Helmut Wurm

Sokrates und die Suche nach Lehrern mit Allgemeinbildung



Der nachfolgende Beitrag über ein Gesprächserlebnis des Sokrates weist inhaltlich einige Schnittmengen mit bereits anderswo angedeuteten Problemen im Schulwesen auf, aber im nachfolgenden Artikel werden konzentrierter mögliche Defizite im modernen Schulwesen angesprochen. Er fängt erst ganz harmlos an, so wie die Kreuzberger Nächte, aber dann…
dann geht es ans Eingemachte im Bildungswesen
 
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Sokrates und sein Freund, der alte Schulleiter, meinen, dass innerhalb des Schulsystems und besonders innerhalb der Lehrerschaft Veranstaltungen zur Allgemeinbildung gefördert werden sollten, dass z.B. in regelmäßigen Gesprächskreisen an den Schulen solche Themen behandelt werden könnten, die eine breitere Allgemeinbildung voraussetzen wie Kenntnisse in Literatur, Geschichte, Physik, Biologie, Kunst usw. Früher war nach ihrer Ansicht die Lehrerschaft mehr als heute ein Sozialschicht mit breiter Allgemeinbildung gewesen.
 
Beide möchten deshalb einen solchen regelmäßigen, fächerübergreifenden Gesprächskreis an einem Schulzentrum als Pilot-Projekt ins Leben rufen und suchen dafür Lehrer aller Schularten und Fächer als Teilnehmer, die Freude an Allgemeinbildung mitbringen und für die solche Gespräche sogar ein gewisses Bedürfnis sind. Aber beide sind unsicher, ob sie in der modernen Zeit mit ihrem um sich greifenden Spezialistentum genügend Interessenten finden.  
 
Diese Gesprächskreise sollen eine gewisse Doppelfunktion haben. Sie sollen erstens Lehrer mit
einer relativ breiten Allgemeinbildung in ihrem Selbstbewusstsein stärken, zusammen führen und als Vorbilder in ihren Kollegien präsentieren und andererseits Lehrern, die eine Steigerung ihrer Allgemeinbildung wünschen, eine offene Möglichkeit zur Fortbildung sein.  

 
Sie haben für ihre Suche oder Werbung eine kurze Informations-Broschüre vervielfältigt, wollen verschiedene Schulzentren besuchen und (mit Erlaubnis der jeweiligen Schulleiter) dort mit Lehrern ein Gespräch suchen. Sie beginnen im nächstgelegenen Schulzentrum. Die Gesprächsführung soll der alte Schulleiter übernehmen, weil er vermutlich bekannter ist. Sie beginnen ihre Gespräche  am Eingang zum Schulzentrum.
 
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 Der alte Schulleiter zu 2 jungen Lehrern, die relativ zügig ins Schulzentrum gehen wollen:
 
Der alte Schulleiter: Entschuldigt ihr Beiden! Wir suchen für einen fachübergreifenden und schulartübergreifenden Gesprächskreis noch interessierte und dynamische junge Lehrer Wäre das etwas für Euch? Wollt Ihr diesen Flyer mal mitnehmen?
 
Die Beiden (abwechselnd): Allgemeinbildung, eine fachübergreifende Allgemeinbildung ist heute doch gar nicht mehr möglich, die ist doch schon seit 200 Jahren nicht mehr möglich. Aristoteles war wohl der erste Universalgelehrte und die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt waren wohl die letzten Universalgelehrten. Danach hat die Wissensexplosion eine Allgemeinbildung unmöglich gemacht. Wir haben uns deshalb um Allgemeinbildung schon nicht mehr bemüht.
 
Der alte Schulleiter: Ihr verwechselt jetzt Universalwissen und Allgemeinbildung. In der Tat kann es Universalgelehrte jetzt nicht mehr geben. Aber es geht uns um das Bemühen um Allgemeinbildung, um den Blick nach rechts und links vom jeweiligen Unterrichtsfach. An den Unis gibt es dafür das so genannte Studium-generale. Und als Lehrer sollte man  etwas weiter über "den Tellerrand" schauen wollen.
 
Wäre das nicht in den Augen Eurer Schüler ein Pluspunkt, wenn ihr mehr wüsstet als nur Euer Fach?
 
Die Beiden: Auf den Gymnasien mit den Wahlkursen ab der Oberstufe hat sich doch die  Allgemeinbildung schon deutlich verabschiedet. Die meisten unserer Lehrer waren auch nicht allgemeingebildet. Warum sollen wir vor unseren Schülern etwas anstreben, was wir selber schon nicht mehr erlebt haben… Und das Studium-generale haben wir auch nicht mehr besucht. Ein Studium ist heute mit seinem Modulsystem derart verschult, dass für solche überfachliche Studienangebote kein zeitlicher Raum mehr bleibt.
 
Ok, eine gewisse Allgemeinbildung wäre manchmal ganz nützlich, aber sie wird ja in der Lehrerfortbildung auch kaum noch angeboten. Überwiegend sind es nur Spezialkurse in Fachwissen und Fachdidaktik… Wir wüssten auch nicht, wo wir uns, selbst wenn wir es beabsichtigten, allmählich allgemeinbildend weiter bilden könnten.   
 
Der alte Schulleiter: Wäre ein solcher allgemeinbildender Gesprächskreis eine mögliche Gelegenheit, sich eine erweiterte Bildung anzueignen?
 
Die Beiden: Da würden wir uns vermutlich die erste Zeit zu sehr blamieren… Dann lieber schon zu Hause am PC an verschiedenen Stellen stöbern… DAs Internet ist ja das moderne Universalwissen-Archiv… Wir müssen jetzt auch weiter…
 
Der alte Schulleiter: Die beiden haben auf wichtige Schwächen unseres Bildungssystems
angesprochen. Schüler wie Lehrer werden nicht mehr auf eine gewisse Allgemeinbildung hin gebildet… Der Satz war sehr nachdenkenswert und übertragbar: "Was sollen wir vor unseren Schülern anstreben, was wir selber nicht mehr erlebt haben"… Vermutlich gilt das auch für den modernen Disziplinmangel. Denn Lehrer, die als Schüler selber wenig Disziplin erlebt haben, tun sich schwer, selber Disziplin einzufordern.
 
Aber trotzdem war dieses Kurzgespräch für mich sehr desillusionierend. Was ist bloß mit den modernen Lehrern los?... Nur Fachidioten ohne breitere Bildung?... Da können wir unseres allgemeinbildenden Gesprächskreis wohl beerdigen.
 
Sokrates: Das war hier ein Zufall. Ich bin mir sicher, dass es auch heute Lehrer gibt, die allgemeingebildet sind und nach Allgemeinbildung streben. Lass uns weiter nach passenden Lehrern suchen, vielleicht auf dem Schulhof.
 
Beide gehen auf das Schulgelände und stellen sich suchend auf den Schulhof. Sie sehen eine kleine Gruppe von Lehrern rauchend in der Raucherecke des Schulgeländes stehen und gehen auf diese zu.
 
Der alte Schulleiter: Dürfen wir die Raucher-Entspannung kurz unterbrechen. Wir planen einen Lehrer-Gesprächskreis mit Themen, die eine gewisse Allgemeinbildung verlangen und gleichzeitig auch fördern. Hätte jemand von Euch Interesse daran? Hier habt Ihr ein Info-Blatt zu unserem Gesprächskreis.
 
Die 3 Lehrer-Raucher (abwechselnd): Wir sind reine Fachlehrer wichtiger Fächer und wollen das auch weiterhin bleiben. Wir halten prinzipiell Allgemeinbildung für hinderlich in unserer modernen Zeit. Sie nimmt Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit weg vom nötigeren Spezialwissen. Wir sagen den Schülern immer, dass man in Sachen allgemeinbildender Fragen und Themen das Internet befragen soll. Dafür gibt es die riesigen Internet-Lexika. Unsere Schüler brauchen Spezialwissen und immer wieder Spezialwissen, im Beruf und im Studium. Man kann nicht auf verschiedenen Hochzeiten geistig tanzen und von dem und von dem etwas wissen wollen. Die Schüler von heute benötigen einen Grundstock von Spezialwissen und weiter müssen sie wissen, wie man im Internet weiterführende Fragen erklärt bekommt. Der Weg ist das Ziel! Wir würden deswegen einen solchen Gesprächskreis an dieser Schule sogar regelrecht boykottieren. Denn wir haben bereits die Vermittlung von zu viel Allgemeinbildung an dieser Schule erfolgreich verhindert.
 
Der alte Schulleiter: Das wird ja immer schlimmer, immer enttäuschender. So etwas hat es früher nicht gegeben - einen regelrechten Boykott gegen Allgemeinbildung… Was haben wir für neuartige Lehrertypen an unseren Schulen… Da kann ja keine Jugend mit einem breiteren Wissen heranwachsen.
 
Sokrates: Das war wieder nur ein Zufall. Ich bin sicher, dass es auch weiterhin Lehrer gibt, die allgemeingebildet sind, nach Allgemeinbildung streben und Schülern allgemeine Bildung vermitteln. Lass uns weiter nach passenden Lehrern suchen, vielleicht finden wir jemanden im Lehrerzimmer.
 
Sie gehen ins Lehrerzimmer. Da gerade Unterrichtszeit ist, sitzen nur einige Lehrer/innen, die gerade Freistunden haben, dort. Sie machen einen antriebslosen Eindruck.
 
Der alte Schulleiter: Ich sehe, dass Sie gerade etwas mehr Zeit haben, vermutlich wegen Freistunden. Deswegen möchte ich Ihnen ein Projekt von uns vorstellen und dann fragen, ob jemand Interesse hat, dabei mitzuarbeiten und eventuelle Details-Vorschläge von Ihnen anzuhören.
 
Also wir meinen, dass die Allgemeinbildung an Schulen mehr gefördert werden muss und dass Lehrer deswegen als Pilotprojekt einen nachmittäglichen Gesprächskreis mit einem allgemeinbildenden Hintergrund einrichten sollen. Das kostet zwar zusätzliche Zeit, aber es dient einem guten Zweck. Denn Lehrer mit verbesserter Allgemeinbildung werden sich auch  bemühen, den Schülern mehr Allgemeinbildung "vorzuleben".
 
Die Lehrer im Lehrerzimmer (abwechseln und konsequent abweisend): Wissen Sie, weshalb wir hier so scheinbar ruhig und müde sitzen? Wir sind fertig, von den wenigen Unterrichtsstunden heute schon wieder völlig fertig. Die Schüler und das Unterrichten wird immer schwieriger. Es saugt uns die Kraft aus den Knochen. Wir sind froh, wenn wir zu Hause sind und uns erst mal hinlegen oder spazieren gehen können… Hätten wir das nur früher schon gewusst, wie anstrengend der Lehrerberuf ist… Und die vielen Korrekturen am Nachmittag… Und nun wollen Sie noch, dass wir zusätzliche Zeit für einen Gesprächskreis mit allgemeinbildenden Themen aufbringen sollen… Vermutlich muss man sich noch für jedes Thema gründlich vorbereiten… Wer hat denn heute noch Allgemeinbildung…  
 
Der alte Schulleiter: Hat Ihnen denn niemand früher gesagt, dass der Lehrerberuf auch anstrengend sein kann?
 
Die Lehrer im Lehrerzimmer (abwechseln): Wir haben gedacht, dass man im Grunde nur vormittags arbeiten muss und nachmittags alles mit Muße angehen und verfolgen kann. Und dass ein Lehrer nach dem Abschluss des Studiums nichts mehr dazuzulernen braucht.
Lassen Sie uns mit allen Mehrbelastungen in Ruhe, auch wenn Sie freiwillig sind und einem angeblich guten Zweck dienen… In den Schulen muss Entlastung das Ziel sein, Entlastung von Unterrichtsstunden, großen Klassen, Korrekturen, Konferenzen…
 
Damit wenden sich die Lehrer ab und der alte Schulleiter geht mit hängendem Kopf aus dem Lehrerzimmer.  
 
Der alte Schulleiter (erschüttert): Bei mir bricht eine Welt zusammen… Eine solche Einstellung habe ich an meiner früheren Schule nicht in Erinnerung… Der Lehrerberuf ist für diese Lehrer eine Belastung und jeder Mehrbelastung wird konsequent aus dem Wege gegangen… Wo haben denn bei einer solchen Einstellung im Schulalltag noch Engagement und Idealismus Platz?... Ich fürchte, wir müssen unser Gesprächs-Projekt zur Förderung von Allgemeinbildung abbrechen. Wir werden keine Teilnehmer bekommen.

Sokrates: Das war wieder nur ein Zufall. Ich bin sicher, dass es auch weiterhin Lehrer gibt, die aus Freude am Lehrberuf Lehrer geworden sind, die Engagement zeigen, die allgemeingebildet sind, die nach Allgemeinbildung streben, die Schülern allgemeine Bildung vermitteln… Drückeberger hat es damals auch in Deinem Kollegium gegeben, Du hast sie nur nicht bemerkt… Lass uns weiter nach passenden Lehrern suchen, vielleicht finden wir passende Lehrer auf dem Nachhauseweg von der Schule. Da trennt sich die Spreu vom Weizen, da kann man an den Gesichtern erkennen, ob man engagierte Lehrer vor sich hat oder "Bequemlinge"…
 
Sie gehen deswegen in den Park vor der Schule und warten auf das Schulende und Lehrer, die zu
Fuß nach Hause gehen. Es kommt eine kleine Gruppe von jüngeren Lehrern/innen durch den Park geschlendert, mit ziemlich erschöpften und missgelaunten Gesichtern.

 
Der alte Schulleiter (fasst noch einmal seinen Mut zusammen): Ich vermute, dass ich jüngere Lehrer vor mir habe. Jüngere Lehrer sind in der Regel noch voller Idealismus und Engagement. Deshalb wenden wir beide uns mit einem interessanten Pilot-Projekt an Sie. Vermutlich haben Sie ebenfalls schon bemerkt, dass Lehrer und Schüler immer weniger Allgemeinbildung haben. Wir möchten die Allgemeinbildung an den Schulen wieder fördern und einen regelmäßigen Gesprächskreis mit allgemeinbildenden Themen gründen.  Hier könnten sich gerade jüngere Lehrer einbringen. Möchten Sie dazu unser Info-Blatt lesen?
 
Die jüngeren Lehrer (mit großem Desinteresse und entschieden, abwechselnd): Kommen Sie uns nicht mit solch einem Blödsinn… Wir sind nicht aus Engagement und Idealismus Lehrer geworden, sondern wegen der Verbeamtung, den Ferien, der Beihilfe bei Krankheit, der vielen Freizeit, weil wir mit schlechten Abiturnoten weniger Berufsaussichten in der freien Wirtschaft hatten und weil wir dem Berufsstress in der freien Wirtschaft weniger  gewachsen waren… Und jetzt wollen Sie uns zusätzlich mit einem Allgemeinbildungs-Projekt belastet… Wir haben studiert, nur weil es sein musste und unterrichten mit so wenig Kraft wie möglich… Wir möchten nur einigermaßen gesund die Frühpensionierung erreichen. Das ist unser Hauptziel… Das Pensionierungsalter sollte auf 55 Jahre gesenkt werden… Für uns war der Lehrberuf von Anfang an eine Bequemlichkeits- oder sogar Verlegenheitslösung… Wir haben keinen Idealismus und wollen auch nicht die Welt der Schule verbessern… Die ideale Schule wird es nie geben…
 
Damit geht die kleine Gruppe jüngerer Lehrer weiter und lässt einen völlig gebrochenen
ehemaligen Schulleiter zusammen mit Sokrates zurück.    
 
Der alte Schulleiter (setzt sich zitternd auf eine Bank): Sokrates, mir versagen die Kräfte und ich muss mich setzen. Was für eine neuartige Lehrergeneration ist da nachgewachsen. Der Lehrerberuf
als Verlegenheitslösung… Weil die Abiturnoten zu schlecht waren… Wegen der Verbeamtung, der Ferien, der Freizeit, der Beihilfe ist man Lehrer geworden… Man strebt die einigermaßen gesunde Frühpensionierung als Hauptziel an… Das ist das Ende des alten geachteten deutschen Schulwesens… Armes Deutschland! Das Projekt Gesprächskreis  ist für mich endgültig erledigt. Ich werfe die Infoblätter jetzt in den Papierkorb dort.
 
Er steht wieder auf und will zum Papierkorb, der einige Schritte weiter steht, gehen. Aber Sokrates hält ihn zurück.
 
Sokrates: Nicht so voreilig, alter Freund. Das war wieder nur eine zufälliger, zugegeben ziemlich negative Lehrer-Auswahl. Ich bin sicher, dass es auch weiterhin Lehrer gibt, die aus Freude am Lehrerberuf Lehrer geworden sind, die ständiges Engagement zeigen, die allgemeingebildet sind, die nach Fortbildung im Allgemeinwissen streben, die an Schüler allgemeine Bildung vermitteln wollen... Verlegenheitslehrer und auf die Pension schielende Lehrer hat es damals auch in Deinem Kollegium gegeben, Du hast sie nur nicht bemerkt… Ich kann Dir eine Reihe von hochmotivierten, engagierten und fleißigen jungen Lehrern vorstellen… Du darfst die jetzige Lehrerschaft nicht nach den negativen Erfahrungen von heute klassifizieren.
 
Lass uns heute noch einen Versuch starten, vielleicht bei der Schulleitung dieses Schul-Zentrums. Die hat jetzt vielleicht etwas mehr Zeit als vormittags, wo alle Schüler und Lehrer in der Schule sind.
 
Sie gehen zurück in das Hauptgebäude und direkt in das Zimmer der Schulleitung. Dort treffen sie einen Schulleiter, der irgendwie einen nicht klassifizierbaren, neutralen, faden, unverbindlichen Eindruck macht. Er begrüßt sie freundlich, besonders als er hört, dass der eine ebenfalls einmal Schulleiter war.
 
Der alte Schulleiter: Früher habe ich ebenfalls in solch einem Schulleiterzimmer gesessen und jeden Tag mich bemüht, für meine Schüler das Beste zu planen und umzusetzen. Das Beste war nicht immer das Bequemste und Gefälligste und es hat oft viel Kraft, Zähigkeit und breite Schultern gekostet, um dieses Beste gegenüber der Schulbehörde, den Lehrern und gegenüber der Schülerschaft durchzusetzen…
 
Wir möchten die Allgemeinbildung bei Lehrern fördern und möchten das über einen neuen Gesprächskreis mit allgemeinbildenden Themen versuchen. Es soll sich um ein Pilot-Projekt handeln, das bei Erfolg auf andere Schulen übertragen werden könnte.   
 
Der amtierende Schulleiter (unverbindlich-freundlich): Dann kennen Sie als ehemaliger Schulleiter ja die schwere Problematik der modernen Schulleiter-Posten. Man soll es allen recht machen… Das ist wie die Quadratur des Kreises… Alle Gruppierungen dieser Schule wollen sich verstanden und berücksichtigt fühlen, jeder Einzelne möchte sich wohl fühlen, Lernen soll Freude und nicht Mühe sein… Da hilft in der Regel nur miteinander reden und reden und reden, ganz unverbindlich sein und jegliches Anordnen, jede Ecken und Kanten vermeiden… Und oft kommt dann ein allgemeines Konsens-Ergebnis heraus, das zwar für viele eine Einigung auf der untersten Ebene der Gemeinsamkeit bedeutet, aber das ist in einer Schulgesellschaft mit möglichst totalem Autoritätsabbau eben so…   
 
Also einen allgemeinbildenden Lehrer-Gesprächskreis als eine Art Pilot-Projekt möchten Sie einrichten zur Förderung der Allgemeinbildung bei Lehrern. Das ist ein neues interessantes Projekt-Anliegen und ich bin allem Neuen gegenüber prinzipiell aufgeschlossen - wenn es das Ansehen der Schule fördert und das Interesse und die Zustimmung aller findet.
 
Ein solcher Gesprächskreis an dieser Schule, über die lokale Presse publik gemacht, dürfte einerseits das Ansehen der Schule nach außen steigern. Es wird auch in der Schülerschaft einige  geben, die wünschen, die Allgemeinbildung der Lehrer könnte höher sein. Aber es wird andererseits Eltern geben, die meinen werden, dass die Lehrer zuerst einmal in ihren Unterrichtsfächern mehr Fachwissen erwerben sollten. Und viele Lehrer würden über die zusätzliche zeitliche Belastung durch die eventuell erwartete Teilnahme an einem solchen Gesprächskreis stöhnen. Und weiter muss ich eruieren, ob die übergeordnete Schulbehörde überhaupt auf eine Förderung der Allgemeinbildung in der Lehrerschaft wert legt. Derzeitig liegt das Gewicht auf der Förderung der Fachkompetenzen...
 
Sie sehen, da gibt es eine Menge zu berücksichtigen und zu bereden. Das ist schwierig und ich werde mich mit einer Entscheidung zurückhalten. Wir sollten darüber unverbindlich mit allen Gruppierungen an dieser Schule, besonders natürlich mit den Lehrern, reden… Am besten, Sie kommen in einigen Wochen wieder und wir reflektieren dann noch einmal das Ganze…
 
Der amtierende Schulleiter begleitet die Beiden noch bis vor die Tür und verabschiedet sich dort freundlich und unverbindlich.
 
Der alte Schulleiter (verbissen): Da hatte ich aber mehr Mut zu Entscheidungen als dieser nach allen Seiten unverbindliche Schulverwalter, der nur Einvernehmen mit allen Parteien anstrebt… Und wenn ich höre "Ich muss erst eruieren, ob die Schulbehörde überhaupt auf eine Förderung der Allgemeinbildung in der Lehrerschaft wert legt", da verliere ich die Achtung vor dem modernen Schulwesen und vor dem Amt eines modernen Schulleiters…
 
(Dann sehr niedergeschlagen). Also auch bei der Schulleitung dieses Schulzentrums können wir auf keine Unterstützung hoffen, höchstens auf unverbindliches sondierendes "Gerede"… Wir lassen den ganzen Plan fallen…   
 
In diesem Augenblick kommen 2 Lehrer die Treppe emporgestiegen. Sie sehen mehr wie Schüler aus (nach dem neuesten Jugendlook gekleidet und in der Frisur, mit Rucksäcken statt mit Taschen, mit Ohrstöpseln und iPhons am Hals) sind aber vom Alter her deutlich keine Schüler mehr. Das interessiert Sokrates und er spricht sie an:
 
Sokrates: Habe ich recht, wenn ich vermute, dass sie engagierte, aber deutlich an der modernen Schülerwelt orientierte Lehrer sind. Wie kommen Sie mit den heutigen Schülern aus, welche Bildungsziele vertreten Sie?
 
Die beiden Lehrer: Wir kommen gut mit den Schülern aus und die Schüler gut mit uns… Das liegt an unserer Konzeption eines richtigen Bildungswesens… Wir sind die hiesigen Vertreter der "Lehrergewerkschaft Radikale-Bildungs-Reformen" (RBR). Und wenn wir gefragt werden, was wir alles reformieren wollen, dann sagen wir "Alles muss reformiert und verändert werden - alles".
 
Sokrates: Darüber zu diskutieren wäre ein gesondertes, abendfüllendes Programm. Dann hat es keinen Sinn, Sie über unserer Pilot-Projekt "Lehrer-Gesprächskreis zur Förderung der Allgemeinbildung bei Lehrern" informieren zu wollen. Ich gebe Ihnen mal eines unserer Infoblätter. Geben Sie es weiter, vielleicht gelangt es an einen Interessenten.
 
Die beiden Lehrer überfliegen das Infoblatt und rufen dann begeistert aus:
 
Die beiden Lehrer: Wau, das ja ist ein prima Pilot-Projekt… Daraus könnten wir für unsere Zwecke etwas machen… Schreiben Sie uns gleich auf die Interessentenliste…
 
(Und als sie die fragenden Gesichtszüge der Beiden sehen, fahren sie erklärend fort):
Wir vertreten nämlich das Reformziel, dass der normale Unterricht mit seinen Lern- und Bildungszielen völlig abgeschafft werden muss und nur durch Stöbern im Internet ersetzt werden soll.
 
Jeder Schüler bringt täglich sein Tablet oder iPhone mit in die Schule und der jeweilige Lehrer gibt nur noch Themen an, über die dann nachgesucht und nachgeblättert wird. Allmählich ergibt sich über die Jahre aus den vielen Mosaiksteinen der Internetsuche ein gewisses rundes Bildungs-Ergebnis… "Der Weg ist unser Ziel, nicht das Ziel ist unser Ziel", so kann man unsere Unterrichtsreform skizzieren. Und den Schülern macht das natürlich Spaß - den meisten Schülern zumindest, denn es gibt immer noch so einige konservativ-verkrustete Eltern und Schüler, die systematisch und auf konkrete Kompetenzen hin orientiert lernen wollen… Aber wir werden das alles allmählich abschaffen, auch die sture Kompetenz-Orientierung. Nur spielerisch mit dem Tablet und iPhon lernen, das wollen wir. Rousseau würde seine Freude an unserem Konzept haben…
 
Die meisten Probleme haben wir noch mit den konservativen Lehrern dieser Schule. Und die könnten wir im Rahmen eines solchen Lehrer-Gesprächskreises Erfahrungen mit einer permanenten spielerischen Internetsuche sammeln lassen und allmählich umerziehen. Denn wir stellen uns einen solchen Gesprächskreis so vor, dass ein allgemeines Thema an dem betreffenden Abend gestellt wird und dann stöbert jeder mit seinem iPhon im Internet herum, trägt dieses bei, der andere jenes, und so entsteht am Ende des Abends ein Mosaik aus vielen kleinen Internet-Bausteinen zu diesem Thema… Finden Sie das nicht auch toll?
 
Der alte Schulleiter (winkt müde ab): Es sollen in diesem Lehrer-Gesprächskreis nicht nur wahllos Internet-Bausteine zu einem Haufen zusammengetragen werden, sondern es sollen aufgrund einer gewissen Allgemeinbildung der Teilnehmer am Ende des Gesprächs Urteile, Einsichten und Erkenntnisse heraus kommen. Das ist mehr als nur das Sammeln von Mosaiksteinchen, das ist Bildung und nicht nur ein Haufen von Wissens-Splittern.
 
Die beiden Lehrer (arrogant-kühl): Das ist dann nicht unsere Schiene… Wozu brauchen die jungen Leute Bildung, wenn sie alles im Internet nachblättern können?... Sie können uns von der Liste wieder streichen… Konservative Lehrer um-konditionieren, das hätten wir gerne gemacht.
(Damit gehen sie einfach weiter).
 
Der alte Schulleiter (resigniert, gebrochen, müde): "Der Weg ist das Ziel, nicht das Ziel ist das Ziel"… Diese neue Welt in der Schule ist für mich zu fremd, die verstehe ich nicht mehr…  Lass uns das ganze Gesprächskreis-Projekt vergessen…
 
Sokrates (hoffnungsvoll-aufbauend): Heute hatten wir in der Tat eine echte Pechsträhne, die uns aber nicht entmutigen darf. Morgen gehen wir noch einmal auf die Suche und am besten an einem anderen Schulzentrum… Du wirst sehen, morgen treffen wir ganz andere Lehrer- und Schulleitertypen: alte und junge hoch motivierte Lehrer, die ihren Beruf gerne ausüben,… Schulleiter mit einem starken Profil, die das Beste für ihre Schüler anstreben,… Schulverbands-Vertreter, die wirklich die "Bildung" im Bildungswesen hochhalten… Morgen werden wir einen großen Interessentenkreis für unsere Lehrer-Gesprächsrunde zusammen bekommen… Es gibt sie noch wie früher, die guten Lehrer und guten Schulleiter… Du wirst sehen. 
 
Der alte Schulleiter (rappelt sich etwas auf): Hoffentlich hast Du recht, machen wir morgen noch einen Versuch.
 
 
(Aufgeschrieben vom discipulus Sokratis, der bei dieser enttäuschenden Suche mit dabei war und die Infoblätter zum geplanten Gesprächskreis trug; im Januar 2015)
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.01.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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