Helmut Wurm

Sokrates und durch Inklusion geschädigte Schüler



„Inklusion“ ist ein modernes Schlagwort in der Schulpädagogik geworden. Man versteht darunter, dass Schüler mit Beeinträchtigungen verschiedenster Art mit „normalen“, also nicht beeinträchtigten Schülern zusammen unterrichtet werden sollen. Man begründet das damit, dass Schüler in Sonderschulen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickeln und nicht genügend gefördert würden, wohingegen das beim Lernen in normalen Schulen nicht der Fall wäre.
 
In der Realität sind aber die Wechselwirkungen differenzierter und es kann durchaus sein, dass gerade durch den gemeinsamen Unterricht von normalen und von in irgendeiner Form beeinträchtigten Schülern negative Wirkungen oder sogar psychische Schädigungen bei den beeinträchtigten Schülern entstehen können. 
 
Denn Inklusionen sind sinnvolle Aspekte, wenn sie Schüler mit Beeinträchtigungen sowohl psychisch als auch in ihrem Bildungsgang fördern und ihnen nicht ihre Beeinträchtigung verstärkt zum Bewusstsein bringen. Inklusionen können also nur ein fakultatives Angebot sein, das bei betroffenen Schülern regelmäßig überprüft werden muss. Und Inklusionen machen die so genannten Sonderschulen/Förderschulen nicht überflüssig.
 
Im folgenden Bericht werden einige negative Auswirkungen und Schädigungen bei Schülern mit Beeinträchtigungen durch ihre Zuweisung in den „normalen“ Unterricht behandelt.
 
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Sokrates hält in Intervallen Sprechstunden für Schüler und Eltern ab. Er gibt dann oft ein Schwerpunktthema vor, zu dem Fragen und Sorgen angesprochen werden können. Diesmal hat er das Leitthema „Erfahrungen und Sorgen mit Inklusionen“ vorgegeben. Es sind dazu mehrere Elternpaare mit ihren Kindern gekommen. Es handelt es sich um Schüler/innen mit Beeinträchtigungen verschiedenster Art, die „normale“ Schulen mit Inklusionsangebot besuchen.
 
Das erste Elternpaar: Unser Sohn ist jetzt 14 Jahre alt und ist in einer immer schwereren psychischen Krise. Er ist leider doppelt beeinträchtigt. Er ist einmal prinzipiell nur schwach begabt und hat zusätzlich eine Lese-Schreibschwäche aufgrund einer nicht entwickelten Wortbild-Speicherfähigkeit. Buchstabenfolgen sind ihm eine fremde Materie, mit Texten kann er nicht umgehen. Dadurch kann er kaum Lesen und Schreiben und umgeht möglichst diesen Bereich in seinem alltäglichen Leben. Aber Bilder behält er normal. Er orientiert sich deshalb überwiegend nach Bild-Informationen, auch in der Schule. Auch mit Zahlen hat er keine Schwierigkeiten, er hat also keine Dyskalkulie.   
 
Gleichzeitig ist er ein freundliches Kind, das Geborgenheit sucht und sehr sensibel ist. Man sieht ihm das Letztere nicht an. Nun hatte die Grundschule empfohlen, ihn anschließend als Inklusions-Schüler in eine weiterführende normale Schule und nicht auf eine Sonderschule zu schicken. Wir sind dieser Empfehlung gefolgt, denn wir möchten, dass unser Sohn so wenig wie möglich seine Beeinträchtigungen empfindet – so dachten wir. Leider war das ein Irrtum. Denn seine Beeinträchtigungen sind ihm auf der normalen weiterführenden Schule nur noch bewusster geworden.
 
Die Lehrer haben ihm zwar zu helfen versucht, so gut sie konnten. Aber da unser Sohn in allen Fächern, wo mit Texten gearbeitet wird (und das ist die Mehrzahl) nicht mitarbeiten kann, wurde ihm der Fremdsprachen-Unterricht ganz erlassen und er auch vom Deutsch-Unterricht teilweise befreit. Er bekam dann in diesen Unterrichtsstunden Förderunterricht in Lesen und Schreiben – und das war mehrfach täglich der Fall.
 
Die letzten beiden Jahre kam unser Sohn immer bedrückter und verschlossener aus der Schule nach Hause. Wenn wir ihn fragten, was im Unterricht behandelt wurde, schüttelte er nur den Kopf… Vor einigen Wochen hat er nun alle seine Schulbücher in einen Müllcontainer geworfen, hat heimlich einen Rucksack gepackt und ist dann von zu Hause verschwunden. Die Polizei hat ihn nach mehreren Tagen des Herumstreunens gefunden und wieder zurück gebracht… In die Schule bekommen wir unseren Sohn nicht mehr. Er droht sofort, wieder auszureißen…
 
Sokrates (freundlich zu dem Jungen gewandt): Ich würde gerne von Dir einmal hören, wie Du die Schule empfunden hast und weshalb Du von zu Hausen weggelaufen bist. Hat man Dich in der Schule gehänselt, über Dich gespottet…?
 
Der Sohn: Die Meisten haben sich sehr rücksichtsvoll benommen, nur wenige haben mich verspottet, über mich das Gesicht verzogen... Aber die mitleidigen Blicke der anderen und das ständige Herausnehmen aus dem normalen Unterricht zu Förderstunden haben mir jeden Tag gezeigt, dass ich minderwertiger bin als die meisten anderen, dass ich schlechter lerne…
 
Ach, wenn ich doch in eine Schule gehen dürfte, wo die anderen Schüler auch so sind wie ich und wo ich dann normal am Unterricht teilnehmen könnte… Ich will nicht mehr täglich erfahren, dass ich beeinträchtigt bin... Ich werde ja auch keinen Beruf bekommen…
 
Sokrates (freundlich zu dem Jungen): Du bist nicht minderwertig, Du hast eine begrenzte Schwäche bezüglich lesen und schreiben… In Mathematik bist Du in der Lage, am normalen Unterricht teilzunehmen… Dann ergreifst Du später eben einen Beruf, wo Mathematik eine Voraussetzung ist.
 
(Dann zu den Eltern): Es war wirklich ein schwerer Fehler, den sensiblen Jungen in eine normale weiterführende Schule zu schicken. Er hat dort täglich seine Beeinträchtigungen erfahren… Bei weniger sensiblen Schülern wäre das Ergebnis vielleicht anders gewesen…
 
Ihr Sohn sollte dringend eine Sonderschule/Förderschule mit ähnlich beeinträchtigten Schülern besuchen, damit er nicht täglich den Unterschied zu normalen Schülern bemerkt und damit sein Selbstgefühl wieder entspannt und normalisiert wird.
 
Damit geht das erste Elternpaar und das nächste Elternpaar kommt herein.
 
Sie haben eine körperlich beeinträchtigte Tochter, die seit ihrer Geburt eine Verkrüppelung an einem Bein und am linken Unterarm und der linken Hand hat. Sie kann deswegen nicht normal gehen, keinen Sport treiben, nicht am Schulhof unbekümmert laufen, hat mit dem Greifen und Tragen Schwierigkeiten und ist deswegen im Schulalltag langsam. Sie braucht für alles doppelt so lange wie die anderen Schüler… Gerade als Mädchen ist sie sensibel und ihre Beeinträchtigungen sind ihr deutlich bewusst.
 
Das zweite Elternpaar: Unsere Tochter ist seit ihrer Geburt behindert, aber sonst normal begabt. In der Grundschule hatte sie wegen ihrer Langsamkeit noch weniger Probleme und die Lehrer empfahlen, sie auf eine normale weiterführende Schule mit einem Inklusions-Angebot zu schicken. Dort haben sich aber die Probleme verstärkt. Alle Schüler und Lehrer müssen auf sie warten, bis sie aus der Pause zurück ist, einen Klassenraumwechsel hinter sich gebracht hat, ihr Schreibzeug ausgepackt und ergriffen hat… Unsere Tochter ist sehr sensibel und in der Pubertät und hat immer öfter darüber geweint, dass sie die anderen so aufhielte. Sie hat sich immer mehr in sich zurückgezogen und ist seit einigen Wochen nicht mehr bereit, in die Schule zu gehen… Was sollen wir tun?
 
Sokrates (freundlich zu dem Mädchen gewandt): Ich würde gerne von Dir einmal hören, wie Du die Schule empfunden hast und weshalb Du nicht mehr in die Schule gehen willst… Hat man Dich in der Schule gehänselt, über Dich gespottet…?
  
Das Mädchen: Die Meisten haben sich rücksichtsvoll benommen, nur einige Jungen haben mich verspottet, andere haben über mich das Gesicht verzogen, wenn sie wieder warten mussten... Aber die mitleidigen Blicke vieler Mitschüler und das ständige Verzögern des Unterrichts durch mich haben mir jeden Tag gezeigt, dass ich minderwertiger bin als die meisten anderen, dass ich eine Behinderung für die Normalen bin… Ich werde keinen normalen Beruf ergreifen können und auch keinen Mann bekommen, wenn ich erwachsen bin, weil ich durch meine Verkrüppelungen zu langsam bin und hässlich bin und die Mitarbeiter und meine Familie immer auf mich warten müssten…
 
Ach wenn ich doch in eine Schule gehen dürfte, wo die anderen Schüler auch so sind wie ich und wo wir alle langsamer im Unterricht sind… Ich will nicht mehr das Gefühl haben, beeinträchtigt und minderwertiger zu sein!
 
Sokrates (freundlich zu dem Mädchen): Du bist nicht minderwertig, Du hast nur eine begrenzte körperliche Beeinträchtigung… Geistig bist Du doch in der Lage, am normalen Unterricht teilzunehmen… Dann ergreifst Du später eben einen Beruf, den man mehr im Sitzen ausführen kann und wo Sprechen eine wichtige Voraussetzung ist. Und nicht alle Männer sind so oberflächlich, dass sie ein Mädchen mit Behinderung nicht wert schätzten…
 
(Dann zu den Eltern): Es war wirklich ein schwerer Fehler, das sensible Mädchen in eine normale weiterführende Schule zu schicken. Es hat dort täglich ihre Beeinträchtigungen erfahren… Bei weniger sensiblen Mädchen wäre das Ergebnis vielleicht anders gewesen…
 
Ihre Tochter sollte dringend eine Sonderschule oder einen gesonderten Schulzweig mit ähnlich beeinträchtigten Schülern besuchen, damit sie nicht täglich den Unterschied zu den normalen Schülern bemerkt und damit ihr Selbstgefühl wieder entspannt und normalisiert wird.
 
Damit geht das Elternpaar und das nächste Elternpaar mit einem beeinträchtigten Kind kommt herein. Es handelt sich um ein Kind, das regelmäßig Epilepsie-Anfälle bekommt, die den normalen Schulalltag stören und die für das Kind, die Mitschüler und auch die Lehrer eine Belastung sind… 
 
Sokrates führt noch wegen verschiedener anderer solcher Fälle Gespräche mit Eltern und Kindern über die Frage, ob eine Inklusion jeweils richtig oder falsch ist. Manchmal kann er feststellen, dass eine Inklusion nicht der richtige Weg war/ist, aber in anderen Fällen kann er zu Inklusionen ermuntern und andere Vorschläge zur Problembehebung machen als der Schullaufbahnwechsel zu einer Förderschule. Denn Inklusionen können durchaus sinnvoll sein – je nach den Beeinträchtigungen, je nach der psychischen Situation des betreffenden Schülers und je nach dem schulischen Umfeld.   
 
Manchmal sind es zu idealistische Lehrer, die für möglichst alle Beeinträchtigungen eine Inklusionen wünschen und die Förderschulen möglichst abschaffen möchten. Manchmal sind es auch nur ehrgeizige Eltern, die ihre beeinträchtigten Kinder zur Inklusion zwingen. Und manchmal sind es Fehlberatungen, die langfristige Probleme hervorrufen… Jedenfalls  
weist Sokrates immer wieder darauf hin, dass es keine generelle richtige Lösung für solche Schüler gibt, dass jeder Fall geprüft werden muss und dass Sonderschulen/Förderschulen sinnvoll sind und erhalten bleiben sollten.
 
Sokrates hat sich am Ende dieses Tages auch noch vorgenommen, mit Verantwortlichen in den übergeordneten Schulbehörden Gespräche über Nutzen und Schäden von solchen Inklusion zu führen…

(Niedergeschrieben von discipulus Sokratis, der bei den Gesprächen im Hintergrund das Protokoll führte; im Februar 2015)
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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