Joachim Wickel

Abwendung von der Schule

All diejenigen, die in den 1950iger Jahren aufgewachsen sind, können sich mit Sicherheit erinnern, wie es war, das Leben in noch vom Krieg zertrümmerten Städten, wie dürftig ja geradezu armselig es für viele von uns Kindern daher kam, die wir unseren Alltag in meist sehr beengten Wohnverhältnissen und überfüllten Schulen verbrachten. Darüber hinaus mussten viele von uns auch Gewalt, ausgeübt von den Erwachsenen, ertragen.
Ich wuchs in einer norddeutschen Großstadt auf. 1955 wurde ich eingeschult in eine Schule aus dem 19. Jahrhundert, in der es im Winter erbärmlich durch die Fenster zog und der Lehrer während des Unterrichts Kohlen nachlegen musste, damit es im Klassenzimmer warm blieb. Pädagogik war eher ein unbekannter Begriff. Heute würde man die damals zur Anwendung gekommenen Methoden wohl zumeist als schwarz bezeichnen. Der erste Lehrer, mit dem man mit Beginn der Schulzeit konfrontiert wird, prägt die Einstellung, die man als Kind zur Schule entwickelt, mit Sicherheit ganz entscheidend. Mein erster Lehrer hieß Schumann. Er war mittelgroß, hager, dabei durchaus von kräftiger Gestalt. Er trug eine Brille, hinter deren dicken Gläsern die Augen klein, aber sehr lebendig blitzten. Es entging ihm nichts. Obwohl er höchstens Anfang dreissig war, waren seine Haare bereits schütter, und ich weiß noch, wie er in ruhigen Momenten, z.B. wenn wir für uns etwas schriftlich bearbeiteten, einen kleinen runden Spiegel mit blauem Rand heraus holte, damit den Sitz seiner Frisur begutachtete und bei Bedarf die Haare mit einem ebenfalls aus der Hosentasche gezogenen Kamm ebenso liebevoll wie akribisch glättete. Seine gesamte äußere Erscheinung war tadellos, von seinem Hemd mit Krawatte natürlich, über das bequem sitzende Jackett und die Hose mit Bügelfalte bis hin zu seinen sportlichen Schuhen, gab er keinen Anlass zur Kritik.
Am Anfang war ich sehr neugierig auf meinen Lehrer und beobachtete ihn genau. Ich sah, wie freundlich und beflissen er sich gegenüber seinen Kollegen verhielt, insbesondere auch, wenn der Rektor der Schule die Klasse aufgrund irgendeines Anlasses betrat. Ebenso war er Eltern gegenüber sehr höflich, vor allem dann, wenn sie zu den sogenannten besser gestellten gehörten, oder aber sich um die schulische Entwicklung ihrer Kinder intensiv bemühten, wobei das eine mit dem anderen natürlich oft einherging. Ich registrierte diese Verhaltensweisen meines Lehrers mit Wohlwollen und Zufriedenheit, dachte ich doch, dass er ein guter Mensch wäre, dem vor allem die Kinder in seiner Klasse am Herzen lagen. In dieser anfänglichen Schulzeit hätte es also gut sein können, wenn da nicht diese andere Seite des Lehrers gewesen wäre, die ich zunehmend erleben musste. Er prügelte nämlich. Er schlug mit der Hand ins Gesicht, mit dem Lineal auf die Hände und bei ganz schlimmen Vergehen, wie z.B. das Vergessen von Hausaufgaben, schlug er mit dem Rohrstock auf den betreffenden Schüler ein, der sich dazu bäuchlings auf den Lehrertisch legen musste, mit dem Gesicht nach unten. Bei dieser Art von Bestrafung bevorzugte er Schüler, bei denen er sicher sein konnte, dass diese zuhause nichts erzählen würden und zum anderen von den Eltern auch kaum Konsequenzen zu erwarten waren. Dazu fällt mir eine Begebenheit ein, die das genauer vermittelt, wobei der Lehrer hierbei einem ganz entscheidenden Irrtum unterlag. Ich würde mich nicht so genau erinnern, wenn der Hauptbeteiligte nicht mein bester Freund gewesen wäre. Klaus wohnte in meiner Straße, wir gingen zusammen in eine Klasse und waren auch meist in der Freizeit zusammen. Er lebte mit seiner Mutter und seiner Schwester in zwei Zimmern zur Untermiete. Die Mutter war eine Flüchtlingsfrau aus dem Osten, sein Vater war aus dem Krieg erst nach langer Gefangenschaft traumatisiert zurück gekommen und hatte sich davon nicht wieder erholt. Irgendwann kam er in eine psychiatrische Klinik und wurde nie wieder gesehen. Die Mutter arbeitete schwer, um sich und die Kinder zu versorgen und hatte keine Zeit, sich ständig um die Schule und die damit im Zusammenhang stehenden Notwendigkeiten zu kümmern. Trotzdem war Klaus ein mittelmäßiger Schüler, der sich bemühte, alle uns gestellten Aufgaben zu erledigen und somit dem Lehrer keinen Anlass zu geben, ihn zu bestrafen. Bis auf einmal, als es ihm doch passiert war, Hausaufgaben zu vergessen. Wie immer, riss der Lehrer auch ihn aus der Bank hoch und befahl ihm, sich in der geschilderten Position auf den Lehrertisch zu legen. Ich sehe noch heute das hochrote, wütende Gesicht des Lehrers, als er auf meinen Freund einschlug. Klaus weinte oder schrie nicht. Nach beendeter Prozedur stieg er, ohne eine Miene zu verziehen, vom Tisch herunter, nahm seinen Ranzen und verließ vor dem verblüfften Herrn Schumann den Klassenraum.
In der nächsten Hofpause hatte der Lehrer die Aufsicht auf dem Schulhof. In meiner Erinnerung stand er vor der Schultür, von wo aus er eine gute Beobachtungsposition hatte, als die Tür zum Hof aufgestoßen wurde und die Mutter meines Freundes herein stürmte. Als sie den Lehrer vor der Schule stehen sah, rannte sie geradewegs auf ihn zu. Sie stellte sich vor ihn hin, ergriff mit beiden Händen das Revers seines Jaketts, drückte ihn gegen die Schultür und schrie: "Wenn hier jemand meine Kinder schlägt, dann bin ich das. Merken Sie sich das, ein für allemal!" Dann stieß sie ihn von sich, drehte sich um und verließ den Schulhof so schnell, wie sie gekommen war.
Ich spüre noch heute das Gefühl der Genugtuung, das mich befiel, als ich den Lehrer dort stehen sah, schreckensbleich, Fassungslosigkeit in seinem Blick angesichts der Demütigung, die ihm vor aller Augen widerfahren war. Er lehnte sich noch einen Augenblick lang, sichtlich geschwächt, gegen die Tür, drehte sich dann langsam um und verschwand unter dem zunehmenden Gekicher der umstehenden Schüler im Innern der Schule. Er hat meinen Freund nie wieder angerührt, aber die erste Gelegenheit genutzt, ihn loszuwerden. Ein halbes Jahr später wechselten wir das Schulgebäude und es wurden zwischen den einzelnen Parallelklassen Schüler ausgetauscht. Bei uns waren es nur fünf von fünfunddreissig, die die Klasse verließen, darunter auch Klaus.
Mein Vertrauen in unseren Lehrer und damit auch zur Schule insgesamt hatte bereits vorher gelitten, aber nach diesem Ereignis begann für mich der Prozess der Abwendung von dieser Institution und auch wenn ich später durchaus noch positive Erfahrungen gemacht habe, hat sich die Neugier und Begeisterung des Anfangs nie wieder eingestellt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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