Christa Astl

Soll ich ihn treffen?



 
Emilie lebt sehr zurückgezogen. Seit ihrem Ausscheiden aus dem Beruf verlässt sie ihre Wohnung nur noch selten. Seit kurzem aber hat sie einen Computer. Sie braucht das Internet nur, um über Daten aus ihren Büchern zu recherchieren, aber dadurch hat sie nun einen Menschen kennen gelernt, der sich sehr für sie zu interessieren scheint.
Sie hatte allgemein eine Frage bezüglich eines Autors und dessen Werk gestellt, von ihm eine aufschlussreiche Antwort mit der abschließenden Frage nach ihren literarischen Interessen bekommen, die nun wiederum sie beantworten musste. So entwickelte sich mit der Zeit eine angenehme Brieffreundschaft.
Und im letzten Brief, oder besser gesagt, E-Mail, bat er sie um ein Treffen. Er möchte sie gerne wirklich kennen lernen, sagte er ganz schlicht und einfach.
Kennen lernen - ja kannten sie sich nicht schon gut genug? Was wollte er noch? Was wollte er denn wirklich? Ihr Geld, ihre schöne Wohnung, sie selber besitzen? Ein Liebespaar werden? Sie, die eigentlich noch nie richtig verliebt war, sollte im Alter noch die Chance kommen? Nein, das braucht sie jetzt auch nicht mehr. Schluss, damit fang ich mir gar nichts an.
Und überhaupt, was ist das für ein Kerl?! Der schöne Briefstil, seine wohlgewählten Worte, das sagt ja noch wenig.
Wie sieht er denn aus, kann sie sich mit ihm überhaupt sehen lassen, sie, die fast Einmeterachtzig große, schlanke Frau?  Vielleicht so ein langhaariger, vollbärtiger, leicht verwahrloster Typ, ein esoterischer oder sonst wie abgehobener Phantast? Am Ende ist er klein, dick, mit Glatze, so wie ihr ehemaliger Chef. Der hätte auch mal Interesse an ihr gehabt, aber da hat sie sich in eine andere Abteilung versetzen lassen. Nein, so einen will sie nicht. Aber vielleicht ist auch groß, mit braunen Augen, dunklen, etwas längeren Haaren - nein, bei dem Alter wird er eher grau oder schon weiß sein - aber so dunkle Typen würden ihr schon gefallen. Sie erinnert sich an einen Italienurlaub. Ja, dieser feurige Sizilianer, fast kommt sie ins Schwärmen... Ach, so ein Blödsinn, in deinem Alter brauchst du keine so dummen Gedanken mehr...
Die Zeit vergeht, der Tag des Treffens rückt näher. Tag und Nacht denkt sie darüber nach, an "ihn". Soll sie hingehen, soll sie nicht lieber absagen? Wozu denn das alles? Aber ihre Ruhe hat sie doch schon verloren. Hinter jeder Buchseite taucht sein mögliches Gesicht auf, schauen ihn braune, blaue, graue Augen an, die Zeilen verschwimmen, sie verliert den Wortzusammenhang, kann nicht mehr lesen. Ruhelos beginnt sie verschiedene Arbeiten, gedankenlos, die Gedanken sind bei ihm, beim Phantom, dem Traumbild, ihrem Bild von einem Mann.
Ja, schön wäre es schon, ihn zu sehen, zu treffen, mit ihm auszugehen, Konzerte, Ausstellungen zu besuchen, sich darüber auszutauschen, am Ende vielleicht gar..., - aber dann...?
Einen Tag noch. Schlaflos wälzt sich im Bett, hat schlechte, teils sogar erotische Träume. Am Morgen schaut ihr eine alte, müde Frau aus dem Spiegel entgegen. Nein, so will er mich sicher nicht sehen.
Sie setzt sich an den Computer, - und sagt in kurzen Worten das Treffen ab.
Tiefes Aufatmen - ihre Ruhe ist wieder gerettet, sie nimmt sich ein neues Buch vom Regal, einen Liebesroman.
 
 
ChA 03.02.15

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.02.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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