Christiane Mielck-Retzdorff

Die Fragen des Lebens



 
Etwas unsicher traten in unregelmäßigen Abständen junge Frauen durch das große eiserne Tor in den Vorgarten einer alten Hamburger Villa. Sie kannten sich nicht persönlich, hatten sich über das Internet verabredet und lächelten sich verlegen an. Keine sprach ein Wort. Auch hinter der schweren Eingangstür aus Eiche und den mit Samtgardinen verhangenen Fenstern war kein Laut zu vernehmen. Einige Vögel zwitscherten in den Bäumen und begrüßten den warmen Sommertag.
 
Der Hausherr war schon lange wach. Wie gewöhnlich war er sehr früh eine Runde um die Alster gelaufen. Nun saß er mit einer Tasse Kaffee auf seiner Terrasse und tippte einen Text in sein Laptop. Immer wieder unterbrach er seine Tätigkeit und schaute versonnen in die dicht bewachsene grüne Oase. Kein Gärtner hatte in letzter Zeit dem Wuchs der Pflanzen Einhalt geboten. Aber die Fliesen der Terrasse und die Möbel, die dort standen, waren wohl gepflegt. Auf dem Tisch stapelten sich einige Zeitschriften, deren Seiten ein leichter Wind gelegentlich erzittern ließ. Nur gedämpft drangen einige Geräusche der Großstadt an diesen Ort.
 
Professor Dr. Wolfgang Schneider arbeitet in der warmen Jahreszeit gern an der frischen Luft. Das hatte er, wie vieles andere auch, von seinem Vater übernommen. Genau wie dieser hatte sich der Mann von Anfang vierzig den Geisteswissenschaften, besonders der Philosophie verschrieben. Dabei hatte er schon in seiner Jugend lernen müssen, dass auf diesem Gebieten nicht viel Geld zu verdienen war.
 
So war er in Bescheidenheit aufgewachsen, während überall das Geld die Macht in der Gesellschaft übernahm. Trotzdem hatte er als Jugendlicher nichts vermisst. Seine Mutter verstand es mit Frohsinn und Heiterkeit die kargen Mittel sorgfältig einzuteilen. Der Reichtum seiner Familie bestand in den unzähligen, gemeinsamen Gesprächen über die Entwicklung von Gedankenströmen, das wahre Sein hinter dem Schein und dem Sinn des Lebens. Themen der Geisteswissenschaften waren allgegenwärtig. In der Abgeschiedenheit ihrer damaligen Wohnung verloren Zeit und Raum ihre Bedeutung.
 
Seine Altersgenossen galt Wolfgang als Sonderling, aber irgendwann nahmen diese einfach hin, dass er nicht aus der Ruhe zu bringen war. Alles, was andere junge Männer bewegte, schien ihm gleichgültig zu sein. Er lebt ausschließlich in einer Welt des Denkens. Wolfgang schulischen Leistungen waren gut, weswegen auch die Lehrer auf seine Zurückhaltung in der mündlichen Beteiligung Rücksicht nahmen. Nach dem Abitur studierte er, wie erwartet, Philosophie und besuchte auch andere Vorlesungen der Geisteswissenschaften.
 
Zwar lebte er während des Studiums bei seinen Eltern, doch fühlte er sich verpflichtet, wenigsten etwas zu den Lebenshaltungskosten beizutragen. Nachdem Wolfgang in einigen Jobs kläglich versagte, weil er sich in der modernen Arbeitswelt schlecht zurecht fand, entschloss er sich, der Gesellschaft auf andere Weise nützlich zu sein und damit ein wenig Geld zu verdienen. Regelmäßig spendete er sein Blut und seine Samen. So konnte er Leben retten und Frauen zu ihrem Wunschkind verhelfen.
 
An eine Partnerin mochte er sich nicht binden, dabei versuchten etliche seine Zuneigung zu gewinnen. Wolfgang sah gut aus, war groß, schlank und sportlich. Doch sobald er mit einer Frau ins Gespräch kam, bemerkte er deren Unverständnis. Also blieb er gern allein und beschäftigte sich mit den ungeklärten Fragen dieser Welt. Ohne Anstrengung und erfolgreich schloss er mehrere Studiengänge ab, machte seinen Doktor und Habilitierte sogar. Natürlich wollte die Universität Wolfgang als Dozenten gewinnen, aber schon bald erkannte er, dass die Weitergabe von Wissen ihn nicht ausfüllte. Fortan lebte er bescheiden davon, Artikel für Fachzeitschriften zu schreiben, die oft hoch gelobt wurden.
 
Dass Wolfgang nun in dieser Villa nahe der Alster leben konnte, verdankte er einer beachtlichen Erbschaft von einer Tante, der Schwester seiner Mutter, die kinderlos zusammen mit ihrem Mann, einem Fabrikanten, einem Autounfall zum Opfer fiel. Auch seine Eltern durften den neuen Reichtum nicht lange genießen, weil sie das gleiche Schicksal ereilte. Wolfgang empfand diese Entwicklung in gleichem Maße als traurig wie lästig. Geld interessierte ihn nicht, erforderte aber viel Arbeit. Also verkaufte er alle Güter und legte den Erlös einfach auf ein Sparbuch. Zwar konnte er nun sorglos in die Zukunft schauen, aber diese hatte seine Gedanken sowieso nie ernsthaft bewegt. Die schier unlösbare Aufgabe, die Menschen zu verstehen, bestimmte sein Leben.
 
Irgendwann verließ Wolfgang seine Terrasse, ging nach vorne und zog die alten Vorhänge, die noch von seiner Tante stammten, auf. Durch das Fenster sah er etliche junge Frauen in seinem Vorgarten stehen und zu ihm hinauf blicken. Der Bild erinnerte ihn eher an ein Märchen als an die Wirklichkeit, denn eine war schöner und liebreizender als die andere. Auch war durch die Scheiben kein Nerv tötendes Geplapper zu hören. Es herrschte erwartungsvolle Stille.
 
Wolfgang öffnete die Haustür und trat hinaus. Gerade huschte noch eine junge Frau durch die Eisenpforte und starrte ihn beseelt an. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass kürzlich ein neues Gesetzt in Kraft getreten war. Jedes, durch eine Samenspende gezeugtes Kind hatte nun den Anspruch zu erfahren, wer sein Vater war. Schnell erfasste er die Zahl der Anwesenden. Konnten diese zwölf zauberhaften Wesen wirklich alle seine Töchter sein? Und wieso zeigte sich nur weiblicher Nachwuchs? Wolfgang lächelte. Die Welt hielt wirklich immer wieder neue Fragen für ihn bereit.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.01.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
Die junge Frau muss gegen Ablehnung und Misstrauen kämpfen. Doch auch der Lehrer sieht sich plötzlich einer bösartigen Anschuldigung ausgesetzt. Trotzdem kommt es zwischen beiden zu einer zarten Annäherung. Dann treibt ein Schicksalsschlag den Mann zurück auf das elterliche Gut, wo ihn nicht nur neue Aufgaben erwarten sondern auch Familientraditionen, die ihn in Ketten legen.

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