Joachim Wickel

Die alte Zeitung

Ich habe eine alte Kommode, in deren mittlerer Schublade ich Dinge aufbewahre, von denen ich mich nicht trennen kann, wie z.B. meinen ersten Fotoapparat, ein Briefmarkenalbum, Zeitungsausschnitte und dergleichen mehr. Als ich vor einiger Zeit in dieser Schublade nach einer Fotografie suchte, stieß ich auf eine Klarsichtfolie, in der eine vergilbte Zeitung mit z.T. seltsam abgerissenen Rändern steckte, dazu ein kurzer Brief meiner Tante aus dem Jahr 2005. Sie schrieb, dass sie diese Zeitung im Keller gefunden hatte und "es nicht übers Herz brachte, sie zu entsorgen". Sie überließ es mir, zu überlegen, was damit geschehen sollte. Offensichtlich hatte ich mir zu dem Zeitpunkt wenig Gedanken dazu gemacht, sondern den Brief zusammen mit der Zeitung in die Klarsichtfolie gesteckt, in der Schublade versenkt und vergessen.
Jetzt sah ich sie mir zum erstenmal genauer an. Was hatte dieses alte, zerfledderte Blättchen an sich, dass es die lange Zeit überstanden hatte, ohne, wie normalerweise üblich, in den Altpapiermüll gewandert zu sein. Auf den ersten Blick fiel überhaupt nichts besonderes auf. Es handelte sich um eine Ausgabe des Hannoverschen Tageblattes vom 3. Januar 1940, ein Datum vier Monate nach Beginn des 2. Weltkrieges. Entsprechend waren die Schlagzeilen, verbunden mit der üblichen Nazipropaganda, wie z.B.: "Wieder Luftangriff - Kein Brite kam zurück, oder "Sicherung der Kriegsfinanzierung!" Bevor ich weiter blätterte fiel mein Blick auf eine mit Bleistift geschriebene, kaum erkennbare Notiz am oberen Rand der Zeitung. Nach anfänglicher Mühe gelang es mir schließlich, die Handschrift meiner Großmutter zu identifizieren, die dort kaum leserlich hin gekritzelt hatte:"Kinder, ob wohl nächstes Jahr der Krieg vorbei ist???" mit drei Fragezeichen am Ende. Mein Interesse war geweckt und ich begann über sie nachzudenken. Ich sah sie an diesem wahrscheinlich kalten Januartag morgens in ihrer Küche am Tisch sitzen, wie ich es Jahre später so oft mit ihr zusammen tat. Sie hatte sich ihr geliebtes zweites Frühstück zubereitet, wie immer, wenn alle das Haus verlassen hatten und bevor sie ihre Hausarbeit oder ihre Schneidertätigkeiten aufnahm. Sie wollte ihren Kaffee genießen, vielleicht hatte sie sich noch einen Rest Bohnenkaffee gegönnt, und in Ruhe die Zeitung durchblättern. Doch die war voll von Schlagzeilen über Krieg, Vernichtung und Tod. Offenbar ging etwas in ihr vor, denn was hatte sie veranlasst, diese Frage auf den Rand der Zeitung zu schreiben? Es klang eher wie eine geseufzte Anklage an das Schicksal, etwa wie: "Kinder, womit haben wir das verdient?" oder "Kinder, wo soll das alles hin führen?" Eigentlich war es nicht üblich, sich in dieser "großen und siegreichen Zeit" zu beklagen und es auch noch aufzuschreiben. Ein begeisterter "Volksgenosse" hätte das nicht lesen dürfen, und davon gab es ja genug. Und was hatten weiter die abgerissenen Ränder der Zeitung zu bedeuten? Hatte sie wohlmöglich noch mehr aufgeschrieben, sich dann aber erschrocken darüber und es schnell wieder vernichtet? Sie war keine aktive Regime-Gegnerin, sie musste nur in diesen Zeiten leben und sie lebte gern. Sie war kaum vierzig Jahre alt und Mutter von zwei Kindern, eines davon mein Vater. Sie liebte ihre Familie über alles und wollte sie vor allem heil und gesund durch die Zeiten bringen. Aber sie war auch impulsiv und hatte zu den Geschehnissen eine eigene Meinung, die sie sehr energisch vertreten konnte. Es war der 3. Januar, ein Tag vor dem fünfzehnten Geburtstag meines Vaters. Mit Sicherheit kreisten ihre Gedanken auch darum, ob er sich irgendwann freiwillig an die Front melden würde, was zwei Jahre später dann auch geschah. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie noch hoffen, dass im nächsten Jahr alles vorbei sein würde. Sie wusste genau, dass sie ihren Sohn nicht würde zurück halten können, wenn er sich zu diesem Schritt entschloss. Sie hatte den 1.Weltkrieg erlebt und ihr war klar, dass Krieg nicht nur Triumph und Siegesgeschrei bedeutete, sondern das darin gehungert und gestorben wurde. Sie hing so sehr am Leben und sie hatte Angst um ihre Lieben. Krieg Tod und Verderben waren ihr ein Grauen und passten absolut nicht zu ihrer Vorstellung von Glück und Zufriedenheit. Vielleicht deshalb auch dieser morgentliche Seufzer.
Es würde für mich keine Antwort darauf geben. Sie hatte aus einem Impuls heraus die Frage auf die Zeitung geschrieben, vielleicht auch mehr, was sie später dann abriss. Vielleicht war die Zeitung zwischen ihre Schnittmuster geraten, die immer auf dem Tisch lagen. Irgendwann kam alles in den Keller und wurde schließlich vergessen.
Am 3. Januar 1940 hatte der 2. Weltkrieg gerade erst begonnen und es standen noch schwere Jahre bevor. Von meiner Großmutter gab es noch viele Geschichten, wie sie in den Bombennächten trotz großer Angst versuchte, ihren Humor zu behalten und andere aufheitern konnte, wie sie, die ungern allein reiste, trotz unsicherer Lage, meinen Vater in Danzig aufsuchte oder meine Tante, die mit ihrer Schule ins Sudetenland evakuiert worden war, trotz herannahender Front von dort zurück holte.
Für mich war es letztendlich nicht mehr wichtig, warum meine Großmutter besagte Frage auf die Zeitung geschrieben hatte, entscheidend war vielmehr, dass es mich über vierzig Jahre nach ihrem Tod veranlasste, mich an sie zu erinnern und über sie nachzudenken. Ich schob das Blatt zurück in die Folie. Auch ich brachte es nicht übers Herz, sie zu entsorgen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.02.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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