Manfred Bieschke-Behm

SCHONUNGslos

      (Überarbeitete Version "Der Glaskugel-Verführer vom 7.7.2005)
 
Ende der 50er Jahre waren für uns Kiezkinder die Straßengehsteige vor den Mietskasernen und hässlichen Kriegsruinen unsere Spielplätze. Mit Völkerball, Himmel und Hölle und den fast täglichen Versuchen kleine Tonkugeln und marmorierte Glaskugeln in ein mit dem Schuhabsatz geschaffenes faustgroßes Loch zu murmeln, waren unsere Freizeiten ausgefüllt. An einem der heißen Augusttage stand ein Mann in unserer Nähe, der freundlich lächelnd unser ausgelassenes Murmelspiel beobachtet. Max, unser Murmelspezialist, war gerade am Zug, als ich zu dem Fremden hinübersah und den Eindruck hatte, dass er mich besonders intensiv fixierte. Ich spürte Blut in den Kopf schießen und vermutete ein knallrotes Gesicht. "Du hast ja een Kopp wie een Feuermelder", sagte Lothar zu mir. Und um mir deutlich zu machen, was das für ihn bedeutete, berührte er meinen Kopf und tat so, als würde er sich daran die Finger verbrennen.
 "Manni, du bist dran."
"Hallo! Spielst du noch mit?
Was ist los mit dir?"
"Doch, doch, ich spiele noch mit. Bin ich denn dran?", fragte ich in die Runde und wurde unter lachendem Gejohle aufgefordert, mich in Positur zu stellen. Bevor ich meine letzte Glasmurmel in Richtung Loch warf, wagte ich einen Blick hinüber zu dem Mann. Ich wollte wissen, ob er mich noch immer im Visier hatte oder ob ich mir das nur einbildete. Nein, der Fremde hatte sich ganz auf mich 'eingeschossen'. Er nahm meinen schamhaften Blick auf und lächelte mich an. Mein Wurf verfehlte das Ziel. Ich verlor meine allerletzte Glasmurmel. Frustriert setze ich mich, ein Stück entfernt von meinen Spielkameraden, auf die Bordsteinkante.
 "Scheint heute nicht dein Tag zu sein", hörte ich da jemand neben mir sagen. Ich blickte nach rechts. Sah zunächst auf Schuhe, dann auf lange Hosenbeine, auf eine leichte Sommerjacke, und schließlich in das lächelnde Gesicht des Fremden. Während ich "Nö" sagte, spürte ich, dass mich meine kurze, ein bisschen zu enge Lederhose, in deren Taschen sich Restmurmeln aus Ton befanden, im Schritt einzwängte und einen leichten aber unangenehmen Druckschmerz auslöste. Hinzu kam, dass meine linke Wade anfing zu krampfen und ich Mühe hatte, meine unglückliche Position beizubehalten. Der Fremde, der meine Notsituation richtig eingeschätzt hatte, verhalf mir zum aufrechten Stehen, indem er mich einfach hochhob. Vor ihm stehend merkte ich, wie er gebannt auf meine mit einem abklappbaren Hosenlatz und mit Stickereien versehende Lederhose starrte.
„Die Murmeln füllen deine Hose ganz schön aus", sagte er zu mir ohne seine Blickrichtung zu verändern. Reflexartig legte ich beide Hände schützend auf beide Hosentaschen, und soweit es mir möglich war, über den ausgebeulten Hosenlatz. Der Fremde fing an zu lachen und wollte wissen, ob ich Angst hätte, dass er mir etwas wegnehmen könnte. Beschämt nahm ich die Hände weg von Hosentaschen und Hosenlatz.
 „Du bist ein ganz Lieber. Ich habe mitbekommen, dass du traurig darüber bist, keine Glaskugeln mehr zu besitzen. Deshalb möchte ich dir morgen welche schenken. Was hältst du von meinem Vorschlag?“
Ich hatte keine Antwort parat. Schwieg deshalb und versuchte ihn stattdessen unverkrampft anzulächeln.
Der Fremde hielt sein Versprechen. Am nächsten Tag schenkte er mir eine große Anzahl marmorierter Glasmurmeln. Es war mir unmöglich, alle in meinen Hosentaschen unterzubringen, was der Fremde natürlich mitbekam.
"Den Rest kannst du dir ja vorne", dabei zeigte er mit dem Finger auf meinen abklappbaren Hosenlatz, "reinschütten. Da ist doch bestimmt noch genügend Platz."
Ich sah den Murmelspender verlegen an und spürte Feuchtigkeit in meinen Augen.
"Wenn du lächelst, bist du zwar hübscher anzusehen als mit Tränen in den Augen, aber so oder so bist du ein überaus sympathischer Junge, dem man einfach gerne haben muss. Übrigens ich heiße Helmut - und wie heißt du?"
"Ich heiße Manfred. Alle nennen mich Manni."
 "Na Manni, dann werde ich dich auch so nennen wie all deine Freunde."
Der Fremde mit dem sympathischen Lächeln fragte mich, wo ich wohne, wer alles zu meiner Familie gehöre, und er wollte wissen, ob mir die Schule Spaß mache. Auf alle Fragen gab ich Antworten, obwohl mir die Ausfragerei nicht gefiel.
"Warst du schon Mal im Grunewald?", fragte er dann. Warum wollte er das wissen, dachte ich und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Ich hatte zwar vom Grunewald gehört, aber war noch nie dort.
"Wollen wir gemeinsam mit der S-Bahn in den Grunewald fahren? - Hättest du Lust?" Während er mich so einladend fragte, spürte ich seine Hand sanft über den Kopf streichend.
"Ich weiß nicht."
"Was weißt du nicht?"
Ich wollte ihm erklären, dass meine Eltern damit bestimmt nicht einverstanden wären. Doch dazu ließ er es nicht kommen. Vielmehr erklärte er mir: "Deine Eltern müssen von unserem Vorhaben gar nichts erfahren. Es ist doch nichts dabei, wenn wir gemeinsam einen Ausflug machen. - Oder?"
Der Fremde, mit dem sympathischen Dauerlächeln, hatte etwas Vertrauenerweckendes, Beruhigendes. Die Art, wie er mit mir umging, war mir fremd. Gerne hätte ich Zuneigung und Verständnis durch meinen Stiefvater erfahren und nicht den Zustand der ständigen Furcht etwas falsch zu machen und dafür bestraft zu werden. Mit einem Gemisch aus starkem Herzklopfen, Angstgefühlen und Neugierde willigte ich kopfnickend ein. 
 
Während der S-Bahnfahrt saß ich neben meinem Gönner und Bewunderer. Ich spürte sein linkes Knie gegen mein rechtes drücken. Zunächst glaubte ich an einen Zufall und leistete keinen Widerstand. Als er seinen Druck erhöhte, vermutete ich, dass es sich um eine Art Spiel handeln müsse und reagierte mit Gegendruck, der ihm sichtbar gefiel. Nach einigen Stationen hatten wir den   S-Bahnhof Grunewald erreicht. Nur einige Schritte waren notwendig, um vom Kiefern- und Tannenwald vereinnahmt zu sein. Wir liefen ein paar Minuten, als ich gefragt wurde, ob ich schon mit anderen Männern Ausflüge dieser Art gemacht hätte. „Nein“, sagte ich und wollte wissen warum er mich das fragt. Eine Antwort bekam ich nicht, vielmehr legte er seinen Arm um meine Schultern und rückte mich näher an sich heran. Wir gingen stumm weiter des Weges. Plötzlich blieb er stehen. Er packte mich sanft bei den Schultern, drehte mich zu sich herum, sah mir tief in die Augen und erkundigte sich, ob ich auch ab und zu mit meinem 'Pullermann' spielen würde und ob dabei oder danach etwas passiert. Derartige Fragen hatte mir bisher noch niemand gestellt. Plötzlich bekam ich Angst. Gleichzeitig fühlte ich mich ertappt, was dazu führte seinem Blick auszuweichen.
„Meine Fragen müssen dir nicht unangenehm sein. Ich will doch nur wissen, ob du es genauso machst wie alle Jungen in deinem Alter. Auch die Erwachsenen Männer spielen mit ihren 'Pullermännern'. Es ist doch schön, wenn er dabei steif wird und letztendlich so was wie Spucke raus fließt – Oder?“ Wenngleich mir das Thema sehr unangenehm war, bekam ich eine Erektion. Ich wollte auf keinen Fall, dass er etwas von meiner Erregung mitbekam, und versuchte den Spaziergang fortzusetzen, in dem ich einfach weiterging. Ich hoffte, dass diese Art von Befragung beendet sein würde und wir über andere Themen sprechen könnten. Aber das Thema hatte sich noch nicht erschöpft. Jetzt wollte er wissen, ob ich schon anderen Jungs an deren 'Pullermann' gefasst und gerieben hätte. Ich wollte nicht lügen und antwortete deshalb mit "ja".
"Auch schon bei Erwachsenen?", war die nächste unangenehme Frage, auf die ich mit "Nö" antwortete.
Die ganze Ausfragerei war mir mehr als unangenehm. Am liebsten wäre ich davongelaufen, aber ich traute mich nicht. Ich malte mir aus, dass er mich einfangen würde und ich Schwierigkeiten bekäme. Also blieb ich bei ihm und lief mit ihm weiter hinein in den Grunewald. Nach circa einer halben Stunde näherten wir uns einer Schonung. Hier sollte der Spaziergang sein vorläufiges Ende haben. Sein Vorschlag gemeinsam Wasser zu lassen, wurde zum Anlass genommen, die freigelegten Glieder zu vergleichen. Dabei wurde mir Hoffnung gemacht, dass ich eines Tages die gleiche Penisgröße besäße wie er. Alles was danach zwischen ihm und mir passierte, war mir fremd und verlief nicht ohne Schmerzen.
Es blieb nicht bei der einen Fahrt in die Grunewalder Schonung und auch nicht bei einmalig erlebten Aktivitäten. "Es macht dir doch auch Spaß, wenn wir uns gegenseitig berühren und verwöhnen", unterstellte er mir - oder hatte er mich das gefragt? Bei jeder Verabschiedung bekam ich zu hören: "Du weißt, dass dein Stiefvater sehr streng mit dir ist. Und du weißt auch, wenn er von uns erfährt, was dann passiert." Durch geschicktes Ausfragen wusste er, dass mein Stiefvater mir bei kleinsten Verfehlungen damit drohte, mich in ein Heim zu stecken. Und dass das, was ich im Grunewald tat, allemal ausreichen würde, um mich wegsperren zu lassen.
Die Treffen hatten Folgen. Nachts fand ich keinen richtigen Schlaf. In der Schule konnte ich mich nur schwer konzentrieren. Ich hatte keinen Appetit, mir war ständig übel und ich verlor immer mehr an Gewicht. In meinem Kopf drehte sich alles nur um das "Eine". Besonders schwer wog die Tatsache, dass ich mit niemandem über das Erlebte reden konnte. Ich war an einem Punkt angekommen, wo ich nicht mehr wusste, wie es weitergehen sollte. Letztendlich glaubte ich, dass es für mich nur einen Ausweg gab, um aus der misslichen Lage herauszukommen. Mein Plan war, mich zu ersticken. Dafür zog ich mir eine Plastiktüte über den Kopf und hielt sie mit den Händen am Hals festumschlungen zu. Angstzustände und verlassender Mut führten dazu, mein Vorhaben abzubrechen. Schweißgebadet, mit heftigem Herzrasen und massive Kopfschmerzen lag ich im nass geschwitzten Bett. Ich hatte panische Angst vor dem nächsten Tag, dem nächsten Tag und alle Tage, die da kommen würden.
Es gab keine weiteren Treffen. So unvorbereitet der Fremde in mein Leben getreten war, so unvorbereitet verschwand er wieder daraus, nicht ohne große, tiefe lebensprägende Spuren zu hinterlassen.
Sehr viele Jahre später ergab es sich, dass mein Verführer und ich uns noch einmal begegneten. Das geschah auf jenem S-Bahnhof, wo die Fahrten in die Grunewalder Schonung begannen. Er stieg aus dem S-Bahnwaggon aus, in das ich gerade einzusteigen vor hatte. Für den kurzen Moment, der uns zur Verfügung stand, trafen sich unsere Blicke. Die Waggontür schloss sich Schutz wirkend hinter meinem Rücken.
 

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