Marion Metz

Das Lächeln der Schneekönigin

 


Vor langer, langer Zeit war das gesamte Reich im ewigen Eis beheimatet. Die Landschaft war unter meterhohen Eis- und Schneeschichten verborgen. Es trug sich zu, dass dem Königspaar ein Mädchen geboren wurde. Eine Prophezeiung lautete, dass das Kind eine besondere Gabe besäße, die ein großer Segen für das Reich wäre. Alle rätselten um welche Gabe es sich handeln könnte.
Es war ein gesundes Menschenkind und tat, was alle Kinder tun: Es begann in der Wiege zu lächeln. Doch dem Lächeln des Kindes wohnte so viel Kraft inne, dass das Königreich zu schmelzen begann. Das Königspaar hatte große Angst vor Veränderung. So wurde dem Mädchen von klein auf das Lächeln verboten und jegliche Lebendigkeit erstarb in seinem Gesichtchen. Das Lächeln des Kindes galt als Fluch und alle hofften, dass sich endlich die Gabe und der Segen zeigen möge.
Die Prinzessin wuchs zu einer schönen Frau heran und entwickelte eine große Angst vor dem Lächeln, das unwiderruflich mit dem Untergang des Reiches verbunden war. Auf dem Sterbebett entlockten ihr die Eltern den Schwur, dass sie das Königreich mit ihrem Lächeln niemals in Gefahr bringen durfte. Die junge Schneekönigin war mit großer Schönheit gesegnet, so war es nicht verwunderlich, dass aus dem gesamten Reich Jünglinge herbeieilten um von ihr als Mann erwählt zu werden. Doch alle zauderten, als sie die Starre in ihrem Gesicht erblickten. Weil sie niemals lächelte, glich ihr Gesicht einer hässlichen Maske. 
Eines Tages trug es sich zu, dass die Schneekönigin in einem prachtvollen Schlitten ihr Reich inspizierte. Die Sonne schien, die Schneefelder glitzerten und funkelten prachtvoll. Auf den Fensterscheiben der Häuser waren Eisblumen von einzigartiger Zartheit gemalt. Sie liebte den Anblick der Eisblumen über alles und ihre Schönheit entlockten ihr unversehens ein Lächeln. Daraufhin begannen die Eisblumen zu schmelzen und hinterließen hässliche, blinde Fenster. Dass ihr Lächeln den Tod der Eisblumen herbeiführte, machte die Schneekönigin so traurig, dass sie zu weinen begann. Sie weinte in ihre Hände und augenblicklich gefroren die Tränen darin und wurden zu einem Spiegel. Erstaunt erblickte sie eine vergrämte, unglückliche Frau, deren natürlicher Liebreiz unter Angst und Scham begraben lag. Das machte sie so wütend, dass sie alle Helden des Reiches zu sich rief, um ihnen einen Auftrag zu erteilen:
„Ich verfüge, dass derjenige, der mir die Lösung meines Zwiespalts bringt meine Hand und alle Diamanten dieses Reiches erhält.“
Ein besonders kühner Recke fragte:
„Gerne, meine Königin. Doch welchen Zwiespalt meint ihr?“
„Ich möchte lächeln können, ohne dass ich mein Reich gefährde.“
Betretenes Schweigen folgte, denn alle wussten, dass der Wunsch der Königin unerfüllbar war.
Das Schweigen ihrer mutigen Helden jagte der Schneekönigin solch einen großen Schrecken ein, dass ihr die Tränen des Verlustes erneut in die Augen schossen. Ihr Vorhaben, gleichzeitig den Schwur, das Lächeln und das Reich zu erhalten war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
In diesem Augenblick trat einer hervor, kniete vor der Schneekönigin nieder und sagte mit lauter, kraftvoller Stimme:
„Ich wage es. Mit Herz und Verstand kann man jedes Rätsel lösen, meine Königin!“
Es war der junge Kutscher, der wohl mehr Herz als Verstand besaß und dankbar ging sie zu ihm, berührte ihn an der Schulter, so dass er sich erhob und segnete ihn.
„Zumindest du, mein treuer Kutscher, hast den Glauben an Wunder nicht verloren. Ich danke dir dafür! Mögen alle guten Mächte auf deiner Seite sein, dir hilfreich zur Seite stehen und dir den Weg zeigen durch das Dickicht der Verwirrungen!“ 
So zog der junge Held los in ein ungewisses Abenteuer. Nur mit Mut, Vertrauen und Zuversicht gewappnet wollte er seinen Traum wahr werden lassen: Das erste, befreite Lächeln der Schneekönigin sollte ihm gelten. Denn er allein erahnte die wahre Schönheit hinter der Starre.
Viele Tage und Nächte ritt er vertrauensvoll dem Ende der Welt entgegen und gerade, als sein Herz zu verzagen drohte, weil er außer Schnee und Eis nichts sah, verwandelte sich die glitzernde Schneelandschaft in       schmierig-braune Wiesen und kahle Bäume. Unverdrossen ritt er weiter und die Landschaft begann zu grünen, Knospen zu sprießen und die ersten Blumen zu blühen. Keine Menschenseele begegnete ihm und abermals ritt er mutig weiter und die Landschaft verwandelte sich in einen Rausch der Farben. Alles grünte und blühte in den Farben des Regenbogens, Vögel zwitscherten und große und kleine Tiere genossen die warmen Sonnenstrahlen. Die Hitze machte müde, so legte er sich unter einen großen, schattigen Baum und schlief unversehens ein. Da träumte er von einer Sonnenblume, sie sprach zu ihm:
„Hab Dank für dein Vertrauen in das Leben. Nimm mich mit und schenke mich der Schneekönigin. Meine Wärme durchbricht das ewige Eis und es tritt der Wandel ein.“
„Wie soll das geschehen?“, fragte der Held verwundert.
„Sie soll ein Samenkorn von mir in einen Topf Erde geben, mich hegen und pflegen und mir jeden Tag beim Wandel zusehen. Sie soll lernen, dem Leben zu vertrauen. Genau wie du.“
So begab es sich, dass der Held frohen Mutes zurückritt und der Schneekönigin die zwischenzeitlich verwelkte Sonnenblume und ihre Botschaft überreichte.  
Die Schneekönigin tat wie ihr geheißen, hegte und pflegte das Samenkorn und aus ihm spross ein kleines Pflänzchen. Aus dem Pflänzchen wurde eine starke, große Pflanze und schließlich begann sich die Blüte zu öffnen und erstrahlte in ihrer ganzen Schönheit. 
Die gesamte Zeit über bereitete es der Schneekönigin eine große Freude der Pflanze beim Wachstum zuzusehen. Nichts entging ihr, jeder Trieb und jedes Blatt wurde willkommen geheißen, gewürdigt und bestaunt. Und als es endlich so weit war, sich die Blüte öffnete und die Schönheit sichtbar wurde, die im Samenkorn verborgen lag, lachte die Schneekönigin voller Freude und Glück. Dieses Lachen kam direkt aus dem Herzen, besaß eine große Kraft und dadurch begann unwiderruflich der Wandel in ihrem Königreich.
Das Eis schmolz, hervor kam eine dreckig braune Landschaft. Doch der Wandel schritt voran und alles begann zum Leben zu erwachen. Überall grünte und sprießte es. Vögel begannen Nester zu bauen, junge Füchse wurden geboren und tollten im Wald herum. Das Bienenvolk schwärmte aus und gewann aus duftenden Blüten den Nektar. 
Doch die Schneekönigin war todunglücklich, weil sie den Schwur an ihre Eltern missachtete und das Schneereich in den Untergang geführt hatte. Aus Gram und Zorn befahl sie, den Kutscher in den tiefsten, schwärzesten Kerker des Schlosses einzusperren und ihn elendiglich darben zu lassen. Er hatte ihr Vertrauen missbraucht und ihr statt der Lösung ihres Zwiespalts den Wandel gebracht. Das ersehnte Lachen blieb ihr in der Kehle stecken und weiterhin glich ihr Gesicht einer Maske. 
An einem schönen, warmen Sommertag ging die Schneekönigin im blühenden Schloßgarten spazieren. Sie setzte sich in den Schatten eines großen Baumes, am Rande eines murmelnden Baches. Grillen zirpten, Bienen summten und Vögel zwitscherten. Ein violetter Schmetterling setzte sich auf ihre linke Hand und begann zu sprechen:
„Warum seid ihr so unglücklich? Seht ihr die Schönheit um euch herum nicht?“
„Natürlich! Man müsste schon blind sein um sie nicht zu sehen. Doch ich sehne mich so sehr nach der Schönheit der Eisblumen zurück. Eine jede war einzigartig.“
„Aber meine Königin! Hat euch denn niemand in das Geheimnis des Wandels eingeweiht?!“, fragte der Schmetterling erstaunt.
Die Schneekönigin schüttelte nur traurig den Kopf. In ihrem Reich war der Wandel gänzlich unbekannt. Alles war im ewigen Eis geborgen. Der Wandel hatte sie in eine große, seelische Not gestürzt. Umgeben von großer       Schönheit, sehnte sie sich doch nach etwas anderem zurück. Wie ihre Eltern hatte auch sie eine große Angst vor Veränderung.
„Der Wandel währt ewig! Nach dem Winter kommt der Frühling und erfährt seinen Höhepunkt im Sommer. Im Herbst zieht sich alles wieder zurück, alles kommt zur Ruhe und Einsicht im Winter. Die Schönheit der Eisblumen ist für dich nicht verloren gegangen. Der Wandel schenkt sie dir wieder. Er ist ein Kind der Ewigkeit, genau wie du!“
„Das würde bedeuten, dass ich den Schwur an meine Eltern weder gebrochen noch mein Königreich dem Untergang geweiht habe!“, sagte die Königin erstaunt.
„Sehr wohl! Der Held, der euch die Sonnenblume brachte, erfüllte euren Wunsch. Fortan könnt ihr lächeln ohne dass ihr euer Reich gefährdet, denn endlich unterliegt es wieder dem natürlichen Wandel.“
„Habt dank, mein wunderschöner Schmetterling. Verzeiht die Eile, doch ich möchte meinen Helden aus dem Kerker befreien!“, sprach die Königin, richtete sich auf und lief ins Schloss.
Ihr Herz quoll über vor Freude, ihr Lächeln wetteiferte mit der Sonne und ihre Augen glitzerten wie ein Schneefeld. Sie lief in den Kerker, befahl den Wächtern die Türe zu öffnen und schritt in das Verließ. Mager und verdreckt kauerte der junge Kutscher in einer Ecke. Er hatte sich mit einer Maus befreundet, die eilends davonlief als die Königin erschien. Ein Blick, geradewegs in seine Augen genügte und er richtete sich auf, lachte aus vollem Herzen, ging auf sie zu und umarmte sie innig.
„Verzeih mir, dass ich an dir zweifelte. Fortan will ich dir vertrauen, wie ich dem ewigen Wandel vertraue“, murmelte sie.
„Nun ist mein Traum doch in Erfüllung gegangen!“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Welcher Traum?“
„Dass dein erstes, befreites Lächeln mir gehört!“, sagte er und begann sie zu küssen.
Die Schneekönigin genoss fortan jeden Augenblick in ihrem Leben. Keine Sehnsucht verdunkelte mehr ihr Herz und trieb sie um. Die Poesie des Lebens entfaltete sich in jedem Augenblick. Das Wissen um das Geheimnis des Wandels schenkte ihr Vertrauen und Sicherheit. Denn alles, was verloren scheint, kehrt eines Tages wieder.    
So fand alles ein gutes Ende und im Winter – ihrer liebsten Jahreszeit - wurde eine große Hochzeit gefeiert. Das Kleid der Schneekönigin umschmiegte ihren Körper und bestand aus tausenden und abertausenden wunderschönen Eisblumen. Doch noch schöner als ihr Kleid, war ihr Lächeln, mit dem sie alles verzauberte und zum Leben erweckte. Ihr Lächeln war die Gabe, von der die Prophezeiung gesprochen hatte und sich nun als Segen für alle entpuppte. Höchste Magie, die Magie der Liebe entfaltete sich, wenn sie lächelte. Aus dem gesamten Reich kamen Untertanen mit ihren Problemen. Gleichgültig wie groß oder klein das Problem war, mit ihrem Lächeln schmolz es dahin wie das Eis in der Sonne und wandelte sich in ein großes Glück. 
      
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.02.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Lilly Nett ist ein überaus durchschnittlicher Mensch und Lichtjahre davon entfernt, sich selbst bedingungslos zu lieben. Sie fühlt sich zu dick, ihr Mann ist nur die zweite Wahl und grundsätzlich entpuppt sich ihre Supermarktschlange als die längste. Ihr Alltag gleicht der Hölle auf Erden. Lillys Seele schickt ihr beständig Zeichen, doch ihr Ego verhindert vehement, dass Lilly Kontakt zu ihrem inneren Licht findet. Bis ein einschneidendes Erlebnis den Wandel herbeiführt und sie wie Phoenix aus der Asche neu aufersteht: Geliebt, gesehen, vom Leben umarmt.

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