behm

Schwarzfahren ist nicht umsonst


Simon hasst volle U-Bahnen. Er hasst das Gedrängel beim Einsteigen, die anstrengende, oft vergebliche Suche nach einem freien Sitzplatz, er verflucht die nervtötenden Handytelefonierer, er ärgert sich über die Musikanten, die ohne Rücksicht schamlos Fahrgäste beschallen, er ekelt sich vor Dönergestank und Alkoholfahnen bereits am Morgen und er sieht es, wegen der vielen Unannehmlichkeiten, nicht ein, einen Fahrschein zu kaufen.
Letzten Dienstag stand Simon auf dem Bahnhof und wartete auf den angezeigten Zug. "Wegen einer Betriebsstörung verzögert sich die Zugverbindung um wenige Minuten", hörte er die viel zu laute und blechern klingende Frauenstimme über die veraltete Lautsprecheranlage.
Simon merkte, wie Wut in ihm hochstieg. Er lockerte seinen Schal, weil er anfing, unangenehm zu schwitzen. 'Jetzt hätte der Zug da sein müssen', dachte er und schaute in die Richtung, aus der der Zug hätte einfahren müssen. Sein Blick ging ins Leere und ließ die Verärgerung anwachsen. Den Menschen um ihn herum schien die Verspätung wenig anzuhaben. Am liebsten hätte er zu den Herumstehenden gesagt: 'Tut doch nicht so, als würde es euch egal sein, wann der Zug kommt.'
Endlich fuhr der Zug in ein. Die Türen öffneten sich. Alles drängelte. Simon auch. "Passen Sie doch auf", fauchte ihn ein beleibter Rucksackträger an.
"Sie drängeln doch", schimpfte der Angesprochene und blickte Simon zornig an. "Wenn ich drängele, sieht das anders aus. Etwa so."
Gesagt getan. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten machte Simon sich Platz. Er erlebte Unmut um sich herum, was ihm völlig egal war. 'Was interessieren mich die anderen', dachte er triumphierend und war froh, einen freien Sitzplatz entdeckt zu haben.
Ein Platz der zweisitzigen Sitzbank war besetzt. Auf dem Nebenplatz stand die Aktentasche des zeitunglesenden Herrn. Simon räusperte sich in der Hoffnung, dass er wahrgenommen würde und der Herr den zweiten Sitzplatz frei räumen würde. Nichts dergleichen geschah. Simon hatte keine Lust den Herrn anzusprechen, stattdessen setzte er sich  gewollt auf die Aktentasche. Wenn böse Blicke töten könnten, wäre Simon jetzt tot.
"Wieso setzen Sie sich auf meine Aktentasche?", fragte der Mann gereizt.
"Besitzen Sie zwei Fahrscheine? Einen für sich und einen für die Aktentasche?", fragte Simon provozierend zurück. "Wenn dem so ist, stehe ich selbstverständlich wieder auf und überlasse ihrer Aktentasche gerne den Platz."  
Während der Sitznachbar die Tasche nicht ohne Anstrengung, unter Simons Gesäß hervorzog, bekam Simon mit, dass sich eine Fahrscheinkontrolle ankündigte. "Fahrscheinkotrolle. Bitte die Fahrscheine bereithalten", hörte er eine Männerstimme am anderen Ende des Abteils laut sagen. 'Fahrscheinkontrolle, das hat mir gerade noch gefehlt', dachte Simon und erlebte sich schon ertappt, noch bevor der Kontrolleur vor ihm stand. 'Wie kann ich mich dieser heiklen Situation entziehen', dachte er. Im fiel keine Strategie ein. Simon beobachtete, dass fast alle Fahrgäste begannen brav ihre Fahrscheine aus Mänteln und Taschen hervorkramten, sie artig in den Händen hielten und darauf warteten, kontrolliert zu werden. Anstatt weiter in ihren Büchern oder Zeitungen zu lesen, starrten sie in Richtung prüfender Instanz, um dieser ihre Fahrberechtigungen zu zeigen.
Simon bekam einen trockenen Hals. Er musste sich mehrmals räuspern und schluckte, obwohl es nichts gab, das herunterzuschlucken war. Er passte auf, dass ihm äußerlich seine Unruhe nicht anzumerken war. 'Nur nicht auffällig verhalten', redete er sich ein. 'Ganz ruhig Simon, schön ruhig bleiben. Alles wird gut. Vielleicht steigt der Kontrolleur mit einem Schwarzfahrer am nächsten Bahnhof aus und die ganze Aufregung war umsonst', sinnierte er weiter.
Natürlich hielt sein Sitznachbar, der seine platt gedrückte Aktentasche auf den Oberschenkeln abgelegt hatte, seinen Fahrschein wie eine Trophäe in der Hand. Sicherlich glaubte der Aktentaschenbesitzer, dass neben ihm einer sitzt, der keinen gültigen Fahrschein dabei hat. Und wie recht er hatte, dachte Simon leicht beschämt. Die Stimme des Kontrolleurs kam näher. Nur noch zwei Sitzbänke trennte Simon von der gnadenlos nahenden Begegnung. 'Mann, Mann, Mann, was für ein Mist', dachte Simon. Sein Herz schlug doppelt so oft und laut. So laut, dass Simon vermutete, die Anderen müssten seinen Herzschlag hören und wüsten warum.
Nun trennte Kontrolleur und Simon nur noch eine Sitzreihe. Gleich würde es passieren. Gleich bekämen alle im Umfeld mit, das er ein Schwarzfahrer war. Wie peinlich, dachte Simon und merkte, wie eine Hitzewelle ihn übermannte und er anfing, unruhig auf seinem Sitzplatz hin und her zu rutschen.
"Ihren Ausweis bitte", hörte Simon den Kontrolleur zu den Fahrgästen, die in der Reihe vor ihm saßen, sagen. "Ich habe keinen", war die Antwort einer jungen Frau.
"Dann müssen Sie mit mir beim nächsten Halt aussteigen."
'Gott sei Dank', dachte Simon, 'die Peinlichkeit ist an mir vorübergegangen'. Entspannt und siegesbewusst nahm er eine bequeme Körperhaltung an.
"Ihren Ausweis bitte", tönte es plötzlich von hinten. Ein zweiter, bisher von Simon nicht wahrgenommener Kontrolleur zeigte seinen Ausweis und schaute Simon in sein entgeistertes, fassungsloses Gesicht.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Der Kontrolleur und die ertappte junge Frau stiegen aus. Simon und sein Kontrolleur folgten.
Auf dem Bahnsteig fragte der Kontrolleur höflich: "Gibt es für Sie einen Grund keinen Fahrschein zu haben?", 
"Ich habe gehört, dass wegen der Messe in Berlin das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln heute kostenlos ist", stammelte Simon nicht sehr überzeugend.
"Ach so, wegen der Messe kostenlos? -  Irrtum, junger Mann! Er kostet Sie heute ein erhöhtes Beförderungsendgeld in Höhe von 60 €."
Schlitzohrig erkundigte sich Simon, wie hoch das Bußgeld an messefreien Tagen sei.
"Auch 60 €", erklärte der Kontroller schmunzelnd und dachte: 'Clevere Ausrede. Aber Schwarzfahren, egal ob mit oder ohne Messe, ist nicht umsonst.'
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.01.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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