Irene Beddies

Die weiße Ratte



Es war in jener fernen Zeit, als noch durch Aberglauben die Menschen in Unwissenheit gehalten wurden, dass eine weiße Ratte in der Stadt auftauchte.
Ihren Artgenossen war sie verhasst, weil sie so anders war als die Allgemeinheit. Bei den Menschen war sie gefürchtet, denn sie galt als die Überbringerin von Unglück und Verbrechen. Sie wurde gejagt, ihr wurden Fallen gestellt, sie wurde zeitweise vertrieben.
Sie überlebte dennoch viele Generationen ihrer Art, denn sie war scheu, gewitzt, vorsichtig, wodurch sie viele Gefahren frühzeitig erkannte und ihnen ausweichen konnte.
 
In der Stadt ging die Pest um. Die Menschen starben unter Qualen. Sie wussten nicht, warum sie mit dieser Seuche bestraft wurden, und suchten immer neue Gründe dafür. Schließlich machten sie die weiße Ratte dafür verantwortlich. Ein halbwüchsiges Bettelmädchen hatte sie gesehen.
Auf den wahren Grund, dass sie gegeneinander handelten, nur an ihren eigenen Vorteil dachten und damit das Leid anderer nicht sahen, kamen die Stadtbewohner nicht. Ihre Seelen waren so sehr verblendet.
Die Ratten der Stadt freuten sich sehr. Nun kamen sie an all die Vorräte heran, die die toten Menschen in ihren unverschlossenen Häusern hinterlassen hatten. Sie schwelgten und feierten Feste. Leichtsinn und Trunkenheit breiteten sich unter ihnen aus.
Nur die weiße Ratte machte nicht mit. Sie hatte große Angst vor ihren ungezügelten Verwandten, sie ahnte Böses für sich und sie.
 
Eines Nachts, als der Lärm der Rattenheere ein wenig nachgelassen und die Feiernden übersatt und unvorsichtig sich zum Schlaf niedergelegt hatten, huschte sie verstohlen in ein Haus, aus dem die Leichen zweier Menschen am Tag zuvor herausgetragen worden waren.
Das Haus war verschlossen und keine der feiernden Ratten hatte das geheime Schlupfloch bis jetzt entdeckt, das frühere Generationen in die Kellerwand gegraben und gebissen hatten.
Vorsichtig sah sie sich um, bewegte ihre Nase hin und her, um die Luft auf versteckte Gefahr hin zu prüfen. Sie setzte leise eine Pfote vor die andere. Sie fand einen Käse. Von ihm nagte sie nur so viel, dass ihr Hunger vorerst gestillt war. Dann verharrte sie wieder lauschend.
Ein leises Wimmern drang an ihr Ohr. Sie huschte die Kellertreppe hoch, fand die Tür offen und gelangte so in ein Zimmer, in dem ein großes Bett stand. Unter den Bettdecken hervor kam das Wimmern. Es war so herzzerreißend selbst für ihre Rattenohren, dass die weiße Ratte nachschauen musste. Da lag ein Kind auf den Laken, das seinen Finger in den Mund gesteckt hatte und die wimmernden Töne von sich gab.
Die Ratte kannte nur zwei Gründe für solche Töne: Hunger und äußerste Gefahr. Eine unmittelbare Gefahr konnte sie ausschließen. Für den Hunger kannte sie eine Lösung: den Käse.
Den schleppte sie mühsam Bröckchen für Bröckchen aus dem Keller hinauf in das Bett.
Zuerst reagierte das Kind nicht. Erst als sie es mit ihrer Nase, nach gründlicher Überwindung, anstieß, wurde das Kind neugierig und sah ohne Furcht auf die Ratte und den Käse. Es griff nach dem Käse und aß die Bröckchen, ohne sich weiter um die Ratte zu kümmern, die auf dem Bett geblieben war und dem Kind zusah.
Endlich nahm das Kind die Ratte so richtig wahr. Ein Leuchten ging über sein Gesichtchen. Es streckte die Hand aus. Die Ratte wich nicht zurück. Das Kind streichelte der Ratte zart über den Rücken. Das war ein angenehmes Gefühl. Als das Kind die Geste wiederholte, streckte sich die Ratte unter dem Streicheln der Länge nach aus, um das angenehme Gefühl einen Moment länger auskosten zu können.
„Du, Tier, bist so weiß wie Schnee. Du bist gut zu mir“, flüsterte das Kind. „Wo sind Mama und Papa?“ Die Ratte verstand die Worte zwar nicht, konnte ihren Sinn aber erraten. Als Antwort streckte sie sich aus, machte sich steif und rührte sich nicht mehr. Das Kind erschrak.
„Schneeweißchen, bleib bei mir“, bat es in seiner Not. Die Ratte überlegte einen Moment, dachte an ihre eigenen Schwierigkeiten, an das Gefühl der Verlassenheit. Sie traf eine Entscheidung. Sie rückte näher an das Kind heran.
In den nächsten Tagen zeigte es dem Kind die Vorräte im Keller. So lebten sie einige Zeit still und heimlich in dem Haus, von niemandem bemerkt.
 
In der Stadt waren schließlich all die Menschen gestorben, die sich mit der Pest angesteckt hatten. Es kehrten allmählich wieder Ruhe und ziemliche Ordnung in die entvölkerte Stadt ein. Der neugebildete Rat beschloss, eine eingehende Bestandsaufnahme aller Menschen, Gebäude, aller Vorräte zu machen. Leute wurden ausgeschickt, die jedes leer stehende Haus inspizieren sollten.
Sie fanden das einsame Kind. Da keine Verwandten ausfindig gemacht werden konnten, wiesen sie es in das Waisenhaus ein. Es bekam einen Platz in der hintersten Reihe der vielen Betten. Dort fand es die weiße Ratte am Abend. Wie glücklich war das Kind! Es war nicht allein, die treue Ratte hatte es gefunden und nicht verlassen. Jede Nacht verbrachten sie unbemerkt zusammen.
 
Die weiße Ratte bekam auf diese Weise nicht mit, wie all die anderen Ratten, unbekümmert wie sie geworden waren, im Dunkeln gefangen, erschlagen oder vergiftet wurden.
 
 
© I. Beddies


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.03.2015. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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