Helmut Wurm

Sokrates und das Klagelied zum deutschen Schulwesen


 
Auf irgendeinem pädagogischen Kongress zum deutschen Schulwesen irgendwo in der Bundesrepublik Deutschland geschah etwas Ungewöhnliches. Ein Referent hielt ein sehr aggressiv-kritisches und emotional aufwühlendes Referat zum negativen Wandlungstrend im deutschen Schulwesen mit dem Titel „Vom schulischen Vorbildland zum pädagogischen Spinner- und Lotterland“. Darin rechnete er mit allen am deutschen Schulwesen irgendwie verantwortlichen und prägend beteiligten Personen und Gruppen ab - wie schon gesagt in sehr emotional-kritischer und deutlich überspannt-negativer Weise.
 
Ein Teil der Zuhörer begann bald wegzuhören, sich zu langweilen oder Zeitung zu lesen, ein anderer Teil hörte allerdings mit zunehmender Aufmerksamkeit zu und, man kann es leider nicht verschweigen, teilweise sogar mit wachsender Zustimmung.
 
Während sich dieser überspannte Referent nun gerade zum Großbildschirm umwandte und derjenige Teil der Zuhörer, der dem Referat folgte, ebenfalls vom Rednerpult fort auf das vom Beamer an die Wand projizierte Diagramm blickte, flog durch das offene Fenster ein weißer großer Vogel herein, flog zielstrebig zum Rednerpult, ergriff mit dem Schnabel das Redemanuskript und flog sofort wieder zum Fenster hinaus. Nur wenige bemerkten das und weil diese fürchteten, entweder Halluzinationen zu haben oder solcher Irrbilder bezichtigt zu werden, schwiegen sie. 
 
Als der Referent zurück ans Rednerpult trat und in seinem überspannten Referat fortfahren wollte, fand er sein Manuskript nicht mehr. Da er annahm, ein Windstoss habe es vom Rednerpult geweht, suchte er eine Weile danach. Als er es aber nicht fand, Gemurmel im Saal begann und weil er nicht frei sprechen konnte, so brach er sein Referat einfach ab, was ein Teil der Zuhörer ehrlich begrüßte, ein anderer Teil aber bedauerte.
 
Beim nachfolgenden Referat des nächsten vorgesehenen Redners war der Zwischenfall aber bald vergessen. Soweit die Vorgeschichte.
 
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Sokrates konnte trotz seiner vielen Freunde, die ihm so viel wie möglich berichteten, und trotz seiner Mobilität (ihm stand, wie der geneigte Leser wissen wird, sogar eine eigene Wolke als Reisemöglichkeit zur Verfügung) immer noch zu wenige schulische Informationen sammeln. Er hatte sich deswegen eine große weiße Elster zugelegt, die er sinnigerweise „Hermes“ getauft hatte, die den Postverkehr zwischen entfernten Freunden beschleunigte, und ihm gelegentlich auch geheimere Schriftstücke durch den bekannten Drang der Elstern zu Diebstahl herbei brachte…  
So war es auch diesmal geschehen.     
 
Sokrates saß nämlich seit einigen Stunden mit seinem Freund, dem alten Schulleiter, und einigen anderen pädagogischen Größen im Garten und man unterhielt sich darüber, welche Veränderungen im deutschen Schulwesen sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hätten und wie diese Veränderungen zu beurteilen wären.
 
Mitten in diese Diskussion, in der wie üblich positive und negative Aspekte vorgebracht wurden, brachte die weiße Elster Hermes das Redemanuskript des überspannten Redners und ließ es auf den Tisch flattern. Sokrates nahm es auf, überflog es kurz und sagte dann:
 
Sokrates: Liebe Freunde, meine Elster Hermes hat uns eben ein zu unserer Gesprächs-Runde vielleicht passendes Papier beigesteuert, äh, gestohlen und gebracht. Es scheint mir ein privates Manuskript für einen Vortrag zu sein - ich würde es aber mehr als ein unfaires Pamphlet zum Schulwesen einstufen…
Es stellt allerdings keine fertige Ausarbeitung für ein Referat dar, sondern ist mehr eine Sammlung von Gedanken, Aspekten, angeblichen Beobachtungen und Erfahrungen im deutschen Schulwesen in Schlagwortsätzen, mit denen der Betreffende eine Rede halten wollte. Der Titel lautet „Vom schulischen Vorbildland zum pädagogischen Spinner- und Lotterland“ - offensichtlich ein Klagelied über das deutsche Schulwesen…
Ich lese es am besten einmal vor. Also:
    
Vom schulischen Vorbildland zum pädagogischen Spinner- und Lotterland
 
- Die deutsche Jungend ist voll im Griff der Primitiv-Medien und wird immer primitiver, lernfauler und konsumorientiert. Positive Einflüsse gehen im Chor der Primitiv-Medien
unter.
 
- Die Eltern erziehen nicht mehr, sie versorgen, verwöhnen, bespaßen nur noch ihre Kinder.
 
- Das deutsche Schulsystem ist kein Bildungssystem mehr, das für all die verschiedenen Schülertypen ein passendes Angebot hat, sondern nur noch ein einfach strukturiertes Gefälligkeits-System für Schüler und Eltern. Es wird nicht mehr gefördert durch fordern, sondern reine Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik ist Trumpf. 
 
- Die Pädagogik-Professoren, eigentlich für pädagogischen Realismus und notwendige Fortschritte zugleich im Schulwesen verantwortlich, leben als rein spekulative Theoretiker zwischen ihren Bücherseiten, könnten nicht einmal einen Tag einen effektiven Unterricht selber halten, entwickeln phantastische Schulmodelle und vermitteln den Studenten ein phantastisch-idealistisch-unnützes Bild vom Lehrerberuf. 
 
- Die Verantwortlichen in den höheren Schulbehörden sind keine realistischen Pädagogen mehr, sondern „Gutmenschen“, die im Wolkenkuckucksheim ihrer Illusionen leben oder Schule-Flüchter, denen die Arbeit vor Ort zu stressig ist.
 
- Die modernen Schulleiter sind nicht mehr für Schüler und Lehrer besorgte Schulväter, sondern immer mehr Streberlinge, die sich durch Schmusekurs und Wohlfühlschulekurs bei allen beliebt machen möchten… Sie laufen angezogen herum wie niedere Angestellte in einem US-Warenversandhaus, nämlich alte Jeans, ausgetretene Schuhe, offenes Hemd, schlecht rasiert, duzen jeden, biedern sich Eltern und Lehrern an…  
 
- Die modernen Lehrer sind überwiegend entweder nur an einer sicheren und bequemen verbeamteten Arbeitsstelle interessiert, sind der Abiturientenschrott, der für anspruchsvolle Stelle in der Verwaltung oder Wirtschaft ungeeignet ist oder sind meist Frauen, die eine gut bezahlte Halbtagesstelle suchen. Sie wollen alle relativ gesund die Pension erreichen und statt die Schüler mit zu erziehen und den Schülern Bildung beizubringen, biedern sie sich ihnen an und wollen primär mit ihnen gut auskommen. Sie laufen angezogen und in ihrem Verhalten herum wie ältere Schüler, sind immer häufiger unverheiratet und bevorzugen zeitliche Lebenspartnerschaften, um ihre Freiheit und Freizeit unbeschwerter genießen zu können... 
 
(Hier macht Sokrates eine Pause, schüttelt missbilligend den Kopf und sagt):
 
Liebe Gäste: So geht das noch eine ganze Weile in dieser unakzeptablen Pamphlet-Form weiter... Niemand wird verschont, nicht die Lehrerverbände, nicht die Schulbuchverlage, nicht die Hausmeister, die Putzfrauen, die Schulbusfahrer, auch nicht die Architekten von Schulzentren… 
 
Wer ist denn für diesen Verfasser überhaupt noch positiv beurteilbar… ?  Gut, dass er uns nicht kennt, sonst hätte er auch an uns kein gutes Haar gelassen…
Ich meine, das Schriftstück hilft uns hier in unserem Gesprächskreis nicht weiter… Was meint ihr?
 
Bemerkungen aus dem Gesprächskreis (durcheinander): Tatsächlich ein Pamphlet von einem Schulhasser, … Einige Kritik-Kerne sind nicht so falsch, sie sind nur in einer völlig überzogenen Form formuliert,… Es gibt weiterhin die verantwortungsbewusst erziehenden Eltern, die guten, vorbildlichen Schulleiter und Lehrer,… Das deutsche Schulwesen ist in der Tat nicht mehr das, was es früher war,… Wir Pädagogik-Dozenten sind doch keine Spinner im luftleeren Universitätsraum,… Wenn man das Ganze versachlichte und umformulierte, wäre es eine Anregung, über negative Trends im deutschen Schulwesen nachzudenken,… Schule und die darin eingebundenen Personen müssen mit der Zeit gehen,… Besser wäre, sie würden dem modernen dekadenten Trend Widerstand leisten,… Es hat ja auch keiner den Mut, die Missstände offen anzusprechen,… Aber nicht in dieser Form anzusprechen… Lass uns das Pamphlet noch einmal ruhig lesen, vielleicht enthält es einige Körnchen Wahrheit… Werft das Schriftstück in den Papierkorb oder Hermes soll es zurück bringen…
 
Sokrates: Also, ich habe häufig interessante Schriftstücke, die mir meine Elster Hermes irgendwoher stibitzt hat, aufgehoben. Aber dieses überspannte Sammelsurium von Kritik in einer nicht akzeptablen Form möchte ich nicht behalten… Wir sollten hier sachlicher bleiben und sachlicher diskutieren.
 
(und zu der Elster Hermes gewandt) Hermes, bringe das Schriftstück bitte wieder zurück. Hier hast Du es.
 
Die Elster nimmt das Schriftstück in den Schnabel, fliegt zurück zu dem anfangs erwähnten Kongress irgendwo…, fliegt schnell durch das geöffnete Fenster in den Sitzungssaal, legt das Schriftstück auf das Rednerpult und flattert sofort wieder hinaus. Da gerade eine Pause zwischen 2 Vorträgen ist und die meisten Anwesenden sich unterhalten, achtet niemand auf den weißen Vogel...
 
Nur der überspannte Redner, der immer noch nach seinem Manuskript gesucht hat, ruft:
 
Der überspannte Redner (mit dem Notiz-Pamphlet in der Hand): Hier liegt ja mein Rede-Manuskript… Ich habe es wohl einfach übersehen… Ich kann nun meinen wichtigen Vortrag doch noch zu Ende halten.
 
Er tut das auch, aber kaum einer hört noch zu, denn für die meisten ist das Ganze doch zu unsachlich und auch inhaltlich zu unrichtig.  
 
 
(Aufgeschrieben von discipulus Sokratis, der bei der privaten Gesprächsrunde im Garten des Sokrates auch dabei war und sich Notizen machte. Auch er befand dieses private Rede-Manuskript ungerechtfertigt pauschalisierend, wenig hilfreich, in vielen Teile unakzeptabel und in einigen Fällen sogar beleidigend. Er amüsierte sich aber über die von Hermes wieder einmal gezeigte Raffinesse; im Februar 2015
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.02.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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