Helmut Wurm

Sokrates und die Beichte eines Bildungspolitikers

 

Sokrates sitzt im Garten in seiner kleinen offenen Laube, die fast wie eine kleine runde Kapelle aussieht. Schiller besaß auch eine solche offene Gartenlaube im Garten seiner Sommerwohnung vor den Toren der Stadt Jena und saß darin oft mit Goethe zusammen. Beide haben dort viele gute und ernsthafte Gespräche geführt – so steht es jedenfalls auf der Infotafel in dieser Laube.
 
Auch Sokrates hat in seiner Kapellen-Gartenlaube viele gute und ernsthafte Gespräche mit verschiedenen Personen geführt. Viele dieser Gesprächspartner sind unangemeldet zu ihm gekommen und gerade bei solch unangemeldeten Besuchen sind die Gespräche oftmals besonders ehrlich gewesen. Manches offene Wort ist hier gesprochen worden und manche Selbsterkenntnis ist hier zustande gekommen.
 
Heute sitzt Sokrates also wieder in seiner Gartenlaube und denkt über die Menschen, ihr Tun und ihre Schwächen nach.
 
Da kommt ein Mann in den Garten - unsicher, zögerlich und verlegen. Er ist unangemeldet.
Als er Sokrates im Gartenhaus sitzen sieht, geht er auf ihn zu, bleibt vor ihm stehen und fragt unvermittelt und direkt:
 
Der Besucher: Sokrates, nimmst Du auch die Beichte ab?
 
Sokrates (zuerst erstaunt, dann bedächtig): Ich bin kein Geistlicher und kann deswegen keine Absolution und Vergebung aussprechen. Aber ich kann mir anhören, was Dich bewegt und mit Dir darüber gemeinsam nachdenken. Vielleicht finden wir dann zusammen eine Lösung. Setze Dich am besten hier auf den Gartenstuhl mir gegenüber. So lässt sich gut miteinander reden und zuhören… Wer bist Du und was bewegt Dich?
 
Der Besucher (setzt sich auf den Stuhl): Ich bin Politiker, genauer ein Schulpolitiker und manchmal gibt es Tage, da bin ich über mich und mein Tun sehr zerknirscht, ja geradezu unglücklich… Bisher habe ich mich dann abgelenkt, aber heute geht das nicht und ich muss einfach mit jemandem, der wirklich etwas von der Jugend und Pädagogik versteht, reden…
 
Wir Schulpolitiker tun meist nur so, als wenn wir etwas von echter Bildung verstünden… Die meisten Politiker tun nur so, als wenn sie davon, wovon sie reden, etwas verstünden… Das liegt in der Natur derjenigen Menschen, die Politiker geworden sind… Das weißt Du ja am besten mit deiner langen Erfahrung mit den Menschen…
(Dann macht der Besuch verlegen eine Pause)
 
Sokrates (nickt bedächtig): Sprich nur weiter… Ich höre zu… Ich habe mich bemüht, die Menschen kennen zu lernen und weiß um ihre Schwächen, aber auch um ihre verborgene Not und innere Selbstkritik… 
 
Der Besucher: Du weißt deshalb auch, dass wir Politiker eine besondere soziologische Auslese sind…
 
Sokrates (unterbricht ihn): Du meinst wahrscheinlich „Siebung“, wie der wissenschaftliche Terminus heißt… Die Menschen sind nicht gleich, weder die Erwachsenen noch die Kindern… Die naiven „Gut-Menschen“ behaupten zwar die biologische Gleichheit aller, aber diese Theorie führt zu gefährlichen langfristigen soziologischen Irrtümern und Enttäuschungen… Fast jede Gruppierung ist eine Siebung auf dafür geeignete Konstitutionsmerkmale. In Boxvereinen sammeln sich andere Menschentypen als in Poesiezirkeln. Und auch Politiker können teilweise eine solche Siebung auf bestimmte Merkmale sein.
 
Der Besucher: Wir Politiker sind zum einen eine Siebung hin auf Selbstdarstellung. Wir sind von unseren Naturen mit den Schauspielern verwandt. Wir wollen vor einem Publikum agieren, Applaus einheimsen, Anerkennung bekommen… Aber wir sind auch eine Siebung hin auf kämpferische Leidenschaft. Wir wollen besiegen, niederringen, triumphieren, Recht bekommen… Dazu ist uns jedes Mittel recht, auch die List, die Täuschung, die Raffinesse, die Schwarz-Weiß-Malerei, die Übertreibung, die Vereinfachung, die Verunsicherung, die Angstmacherei,  großartige Versprechungen, die Tricks der Werbepsychologie… Es gibt kein schöneres Gefühl für einen Politiker als das erfolgreiche Bad in der Menge, den Applaus der Massen…
 
Sokrates: Solche Politiker gab es schon zu meiner aktiven Zeit als Politiker in Athen und so dürfte es bis heute geblieben sein. Wenn ich an unsere damaligen Wahlkämpfe und Gerichtsreden denke… Aber es waren und sind nicht alle Politiker so, nur eine gewisse Anzahl ist so…
 
Der Besucher: Also gut, nicht alle Politiker sind so, aber viele... Ich muss es ja wissen…
 
Und wir Bildungspolitiker machen es genau so: Wir übertreiben, malen schwarz-weiß, vereinfachen, schüren unbewusste Ängste, versprechen großartig, wecken übertriebene Hoffnungen…
 
Wir wissen alle, dass die pädagogische Wirklichkeit vielfältiger, nicht einfach ist und dass es keine Ideallösungen für das richtige Bildungswesen und den richtigen Unterricht gibt. Aber wir wollen in Bildungspolitik und im Bildungswesen Funktionsstellen erringen… Wir wollen unsere parteispezifischen Bildungsprogramme bei Wahlen durchsetzen und stellen deswegen vereinfachte idealisierte Modelle vor... Wir machen die Programme der anderen politischen Gruppierungen schlecht, weil die Masse der Wähler beeinflussbar ist, wenn man es geschickt anfängt…
 
Sokrates (unterbricht): So machten und machen es eine Anzahl von Bildungspolitikern seit den Anfängen der Bildungspolitik bei uns Griechen bis zu den heutigen Schulreform, aber die Mehrzahl der Bildungspolitiker sind faire Menschen, die aufrichtig um richtige pädagogische Konzepte ringen…
 
Der Besucher: Also gut, nicht alle Politiker tun das so, aber viele... Ich muss es ja wissen…
 
Und manchmal schäme ich mich deswegen vor mir selber und kann mich schwer ablenken. Dann versuche ich eine eindrucksvolle Rede zu entwerfen oder ich träume von einem Bad in der Menge oder ich versuche mich damit zu entschuldigen, dass die anderen genau so sind… Aber heute hilft nichts mehr… Kann ich bei Dir beichten und Vergebung erhalten?...
 
Ich weiß zwar, dass ich morgen diese ganze persönliche Krise wieder vergessen habe und wieder im alten politischen Trott weiter mache, weil meine Kollegen ebenfalls so weiter machen… Aber jetzt möchte ich vor einem wahrhaften Pädagogen bekennen, welch ein Schauspieler, Ringkämpfer und raffinierter Massenpsychologe in Sachen Bildungspolitik ich die Woche über bin… Hilf mir, es ist mir so lange bis morgen…   
 
Sokrates (nachdenklich): Erstens kann ich niemandem vergeben, der schon ankündigt, dass er bald wieder dieselben Fehler machen wird und zweitens sind nur eine Anzahl der Bildungspolitiker solche negativen Vorbilder. Ich kann Dir nur raten, Dir die Mehrzahl der anders denkenden und handelnden Bildungspolitiker als Vorbilder zu nehmen. Dann wirst Du bald die innere Ruhe finden.
 
Der Besucher: Also gut, nicht alle Bildungspolitiker sind solche negativen Vorbilder, aber viele... Ich muss es ja wissen…
 
Aber kann ich denn nicht aus eigener Kraft, aus eigener Einsicht einen neuen Weg finden, nämlich
ein anderer, vertrauenswürdigerer Bildungspolitiker zu werden? Es muss doch eine Hilfe dafür geben?

Sokrates (nachdenklich): Ich wüsste vielleicht einen solchen Weg. Er hat 3 Schwerpunkte:
 
 - Überlege Dir erstens bei jedem Vorhaben, jedem bildungspolitischen Entwurf, in jeder Wahlrede… ob das, was Du forderst, planst oder versprichst wirklich nur dem langfristigen Wohl der Schüler - höre gut zu: dem langfristigen Wohl der Jugend dient.
 
 - Beachte zweitens: Jede Schüler-Situation und jede Schüler-Generation ist anders und bedarf individueller pädagogischer Angebote. Pädagogische Offenheit und Pluralismus im Bildungswesen sind deswegen gefordert, nicht Vereinfachungen… 
 
 - Stelle drittens Deine Person, Deinen Erfolg, die Anerkennung von anderen ganz zurück. Sei sehr zurückhaltend und kritisch gegenüber idealisierenden Grundsatzprogrammen und pauschalisierenden Dauerkonzepten. Beteilige Dich an keinen vielen vieles versprechenden Wahlprogrammen. Versuche nie, die Beeinflussbarkeit der Masse auszunutzen und die Hilfe der politischen Werbepsychologen in Anspruch zu nehmen…
 
Dann wirst Du bald die innere Ruhe finden, die Du Dir heimlich wünschst.
 
Der Besucher: Dann müsste ich ja so werden wie Du, nämlich alles kritisch prüfen und nachprüfen und der Kritik, Ablehnung und den Anfeindungen der anderen nicht aus dem Wege gehen… Ob ich das kann…, ob ich das morgen noch will?
 
Damit dreht er sich um und geht aus dem Garten… Ob er diese Empfehlungen des Sokrates beherzigen wird, wird sich dann zeigen, wenn er wieder ein verführerisches pädagogisches Schwarz-Weiß-Bild malen, wieder ein Bad in der Menge nehmen, wieder in der Presse von sich reden machen, wieder Andersdenkende niedermachen und wieder Applaus genießen  könnte… Ob er dann diesen Versuchungen widerstehen könnte?... Zu wünschen wäre es.
 
 
(Aufgeschrieben von discipulus Sokratis, der unauffällig neben der Gartenlaube saß und alles mithörte; Januar 2015)
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.01.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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